31.01.2017
Kairo: Auf der Suche nach den Früchten der Revolution
Hier war auch schonmal mehr los: Die Pyramiden von Gizeh. Foto: Parham Kouloubandi
Hier war auch schonmal mehr los: Die Pyramiden von Gizeh. Foto: Parham Kouloubandi

In Kairo hat sich sechs Jahre nach der Revolution viel geändert – nicht unbedingt zum Guten. Das Land wankt unter einer schwächelnden Wirtschaft, während alle Forderungen nach politischer Freiheit Stück für Stück verhallen. Parham Kouloubandi hat die Stadt besucht und schildert hier seine Eindrücke.

Als der arabische Geograph al-Muqaddasi die Stadt al-Fustat, die Vorläuferin von Kairo, in der zweiten Hälfte des 10.Jahrhunderts besuchte, war er tief beeindruckt. Muqaddasi, der in ausgedehnten Reisen weite Teile des Orients besuchte, nannte in seinem Reisebericht die Stadt eine Metropole in jedem Sinn des Wortes, mit einer großen kulturellen Vielfalt auf den Straßen, vollen Märkten, vollen Moscheen. Wahrlich, schrieb er, Fustat ist der Stolz des Islams, die Hauptstadt Ägyptens.

Als ich mit einem Freund und Rasha, unserer Reiseleiterin, durch die Gassen von Fustat wanderte, musste ich unweigerlich an Muqaddasis Beschreibungen denken. Obwohl ihr alter Glanz nicht direkt aufkam, faszinierte sie dennoch. Allein durch die Tatsache, dass die meisten Gebäude bereits während Muqaddasis Besuch und damit seit Jahrhunderten existierten, entfaltete sie eine historische Ausstrahlung, die jedoch ein wenig gestört wurde: Vor der Hauptgasse, die in die Altstadt führte, hatten Sicherheitskräfte Absperrungen aufgebaut, die alle Besucher passieren mussten. Viele waren es nicht, wohlgemerkt – abgesehen von unserer kleinen Gruppe war relativ wenig Betrieb in Fustat. Früher sei das anders gewesen, sagte Rasha. Lange Warteschlangen vor den Sehenswürdigkeiten der Altstadt seien die Regel gewesen. Das galt besonders für die Mu’allaqa, die „Hängende Kirche“, die auf den Säulen eines römischen Forts gebaut wurde und die aus Gründen der Stabilität nur eine kleine Anzahl an Personen gleichzeitig betreten kann. Wir jedoch konnten ohne Umschweife hineingehen.

Einbruch des Tourismus

„Früher“ ist in Kairo ein fester Begriff, der die Zeit vor der Revolution von 2011 bezeichnet. Überall in Kairo rekurrieren die Menschen darauf. So auch Rasha, als wir die Pyramiden von Gizeh besuchten. Beiläufig erzählte sie von den Menschenmassen, die früher hier unterwegs waren und wie viel Zeit man wegen der vielen Warterei für den Besuch einplanen musste. Dieses „früher“ konnte man auch an den Gesichtern der dortigen Händler und Kameltreiber ablesen, die augenscheinlich andere Zeiten gewohnt waren.

Der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen Ägyptens, ist am Boden – nicht nur in Kairo, sondern im ganzen Land. Er fiel von über 1,4 Millionen Besuchern Ende 2010 auf rund 300.000 Mitte 2013. Obwohl die Zahlen sich nach dem Schocktief wieder erholten, liegen sie immer noch weit unter den Werten von 2010. Ein heftiger Rückgang, den auch die ägyptische Wirtschaft gespürt hat. Früher trug der Tourismus zu rund 12 Prozent der Wirtschaftsleistung bei und stellte knapp ein Viertel der Arbeitsplätze. Er war ein wichtiger Motor Ägyptens, der nun stottert.

Zwischen den altehrwürdigen Gassen und Gebäuden von Fustat, in denen der Legende nach bereits Moses oder Salah ad-Din gewandelt sind, sieht man ohnehin eins: gähnenden Leere. Eigentlich, gibt Rasha nach unserem Besuch offen zu, hätte sie niemals Touren mit nur zwei Leuten gemacht. Früher sei sie mit bis zu 40 Leuten durch Fustat gegangen. Aber die Zeiten haben sich nun mal geändert.

Veränderte Sicherheitslage

Wenigstens könne sie uns so leicht im Auge behalten, lacht sie. Das sei kein Zeichen des Misstrauens, sondern eine strikte Vorgabe des ägyptischen Staates. Als Touristenführerin müsse sie immer in der Nähe ihrer Leute sein, aus Sicherheitsgründen. Man kann es in Kairo nahezu überall sehen: Polizisten und Soldaten mit Gewehren im Anschlag vor Sicherheitsposten sind Teil des Stadtbildes geworden. Besonders die vielen Touristenattraktionen werden gezielt bewacht, was zu der absurden Situation führen kann, dass die Zahl der Sicherheitsleute größer ist als die der Touristen.

Ein europäischer Freund, der in Kairo studiert, meinte jedoch dazu, dass er sich durch die Präsenz der Polizei sicherer fühle. Es gäbe nun mal das Risiko von bewaffneten Angriffen und das würde durch die Sicherheitskräfte zumindest verkleinert. Das eigentliche Ziel der Behörden wäre damit erfüllt: ein höheres Sicherheitsgefühl erzeugen.

Vergangene Ereignisse, insbesondere jene im Jahr 2013, als Demonstranten reihenweise verhaftet, misshandelt oder gar getötet wurden, warfen jedoch auf der anderen Seite kein gutes Licht auf ägyptische Sicherheitskräfte. Auch kann ihre bloße Präsenz nicht automatisch Anschläge oder bewaffnete Angriffe verhindern, zumal Sicherheitskräfte selbst gezielt ins Visier geraten. Einige Tage vor dem Anschlag auf eine Kirche im Dezember wurde ein Sprengsatz zwischen zwei Straßen-Checkpoints gezündet – sechs Polizisten starben. Die Ermordung eines Armeegenerals, der vergangenen Oktober mitten in Kairo erschossen wurde, ist ein weiteres Zeichen für die Unruhen im Land. Zwar gab es bereits vor der Revolution immer wieder terroristische Gruppierung, die in Ägypten aktiv waren – die radikalen Abspaltungen der ägyptischen Muslimbruderschaft bildeten die Blaupause für ähnliche Bewegungen in Nachbarländern – aber die Anhäufung der Attacken verschlimmert das mediale Bild eines unsicheren Landes. Dabei braucht der Tourismus eines im Besonderen: Sicherheit.

Regieren mit harter Hand

Das weiß die ägyptische Regierung und versucht daher die Lage zu konsolidieren. Gegen terroristische Gruppen auf der Sinai-Halbinsel geht sie schon seit längeren militärisch vor, mit mäßigen Erfolg. Gegen Oppositionsbewegungen tut man sich deutlich schwerer. Allen wird grundsätzlich eine eher zu bezweifelnde Nähe zur verbotenen Muslimbruderschaft vorgeworfen, auch als Grund, um sie zu verfolgen. Einige wenige sind dabei durchaus radikal, vor allem jene, die sich nach dem Rabia al-Adawiya Massaker von 2013 gebildet haben.

Die neu geformte Hasm-Bewegung sticht dabei durch eine Attentatsserie auf Sicherheitsorgane besonders hervor. Sie fordert den Sturz der jetzigen Regierung, was eben jene als Anlass nimmt, um mit immer härterer Hand im Inneren durchzugreifen. Das trifft insbesondere die normale Bevölkerung. Demonstrationen werden nicht toleriert und im Keim erstickt, dazu müssen Aktivisten und Protestierende mit hohen Haft-/ und Geldstrafen rechnen. Die Regierung zieht weiter die Zügel an, rigoros. Früher, unter Mubarak, gab es zumindest ein wenig Raum zum Protest, heute gar keinen. Der ägyptische Staat, so kann man meinen, fürchtet sich vor seinen eigenen Bürgern.

Das resolute Vorgehen wird dadurch begründet, dass so viele subversive Elemente von außen im Land seien und nur darauf warteten, Ägypten in ein zweites Syrien zu verwandeln. Die Hasm-Bewegung werde beispielsweise angeblich aus Qatar und der Türkei unterstützt. Deswegen könne es keine Freiheit geben, außer man wolle Zustände wie am Euphrat oder Tigris am Nil. Sicherheit gegen Freiheit, ein altbekanntes Konzept. Selbst der Präsident betonte in einigen Reden die Bedrohung von ausländischen Agenten und welche hohe Gefahr von ihnen ausgehe. Die harte Hand sei nur für das Wohl der Bürger selbst da. Die Folge: Medien zensieren sich aus Angst vor Repressionen selbst, Nichtregierungsorganisationen werden strikt kontrolliert, Aktivisten, ob im In- oder Ausland, schweigen. Gift für jede Demokratie.

Ägyptische Diplomatie: Zwischen Stolz und Opportunismus

Das politische Klima in Ägypten und seinen Nachbarländern ist deutlich schlechter geworden. Die Veränderungen der Region gingen nicht einfach an Kairo vorbei, sondern verschärften eher die innere Unsicherheit. Ägypten, traditionell ein enger Partner der Sowjetunion, erhält Kontakte mit Russland aufrecht und unterstützt offen den Kurs der russischen Regierung in Syrien. Das wiederum führte zu Spannungen mit Saudi-Arabien, ein wichtiger Geldgeber und Erdöl-Lieferant für Ägypten, der in Fundamentalopposition zu Russlands Syrien-Politik steht.

Die Konstellation führte dazu, dass die ägyptische Regierung als Mitglied des UN-Sicherheitsrats Moskaus Syrien-Kurs unterstützt und zugleich bei der saudisch-geführten Militärallianz im Jemen dabei ist. Ägypten vollzieht den diplomatischen Spagat. Ein ungelöster Streit um zwei Inseln im Roten Meer, die Riad von Kairo zurückfordert, und Ägyptens „Ja“ für eine russische UN-Resolution zum syrischen Bürgerkrieg endeten damit, dass Saudi-Arabien Erdöl-Lieferungen kurzerhand einfror. Grund für den Unmut des Golfstaates war das Ausbleiben der „Gegenleistungen“, die Saudi-Arabien von Ägypten für seine Finanzspritzen erwartete.

Obwohl nach außen hin jeglicher Streit heruntergespielt wird, brodelt es gewaltig in Ägyptens Außenbeziehungen. Doch die Kairoer Diplomatie war schon immer flexibel. Nirgends ist das sichtbarer als im Qasr al-Abdin, der offiziellen Residenz der ägyptischen Potentaten seit 1873. Im hauseigenen Museum ist so ziemlich alles, was ausländische Gesandte als Geschenke überreichten, ausgestellt. Besonders interessant sind die neueren Präsente seit Mubaraks Regierungszeit, die in einem eigenen Raum zu betrachten sind. Abgesehen davon, dass von Mohammed Mursis kurzer Präsidentschaft absolut nichts zu sehen ist, fällt eines besonders ins Auge: Der Name Saudi-Arabien blitzt bei weitem am häufigsten auf. Von einer goldenen Mini-Ka’ba, einer goldenen Jacht bis zur goldenen Wanduhr: Die Anzahl der Geschenke aus Riad reflektiert deutlich deren diplomatische Annäherungsversuche. Länder wie die Türkei oder Qatar, die Mursi unterstützten, sind hingegen überhaupt nicht zu finden.

Vom Zentrum zur Peripherie: Ägyptens wechselnde Rolle

Der Abdin-Palast zeigt jedoch mehr als die ägyptischen Beziehungen zu anderen Nationen. Er ist ebenso ein Ausdruck der wechselvollen neueren Geschichte Ägyptens. Der Palast erzählt von seinem Bauherrn, Ismail Pasha, der zwar weite Teile des heutigen Südsudans eroberte und den Suezkanal eröffnete, sich aber so hoch verschuldete, dass sein Land unter britische Kontrolle kam. Er erzählt von König Faruk, der im Palast geboren wurde und einen Bündnisvertrag mit den englischen Besatzern vorantrieb, jedoch genauso während der bittersten aller arabischer Niederlagen, der Nakba, Befehlshaber war. Er erzählt von seiner Belagerung durch eine Gruppe von Offizieren, die sich selbst als „frei“ bezeichneten und wenig später die Ägyptische Republik proklamierten.

Die Höhen und Tiefen der ägyptischen Geschichte haben im Abdin-Palast ihren stillen Zeugen. Mit der Republik verlor auch der Palast seine Bedeutung und verkam während der neuen Hochphase ägyptischer Dominanz still und ohne viel Aufsehen. Der Palast stand für die Herrschaft des Einzelnen, die Jahrhunderte Bestand hatte. In der neuen Phase des Landes sollte dieser keinen besonderen Platz mehr einnehmen. Dass letztlich Hosni Mubarak wieder seine Modernisierung beauftragte, lässt sich somit auch als Präludium jenes Rückfalls in vergangene, autoritäre Zeiten betrachten. Obwohl die Revolution von 2011 genau diese wieder aufzubrechen versuchte, überging sie den Abdin-Palast dabei komplett. Was vielleicht einfach daran lag, dass die meisten Ägypter, mit ihrem Altersdurchschnitt von gerade mal 24 Jahren, den alten Palast gar nicht im Blick hatten.

Die Proteste orientierten sich ohnehin nach vorne. Sie forderten mehr Wohlstand, mehr gesellschaftliche Öffnung, mehr politische Teilhabe, „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ waren ihre Schlagworte. Es sollte Ägyptens Wiedergeburt werden, die zweite große Revolution. Was davon bleibt, sind Resignation und Enttäuschung.

Der verhallte Ruf der Revolution

Politisch wurde die Lage eher schlechter als besser. Deutlich wurde das bei den bisher letzten Parlamentswahlen von 2015. Der Boykott einiger Parteien, die niedrige Wahlbeteiligung und von Opportunisten dominierte Kandidaten gaben ein trauriges Bild ab. Dazu wurden Forderungen nach einem Ende der grassierenden Armut, mehr Arbeitsplätzen und niedrigeren Preisen für Lebensmittel, allesamt nicht erfüllt. Stattdessen ist die nationale Armutsrate erst 2015 auf den höchsten Stand seit 2000 gestiegen, zusammen mit der ebenfalls gestiegenen Arbeitslosigkeit hat sich die soziale Situation durch die Revolution nur verschlechtert.

Dabei ist ein Großteil der ägyptischen Arbeitslosen gebildet und findet trotz universitärer Abschlüsse keine Arbeit. Verschärfend kommt hinzu, dass die ägyptische Wirtschaft nicht wirklich frei ist. Sie wird dominiert vom Militär und einer kleinen Elite, die beide von der Revolution nicht angetastet wurden. Die massiven Preissteigerungen für Lebensmittel 2011, als innerhalb eines Jahres der Preis für Grundnahrungsmittel um mehr als die Hälfte anstieg, befeuerten damals die Revolution. Die Preise für Nahrungsmittel steigen noch immer, anstatt zu fallen.

Ägypten, dessen fruchtbare Böden einst die Entwicklung einer Hochkultur ermöglichten, ist der weltweit größte Importeur von Weizen. Knapp die Hälfte seines Verbrauches wird vom Ausland sichergestellt, wobei die Regierung jahrelang dies sogar noch weiter für seine Bürger subventionierte. Als Muqaddasi Fustat damals besuchte, verwunderten ihn besonders die niedrigen Preise auf den Märkten, die für ihn die billigsten der ganzen Region waren. Davon ist Ägypten heute weit entfernt.

Große Herausforderung, wenig Zuversicht

Viele Ägypter haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren und glauben ob der politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht mehr an einen Wandel. Natürlich ist es für die ägyptische Regierung nicht einfach, jahrzehntelange wirtschaftliche Dysfunktionen zu beheben, vor allem da jede Maßnahme, die zwar langfristig durchaus sinnvoll sein könnte, kurzfristig die sozialen Spannungen nur weiter erhöhen wird. Dazu kommt, dass die ägyptische Bevölkerung rasant wächst, die 100-Millionen-Marke wird bald erreicht. Damit steigt auch der Bedarf an Nahrungsmitteln, der von der eigenen Landwirtschaft schon jetzt nicht mehr sichergestellt werden kann. Dazu kommt: Die gesamte Agrarproduktion steht und fällt mit dem Nil.

Schon Muqaddasi schrieb von der Bedeutung des Flusses für Ägypten. Obwohl der Nil größtenteils mit Ägypten in Verbindung gebracht wird, ist das Land nur seine letzte Station von mehreren. Der einzige wirkliche Nutzungsvertrag, der klar Ägypten bevorzugte, stammt von 1959 und schließt die meisten der Anrainer-Staaten aus, obwohl beispielsweise über 85 Prozent des Nil-Wassers aus Äthiopien stammen. Bisher konnten die Ägypter ihre Privilegien durchsetzen, in Zukunft könnte sich dies ändern.

Auf Ägypten warten Herausforderung, im Inneren wie im Äußeren. Die Probleme sind groß, die Zukunft drohend. Eine schwächelnde Wirtschaft, außenpolitische Verwerfungen, innere Instabilität und dazu eine Bevölkerung, die jegliche Zuversicht und Vertrauen in ihre Regierung nach und nach verlor. Die Machthaber in Kairo werden sich entscheiden müssen, ob sie sich offen eingestehen, dass sie ihre Bürger verloren haben und ob sie bereit sind, sie wieder zurückzuholen. Dann wäre zumindest die Revolution nicht vollends gescheitert.

Parham Kouloubandi studiert an der Sciences Po in Paris International Security und beschäftigt sich hauptsächlich mit sicherheitspolitischen Fragen und zwischenstaatlichen Beziehungen in Westasien. Sein Fokus liegt auf bewaffneten Konflikten und Diplomatie, vor allem in Hinblick auf die UN. Er ist zudem als Berater für eine ägyptische...