27.05.2025
Wo gehören sie hin? Über Kulturgüter aus WANA in deutschen Museen
Kunst aus WANA in deutschen Museen. Fotos: vollständige Quellenangabe am Ende des Textes.
Kunst aus WANA in deutschen Museen. Fotos: vollständige Quellenangabe am Ende des Textes.

Bedeutende Kulturgüter aus WANA lagern in deutschen Museen. Häufig scheint ihr Weg nach Deutschland auf den ersten Blick „rechtmäßig“. Aber wie lässt sich „Rechtmäßigkeit“ im Kontext kolonialer Machtverhältnisse verstehen? dis:orient analysiert.

Ein großer Teil der archäologischen Ausgrabungen fand im Kontext kolonialer Eroberungen und imperialer Ausbeutung statt. Das Deutsche Reich sammelte durch eigens finanzierte Ausgrabungen - unter anderem in den Gebieten der heutigen Türkei, des Iraks oder Ägyptens - Artefakte an. Heute spricht Deutschland unter Berufung auf bilaterale Abkommen von einem rechtmäßigen Erwerb und argumentiert deshalb gegen eine Rückgabe. Dis:orient hat zwei der berühmtesten Güter aus WANA, die Nofretete-Büste und das Ischtar-Tor, genauer untersucht.

Das Ischtar-Tor

Die berühmten blauen Fliesen des Ischtar-Tors, verziert mit Tierfresken, befinden sich im Berliner Pergamonmuseum, wo das gesamte Tor sowie Teile der Stadtmauer rekonstruiert wurden. Das Ischtar-Tor wurde im fünften Jahrhundert v. Chr. als Teil der Stadtmauer des antiken Babylons, im heutigen Irak, errichtet. Im Jahr 1840 verhandelte das Deutsche Reich mit dem Osmanischen Reich, das zu dieser Zeit auf dem Gebiet der Ausgrabungsstätte Babylon regierte, über die archäologischen Funde: Das Grundgerüst des Torbogens und der Mauer blieben an Ort und Stelle, die Fliesen durften mit nach Berlin genommen werden. Nur einige der Tierfresken ließen die Vertreter:innen des Deutschen Reiches zurück, sie werden bis heute im Archäologischen Museum von Istanbul ausgestellt. In den Jahren 1913 und 1926 wurden insgesamt 399 Kisten voll Fliesen des Ischtar-Tors vom Ausgrabungsort in Richtung Deutschland transportiert, aufwändig restauriert und seit 1930 im Pergamonmuseum ausgestellt. Ziel war es, in Berlin ähnlich wertvolle Funde zur Schau stellen zu können wie im Louvre oder im British Museum.

2002 forderte das State Board of Antiquities and Heritage des irakischen Kulturministeriums die Fliesen erfolglos von Deutschland zurück. Seit 2009, dem Jahr der zweiten Rückforderung des Iraks gegenüber Deutschlands, restauriert die World Heritage Foundation gemeinsam mit dem Iraqi State Board of Antiquities and Heritage das fliesenlose Ischtar-Tor. Perspektivisch sollen weitere Teile des antiken Babylons ebenfalls wieder aufbereitet werden.

Die Nofretete-Büste

Ähnlich verhält es sich mit der Causa Nofretete: Seit Jahrzehnten fordert Ägypten die Rückführung eines seiner bedeutendsten Altertümer. Die um 1.340 v.Chr. gefertigte, bemalte Kalksteinbüste Nofretetes (Bedeutung zu deutsch: „die Schöne, die gekommen ist“) wurde vor rund einhundert Jahren in Berlin erstmals der deutschen Öffentlichkeit präsentiert. Heute starrt sie stoisch auf den Sonnengott Helios. Sie steht weit entfernt von ihrer Heimat, umgeben von Wandbildern griechischer Helden, im Nordkuppelsaal des Neuen Museums Berlin.

Etwa 300 Kilometer südlich von Kairo, in der archäologischen Stätte Tell al-Amarna, entdeckte 1912 ein Grabungsteam unter der Leitung des deutschen Ägyptologen Ludwig Borchardt die Büste der ägyptischen Königin. Borchardt hielt diesen Moment in seinem Tagebuch fest: „Dann wurde die bunte Büste erst herausgehoben, und wir hatten das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen.“ Er ergänzte: „Farben wie eben aufgelegt, Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen“.

Der Fund der Büste war nicht nur eine archäologische Sensation, sondern bildet auch den Ausgangspunkt internationaler Auseinandersetzungen über ihre rechtmäßigen Besitzverhältnisse. Im Zentrum der Debatte stehen heute, neben dem konservatorischen Argument der Transportunfähigkeit, vor allem die genauen Umstände des Fundes und die anschließende Fundteilung. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die für die Berliner Museumssammlungen zuständig ist, und das Neue Museum berufen sich insbesondere auf die von der ägyptischen Altertümerverwaltung erteilte Grabungslizenz und die obligatorische Fundteilung unter Aufsicht des Verwaltungschefs, dem französischen Ägyptologen Gustave Lefèbvre. Demnach erhielten sowohl die deutsche als auch die ägyptische Seite je sieben „gleichwertige“ Teile des Fundes.

Die deutsche Antwort auf Rückführungsforderungen

Bezüglich der Rückgabe der Fliesen des Ischtar-Tors und der Nofretete ist für das Pergamonmuseum und seine Stiftung der Sachverhalt klar: Es handele sich nicht um Raubkunst, wie im Falle der Benin-Bronzen, sondern um rechtmäßig erworbene Güter. Deshalb bestehe kein Anlass zur Rückgabe. Im Falle des Ischtar-Tors gewährten die osmanischen Behörden die Ausfuhr. Das Osmanische Reich habe keine Verwendung für die Fliesen gesehen. Die Nofretete Büste habe das Deutsche Kaiserreich legal im Rahmen der damals üblichen Fundteilung erworben. Die ägyptische Behörde genehmigte schließlich auch den Transport der Büste nach Berlin.

Dennoch bestand in beiden Fällen eine widersprüchliche Rechtslage, die die deutsche Seite elegant zu umschiffen wusste: Bezüglich des Ischtar-Tors untersagte das Antikengesetz von 1884 grundsätzlich die Ausfuhr von Antiquitäten; im Falle der Büste der Nofretete untersagte ein Konzessionsvertrag zwischen Ägypten und dem deutschen Finanzier der Grabungen ausdrücklich, bedeutende Fundstücke dauerhaft zu behalten.

Die ägyptische Archäologin Monica Hanna geht davon aus, dass der Ausgrabungsleiter Borchardt die Bedeutung der Nofretete-Büste bewusst heruntergespielt und die Altertumsverwaltung somit vorsätzlich getäuscht habe. Der Historiker Malte Fuhrmann gibt hinsichtlich des Ischtar-Tors in seinem Buch „Der Traum vom deutschen Orient“ zu bedenken, dass das Osmanische Reich Ende des 19. Jahrhunderts finanziell abhängig von den europäischen Großmächten war, was sich auf die Aushändigung der Fliesen ausgewirkt haben könnte.

Dass die beiden Kulturgüter im Zeitalter des europäischen Imperialismus nach Deutschland gelangten, sieht das Pergamonmuseum ein; dennoch müsse man die Aufteilung der Funde differenzierter betrachten: „Irak war zur Zeit der Fundteilungen 1903 und 1926 kein souveräner Staat, sondern stand unter der Kontrolle eines anderen Staates, erst des Osmanischen Reiches, dann des British Empires“, heißt es im Video dazu. Auch Ägypten stand seit dem Anglo-Ägyptischen Krieg von 1882 unter britischer Kolonialherrschaft. Die archäologischen Aktivitäten überwachte dort die ehemalige Kolonialmacht Frankreich; so blieb die ägyptische Altertümerverwaltung bis in die 1950er Jahre unter französischer Verantwortung. Die lokale Bevölkerung hatte also in beiden Fällen keinen Einfluss auf die Entscheidung über den Verbleib der Kulturgüter.

Die aktuellen rechtlichen Grundlagen und ihre Grenzen

Über Rückführungen von zur Kolonialzeit gestohlenen Kulturgütern findet sich in dem UNESCO-Übereinkommen kein Wort – es wird lediglich der Diebstahl und Handel von Kulturgütern nach 1970 behandelt.

In Deutschland ist die rechtliche Grundlage zu Rückgabemechanismen von Kulturgütern im Kulturgutschutzgesetz (KGSG) von 2016 geregelt. Es umfasst neben dem erwähnten UNESCO-Übereinkommen weitere europarechtliche Richtlinien. Aber auch dieses Gesetz bezieht sich weitestgehend auf den illegalen Handel von Kulturgütern nach und nicht auf die meist gewaltsame Anschaffung während der Kolonialzeit.

Auf der Webseite des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) heißt es zudem: „Kulturgüter, die vor diesem Stichtag [26. April 2007] aus dem jeweiligen Herkunftsstaat illegal verbracht worden sind, unterfallen keinem völkerrechtlich begründeten Rückgabeanspruch.“ Somit sind alle Kulturgüter, die in Kriegen, Erkundungen oder Ausgrabungen während der Kolonialzeit aus Afrika, Asien oder den Amerikas nach Deutschland gebracht wurden, ausgeschlossen – dennoch sehen wir am Beispiel der Benin-Bronzen, dass Rückgaben von kolonialen Raubgütern möglich sind.

Trotz des eindeutig klingenden Statements auf der Webseite der BKM haben sich 2019 unter anderem die Bundesministerin für Kultur und Medien, Vertreter:innen des Auswärtigen Amts und die Kulturminister:innen der Länder zur Diskussion über den Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten getroffen. Konkrete Maßnahmen wurden jedoch nicht beschlossen. Da Kulturgüter in Museen und Universitäten, die in den Kompetenzbereich der Länder fallen, lagern, sei auch deren Rückführung Ländersache.

Unter anderem deswegen fordert Berlin Postkolonial, ein Verein, der sich kritisch mit deutscher Kolonialgeschichte auseinandersetzt, ein bundesdeutsches Restitutionsgesetz: „Dieses Restitutionsgesetz soll [...] den in der UN-Deklaration der Rechte Indigener Völker zugesicherten Anspruch auf maßgebliche Beteiligung der jeweiligen Herkunftsgemeinschaften – in diesem Fall an den kompletten Rückübertragungs- bzw. Rückführungsprozesse – garantieren“, schreibt der Verein in einem Positionspapier vom 21.02.2024, welches dis:orient vorliegt.

Ob Ischtar-Tor, Nofretete oder andere Kulturgüter - in Deutschland besteht bereits eine mediale und institutionelle Auseinandersetzung rund um die Frage nach Rückgabe. Im Fokus steht hierbei besonders der historische Kontext: Wie umgehen mit der Tatsache, dass die Kulturgüter in den mittlerweile als Unrecht eingestuften internationalen Strukturen der Kolonialzeit nach Deutschland kamen? Bisher fehlt allerdings der Mut für eine ehrliche Antwort, die die Bedürfnisse und Rechte lokaler Bevölkerungen einbezieht und die Unrechtmäßigkeit der Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Ausbeutung endgültig anerkennt.

 

Quellenangabe: (1) Head of Queen Nefertiti, Craig Wyzik, CC BY 2.0; (2) Ishtar Gate East Tower, Robert Koldewey, The Excavations at Babylon, 1914; (3) Ishtar Gate, Robert Koldewey, The Excavations at Babylon, 1914; (4) Dragon Ishtar Gart, Osama Shukir Muhammed Amin, CC BY-SA 4.0; (5) Ishtar Gate Animals, Mia Ranta, CC BY-SA 2.0; (6) Wall of Ishtar Gate with colored enamel, Robert Koldewey, The Excavations at Babylon, 1914; (7) Berlin Pergamonmuseum Babylon Tor, Bundesarchiv, Bild 102-13149 / CC-BY-SA; (8) Nefertiti Bust, Deutsche Orient Gesellschaft, 1912, CC BY-SA 4.0; (9) The Nefertiti Bust in the Neues Museum, Philip Pikart, CC BY-SA 3.0.

 

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Claire studierte in Berlin, Paris, Montréal und Tel Aviv Sozialwissenschaften mit einem Schwerpunkt in Rechtswissenschaften. Sie recherchierte und arbeitete viel zu Grundrechten in Demokratien und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. 
Redigiert von Sören Lembke, Martje Abelmann, Hannah Jagemast
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