22.02.2019
Wissen und gewusst werden – In Hamburg zeigt eine Kollaboration von Wissenschaft und Kunst neue Ansätze im Umgang mit kolonialem Wissen

Künstlerisches Wissen wird von der Wissenschaft oft nicht ernst genommen. Dabei bietet es sowohl in der Generierung als auch in der Aufarbeitung Möglichkeiten, die der Wissenschaft verwehrt sind. Auf der Suche nach neuen Wegen im Umgang mit Wissen hat unsere Kolumnistin Leonie Nückell die Ausstellung Ovizire · Somgu: From Where Do We Speak? besucht. In dieser haben sich das Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKKund der unabhängige Kunstraum M. Bassy –  eine Begegnungsstätte für zeitgenössische afrikanische und afrikanisch beeinflusste Künstler*innen und Kreative – in Kooperation mit der Universität Hamburg mit der Kolonialgeschichte Namibias befasst.

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

Oh die Wissenschaft, ist sie die Kunst, die Wissen schafft? Gerne würde sie sich als solche betrachten. Doch wenn wir die heutige Wissenschaftsszene betrachten, schreibt sie eine Erzählung von Fachspezialisierung und Konkurrenz um Fördertöpfe. Die Gelder sind knapp, die Neugier groß, aber Forschung finanziert sich nicht von alleine. Durch den Druck die Bedeutung der jeweiligen Fachdisziplin in diesem Konkurrenzkampf herauszustellen, vergisst das Konglomerat Wissenschaft seine eigene Geschichte. Denn geboren wurde sie aus dem Drang heraus, die Welt als Ganzes zu erfassen; sie umfassend erklären, deuten und gestalten zu können.

Nicht selten kamen Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst und Theologie zu einer fruchtbaren Symbiose in Gestalt sogenannter Universalgelehrter zusammen, deren Namen uns bis heute geläufig sind: der altägyptische Baumeister Imhotep (um 2700 v. u. Z.), Aristoteles (384-322 v. u. Z.) aus der griechischen Antike, der persische Gelehrte Ibn Sina (Avicenna, um 980-1037) oder der Italiener Leonardo da Vinci (1452-1519). Erst Ende des 19. Jahrhunderts differenzierten sich die verschiedenen Richtungen in Fachwissen aus und die heute miteinander konkurrierenden Disziplinen waren geboren. Fachübergreifende Ansätze, für die neuerdings wieder geworben wird, nennen sich nun transdisziplinär.

Doch auch bei diesen Ansätzen wird eine wichtige Frage vergessen: Muss alles generierte Wissen „wissenschaftlich“ sein? Immer noch scheint Wissen, das nicht auf Methode, Theorie und Kategorisierung basiert, weniger ernst genommen zu werden. Dabei haben heute Kunstwerke häufig nicht weniger mit Tiefe, Auseinandersetzung und Recherche zu tun als eine wissenschaftliche Theorie. Und die Kunst hat eine Waffe, die der Wissenschaft in ihrem Regelwerk von Analyse und Beweis oft verloren geht: sie kann berühren. Sie weckt Emotionen und lässt in ihrer Präsentation den Raum offen für die eigene Interpretation. Ihr Beweis ist nicht die laborbereinigte Studie, sondern die Gefühle und Gedanken, die sie in dem*der Betrachter*in auslöst. Und was begeistert mehr als die eigene emotionale Beteiligung? Versteht mich nicht falsch, es gibt in der wissenschaftlichen Publikation wahre schriftstellerische Leistungen. Doch ist es nicht an der Zeit, die Symbiose, die in ihre Kleinstteile zerlegt wurde, wieder fruchtbar zu machen?

Koloniales Wissen – Erbe und Umgang

Ein solch verheerendes Kapitel der Geschichte wie der Kolonialismus, trägt schwer an seinem Erbe. Es schlägt sich nieder in Denkstrukturen, der Erfindung von Unter- und Überlegenheit, Verletzung, Raubgütern und Aneignung. Und überdauert bis heute, so tief verwurzelt, dass es uns als natürlich erscheint, Menschen und Wissen zu kategorisieren, zu ordnen und zu bewerten. Was kann in dieser Auseinandersetzung die Wissenschaft von der Kunst lernen? In einer Zeit, in der die Rückgabe von kolonialen Raubgütern als Teil der Aufarbeitung der Geschichte verhandelt wird? In einer Zeit, in der in Deutschland erstmals Gedanken zu kolonialer Schuld, Verwüstung und der Kulmination kolonialer Gewalt im Genozid an den Herero und Nama öffentlich ernst genommen werden? In einer Zeit, in der Repräsentation und Darstellung zunehmend als Machtinstrumente entlarvt werden?

Mit der Ausstellung Ovizire · Somgu: From Where Do We Speak?  ist nun ein transregionales und postkoloniales Projekt verwirklicht worden, das sich an das Nebeneinander und die Symbiose von Kunst und Wissenschaft wagt – eine Kollaboration, wie es die Beteiligten nennen. In einem einjährigen Forschungsprojekt haben sich die namibischen Künstler*innen Vitjitua Ndjiharine, Nashilongweshipwe Mushaandja und Nicola Brandt und die deutsche Historikerin Ulrike Peters mit dem Fotobestand des MARKK auseinandergesetzt, das in „Deutsch-Süd-West“, dem heutigen Namibia, durch die deutsche Kolonialmacht geschaffen wurde. Einen großen Teil trägt die fotografische Aktivität des Leutnants Alexander von Hirschfeld dazu bei, uns vom kolonialen Selbstverständnis der Deutschen in Namibia zu erzählen.

Multiple Perspektiven und emotionale Zugänge

From Where Do We Speak? ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung und reflektiert dabei einen Prozess, der nicht und vielleicht niemals abgeschlossen sein wird. „Wer spricht? Wer hat bisher gesprochen? Wer hat bis jetzt für wen gesprochen?“ sind die Fragen, die sich dieser Prozess laut der Kuratorin des M. Bassy Bisrat Negassi stellt. Ovizire und Somgu bedeuten im Ojtiherero und Khoekhoegowab „Schatten“. Wie die Kuratorin des MARKK Johanna Wild erläutert, verweist dies auf die Herangehensweise des Projekts, das den Fotobestand kritisch anhand seiner Lücken und Schatten aufarbeite. Nicht Schatten, sondern Spiegel begegnen dem*der Betrachter*in in einer der Arbeiten Vitjitua Ndjiharines. In den um ein vielfach vergrößerten Aufnahmen verschiedener Personen in der Steppenlandschaft, hat sie die abgebildeten schwarzen Menschen herausgeschnitten und durch Spiegelfolie ersetzt. So wird dem*der Betrachter*in der koloniale Blick auf die Anderen verwehrt und stattdessen der eigene zurückgeworfen. Was Edward Said auf 394 Seiten ausdrückte, passiert hier in vier bis fünf großformatigen Ab-Bildungen.

Sound- und Videoinstallationen, Performances, ein Tisch mit wissenschaftlichen Werken zur Kolonialgeschichte und ein Zeitstrahl, der die Geschichte der Kolonie und Namibias aus der Perspektive des Widerstands erzählt. Dies sind die Vergegenständlichungen, mit welchen Gedanken und Anregungen in den Räumen des MARKK und M. Bassy dokumentiert werden. Ein konsequenter und kluger Schachzug, die Ausstellung auf das M. Bassy zu erweitern. Ist es doch als unabhängiger, selbstbestimmter und damit (eher) postkolonialer Ort für die Ausstellung und Künstler*innen unverfänglicher als das erst 2018 in „Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt“ umbenannte Völkerkundemuseum. So zeigt die Ausstellung auch einen notwendigen und reflektierten Schritt des Museums in der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Funktion und Geschichte. Während im Ausstellungsraum nebenan „Masken der Südsee“ hinter Glasscheiben in schummrigem Licht und mit Urwald-Vogelgezwitscher vom Band geheimnisvoll und exotisch in Szene gesetzt werden. Ein Schritt ist ein Schritt ist ein Schritt. Und nichtsdestoweniger ein guter und richtiger.

Die Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte und kolonialem Wissen ist für alle Beteiligten emotional und aufwühlend. Nicht nur der Ansatz von Ovizire · Somgu macht deutlich, dass dies nur überregional und in Aushandlung miteinander passieren kann. Auch wenn aus postkolonialer Perspektive einige Fragen an das Projekt offenbleiben (wieso wurden keine namibischen Wissenschaftler*innen beteiligt? Warum ist die Ausstellung in den Kolonialsprachen Deutsch und Englisch gehalten? Wird die Ausstellung auch an Orten gezeigt, die nicht durch Visabestimmungen eingezäunt sind? …), birgt es die Ansätze in sich, Wissen neu zu ordnen, Zugänge neu zu gestalten und Aushandlungen multiperspektivisch zuzulassen. Es zeigt, wie Wissenschaft über ihren Schatten springen kann, in diesem Fall im Bunde mit der Kunst. Lasst uns neugierig sein auf das Potential, das darin steckt.

 

Leonie hat Arabistik, Islamwissenschaft und Soziologie in Bochum, Hamburg und Leipzig studiert. Ihr Bezug in die Region ist vor allem durch einen zweijährigen Aufenthalt in Tunesien geprägt. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig und als freie Literaturübersetzerin. Bei Alsharq...
Redigiert von Alicia Kleer, Julia Nowecki