25.12.2022
„Unser Sumud ist nicht leicht zu durchbrechen“
"Seit dem Gerichtsurteil im Mai 2022 gibt es eine große Abrisswelle". Foto: Youth of Sumud
"Seit dem Gerichtsurteil im Mai 2022 gibt es eine große Abrisswelle". Foto: Youth of Sumud

Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Israel droht Palästinenser:innen in Masafer Yatta die Vertreibung. Sami Huraini und Einat Fogel-Levin im Interview zur Situation vor Ort, gewaltlosem Widerstand und schrumpfenden zivilen Räumen.

Seit Jahrzehnten kämpfen die Bewohner:innen der Dörfer von Masafer Yatta gegen ihre Vertreibung und für den Verbleib ihrer Dörfer. Die Region Masafer Yatta liegt ganz im Süden der besetzten palästinensischen Gebiete in den sogenannten C-Gebieten, die insgesamt rund 60 Prozent des Westjordanlands ausmachen und sich unter israelischer Militärkontrolle und Verwaltung befinden.

Knapp 1200 Palästinenser:innen in Masafer Yatta sind von Abrissaktionen und der Zerstörung von Häusern, Infrastruktur und Viehställen durch die israelische Behörden betroffen. Dieses Vorgehen hatte zuletzt deutlich zugenommen, nachdem der oberste Gerichtshof Israels im Sommer in letzter Instanz die vollständige Zwangsräumung von acht palästinensischen Dörfern und ihren Bewohner:innen genehmigt hatte. International wird dies als Verletzung des Völkerrechts bewertet.

Sami Huraini lebt in at-Tuwani in Masafer Yatta. Er ist engagiert in der Graswurzelbewegung Youth of Sumud (YOS), die gewaltlosen Widerstand gegen die israelische Besatzung leistet. Unterstützt werden sie dabei von internationalen und israelischen Verbündeten, darunter der israelischen Organisation Human Rights Defenders Fund (HRDF). Dis:orient hat Sami Huraini (YOS) und Einat Fogel-Levin (HRDF) zum Gespräch getroffen.

Sami, kannst du zunächst die besondere Situation in Masafer Yatta schildern?

Sami (YOS): Das Gebiet Masafer Yatta  wurde bereits Anfang der 80er-Jahre vor dem Oslo-Abkommen zur sogenannten "Feuerzone"[1] erklärt und hieß bis 1999 einfach „Feuerzone 918“. Es war geplant, das ganze Gebiet in ein Trainingsgelände für die israelische Armee umzuwandeln. Von 1980 bis 1999 gab es täglich Schikanen durch das Militär, die das Leben der Menschen zerstörten. Sie verhinderten die Versorgung mit Strom und Wasser und blockierten die Straßen. Doch die Menschen vor Ort leisteten Widerstand. Unser Sumud (arab.: صمود, dt.: Standhaftigkeit) ist nicht leicht zu durchbrechen.

Im Jahr 1999 kam es zum ersten Verbrechen, als die Armee anrückte. Etwa 700 Palästinenser:innen wurden in andere Gebiete gebracht und vertrieben. Dies geschah sechs Monate lang – dann entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass die Palästinenser:innen vorübergehend zu ihrem Land zurückkehren durften bis ein endgültiges Urteil vorliegt. Seit 22 Jahren sind wir nun immer wieder vor Gericht und zu verschiedenen Zeiten gab es unterschiedliche Entscheidungen. In diesen Jahren waren wir ständig Schikanen, nächtlichen Razzien, Räumungen, Abrissen und blockierten Straßen ausgesetzt und lebten ohne Wasserversorgung. Die Menschen in Masafer Yatta wurden daran gehindert, eine stabile Grundversorgung aufzubauen und alltägliche, menschliche Bedürfnisse zu sichern.

Am 4. Mai 2022 hat der israelische Gerichtshof sein Urteil verkündet. Welche Bedeutung hat das Gerichtsurteil für euch?

Sami: Diesen Sommer entschied der israelische Gerichtshof in letzter Instanz. Die Israelis behaupteten, dass vor den 1980er Jahren niemand in Masafer Yatta lebte. Wir legten dem Gericht alle Beweise für den Besitz des Landes vor, aber nichts wurde berücksichtigt. In Jinba wurde im Sommer eine Schule und einige Häuser abgerissen und auch die Zerstörung von Häuser und Strukturen in Khalet Athabba angeordnet. Sobald wir gegen diese Anordnungen Einspruch bei Gericht erheben, werden diese abgelehnt.

Jedes neue Urteil basiert auf der allgemeinen Entscheidung der Räumung vom 4. Mai 2022. Dies bedeutet, dass wir alle rechtlichen Ansprüche verloren haben. Im israelischen Rechtssystem, gibt es keinen weiteren Wege, um einen Abriss oder eine Räumung zu verhindern. Am Ende hat das israelische System wieder einmal entschieden – in diesem System haben wir Palästinenser:innen keine Stimme.

Was sind die Folgen für die Bewohner:innen der Dörfer?

Sami: Seit dem Gerichtsurteil im Mai 2022 gibt es eine große Abrisswelle. Außerdem werden Gebiete isoliert und die Bewegung zwischen den Dörfern ist massiv eingeschränkt. Es gibt neue Checkpoints und Straßensperren, die die Kommunikation zwischen den Dörfern verhindern, Autos werden beschlagnahmt und Aktivist:innen verhaftet. Auch ich wurde vor 8 Monaten am Boden festgehalten und verhaftet. Zwischen den Dörfern führt das israelische Militär Übungen und Ausbildungeinsätze durch. In Khalet Athabba sind Löcher zu sehen, wo Kugeln in die Dächer einschlugen und die militärischen Übungen, Sprengstofftrainings und Hubschraubereinsätze zerstören unsere Felder.

Immer wieder üben israelische Siedler:innen gewalttätige Angriffe gegen uns und unser Eigentum aus. Zudem gibt es diese Autobahn, die die Israelis zur neuen Grünen Linie [Linie des Waffenstillstands von 1949, Anm. d. Red.] machen wollen. Wir sollen in die Stadt Yatta ziehen. So kann dieses ganze Land an Israel angegliedert werden. Die Siedler:innen und die Armee arbeiten mit dem Staat zusammen. Sie alle verkörpern die Besatzung.

Überbleibsel und Schutt eines zerstörten Hauses in Masafer Yatta, Foto Youth of Sumud

Sami, du hast 2021 zusammen mit deiner Schwester den Front Line Defenders Award erhalten, der jährlich an Menschenrechtsaktivist:innen vergeben wird, die sich mit ihrer Arbeit hohen Risiken aussetzen. Kannst du uns etwas von deiner persönlichen Beziehung zum Widerstand in der Region erzählen?

Sami: Sicher. Meine Gegend ist dafür bekannt, dass sie sich gegen die israelische Besatzung stellt. Schon meine Großmutter, die 1948 aus Nafat vertrieben wurde, kam nach Yatta. Sie konnte sich dort Land kaufen und schaffte es eine Familie zu gründen. Als dann die Siedlung kam weigerte sie sich, eine weitere Nakba zu erleben. Sie blieb in at-Tuwani.

Als Aktivist aus Masafer Yatta und Koordinator einer kleinen Jugendgruppe in der Region, die sich Youth of Sumud (YOS) nennt, arbeiten wir zum Schutz der Menschenrechte vor Ort. Unsere Gruppe wurde im Jahr 2017 gegründet. Wir begannen unsere Arbeit damit in die Höhlen des Dorfes Sarura zu ziehen, wurden jedoch von der Armee und den Siedler:innen wieder von dort vertrieben. Wir beschlossen, wieder im Dorf zu leben, aber rund um die Uhr in den Höhlen anwesend zu sein und auf dem Land zu arbeiten, um zu verhindern, dass die Siedler:innen das Land besetzen. Von da an begannen wir, uns mehr für die Menschenrechte zu engagieren.

Vor allem begleiten wir Kinder zur Schule und auch Viehhüter:innen bei der Arbeit und dokumentieren Gewalt und Belästigung durch Siedler:innen und Armee. So wurden wir in den Aktivismus gegen die Besatzung mit gewaltfreiem Widerstand involviert. Sogar internationale und israelische Organisationen kommen, um uns zu helfen. Heute ist YOS einer der Hauptorganisatoren der Proteste und des Aktivismus gegen die israelische Besatzung in Masafer Yatta.

Du hattest schon angedeutet, dass auch du direkt von Repression durch das israelische System betroffen warst, gab es da noch andere Vorfälle?

Sami: Ja. Wir haben ein Stück Land, das in der Nähe der Ma'on-Siedlung liegt. Wir arbeiten dort so oft es geht und versuchen, Olivenbäume und ähnliches anzupflanzen. Aber wir haben viel Ärger mit den Siedler:innen. Am 12. September arbeitete mein Vater auf dem Land in der Nähe der Siedlung. Während er arbeitete, kam eine Gruppe von Siedler:innen und griff ihn an. Sie brachen ihm beide Hände. Wir versuchten Hilfe zu organisieren, aber ein Siedler sagte, dass mein Vater ihn angegriffen hat und  er durch die Polizei vorerst festgenommen werden solle. Die Siedler:innen attackierten sogar den Krankenwagen und zerstachen die Autoreifen. Mein Vater wurde noch aus dem Krankenwagen inhaftiert und auch andere palästinensische Dorfbewohner:innen wurden durch das israelische Militär unter dem Einsatz von Schallgranaten und Tränengas festgenommen.

Mein Vater verbrachte zehn Tage im Gefängnis und hatte während dieser Zeit drei Gerichtstermine. Wir hatten ein Video eines internationalen Aktivisten, der in diesem Moment anwesend war und den ganzen Vorfall dokumentierte. Das Militärgericht hat das Material nicht einmal in Betracht gezogen – genauso wenig wie den Fakt, dass mein Vater mit zwei gebrochenen Händen im Gefängnis saß. Er kam nur unter drei Bedingungen frei: Zum Ersten, dass er einen Monat lang unser Land nicht betritt und zum Zweiten, dass er zu Verhören gehen muss – dafür mussten ich und meine Mutter unterschreiben. Die letzte Bedingung war, 10.000 Schekel zu zahlen. So wurde er wieder freigelassen. Eine Woche später wurde er zum Verhör gebeten, mein Bruder ging mit. Auch mein Bruder wurde daraufhin verdächtigt und beide blieben acht Stunden in dem Verhör.

Auch ich selbst wurde schon wegen Protesten inhaftiert. Im Westjordanland gelten zwei Gesetze, eines für Israelis und eines für Palästinenser:innen. Während die israelischen Siedler:innen in den besetzten palästinensischen Gebieten unter israelisches Recht fallen, werden wir nach dem israelischen Militärgesetz verurteilt.

Hafez Huraini (Mitte) im September bei einer Anhörung in einem israelischen Militärgericht im Westjordanland, Foto Oren Ziv

Einat und Sami, wie ist der Diskurs um die verschiedenen Aktivist:innen (israelische und internationale), die in Masafer Yatta vor Ort sind?

Sami: Dort, wo ich herkomme, engagieren wir uns seit 20 Jahren mit Israelis zusammen. Das ist ein besonderer Ort, und auch die internationale Präsenz ist wichtig für uns.

Einat (HRDF): Natürlich gibt es innerhalb der Palästinenser:innen unterschiedliche Ansichten dazu. In Sheikh Jarrah zum Beispiel waren sie sich sehr bewusst, dass sie keine Normalisierung mit den Israelis anstreben. Ich glaube, manchmal ist es ein bisschen komplizierter als das. Bei uns arbeiten auch Palästinenser:innen, die in Israel leben, und in Sheikh Jarrah haben wir mit einem palästinensischen Anwalt gearbeitet, der aber für uns, eine israelische Organisation, tätig war. Es ist also nie so einfach einen Schnitt zu machen und zu sagen, man kooperiert nicht.

Es ist interessant, dass die dokumentierende Person im Fall von Hafez Huraini, Samis Vater, ein internationaler Aktivist war. Es gab eine Medienkampagne gegen Hafez Huraini, die hauptsächlich von den Siedler:innen angeheizt wurde. Die israelischen Medien glaubten automatisch alles, was die Siedler:innen sagten. Es gab jedoch auch Israelis, die mit Journalist:innen in Kontakt standen und versuchten, eine andere Perspektive zu vermitteln. Es ist also immer eine Frage der Machtverhältnisse, ob israelische und internationale Medien involviert sind oder nicht.

Vor ein paar Monaten gab es Razzien gegen palästinensische NROs im Westjordanland, insbesondere in Ramallah. Haben sich diese Razzien auch auf eure Arbeit ausgewirkt, Einat?

Einat: Ich denke, es ist noch nicht genug Zeit vergangen, um die Auswirkungen dieser politischen Stoßrichtung zu sehen. Wir sind eine israelische Organisation, also wurden wir nicht direkt angegriffen, aber Human Rights Defenders Fund (HRDF) wird in Israel als eine Organisation angesehen, die mit dem Terrorismus kooperiert und Solidarität zeigt. Grundsätzlich könnte die Regierung auch gegen unsere Mitarbeiter:innen vorgehen, obwohl ich nicht glaube, dass sie das tun werden. Wahrscheinlich trifft es eher die palästinensischen Mitarbeiter:innen in Palästina.

Wir wissen, dass dies nicht der letzte Angriff ist, und wir sind uns sicher, dass noch mehr passieren wird. Wir sehen definitiv, dass die zivilen Räume in Israel und Palästina immer kleiner werden. Es stellt sich jetzt die Frage, was man dagegen tun kann. Wir von HRDF denken darüber nach, wie wir in neuen Feldern aktiver sein könnten und was passieren wird, wenn es nicht mehr möglich ist, in Palästina zu arbeiten.

Welche Unterstützung würdet ihr beide euch für Masafer Yatta von deutschen Aktivist:innen wünschen?

Sami: Ich persönlich würde mir wünschen, dass es von deutscher Seite eine deutlichere Haltung gegenüber der palästinensischen Frage und den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gibt. Es liegt an Deutschland, aber auch an der gesamten internationalen Gemeinschaft, Schritte zu unternehmen, um die tägliche Verletzung der Menschenrechte der Palästinenser:innen zu stoppen. Was wir im Moment in Masafer Yatta sehen, ist ein Kriegsverbrechen. Als Teil der internationalen Gemeinschaft sollte Deutschland Verantwortung übernehmen. Erst vor kurzem wurde eine mit EU-Geldern gebaute Schule in Masafer Yatta abgerissen. Es gibt viele Projekte, die in unserer Gegend mit Steuergeldern der Deutschen und der EU gebaut wurden. Auch deswegen sollte eine Entscheidung getroffen werden – zumindest um international finanzierte Gebäude und Entwicklungsprojekte zu schützen.

Einat: Ich denke, dass Deutschland aufgrund seiner besonderen Geschichte mit Israel auch eine besondere Wirkung auf Israel hat. Es gibt Dinge, die Deutschland sagen kann und die Israel ernster nehmen wird, als wenn andere Länder sie sagen. Wir wissen, dass es schwierig ist, aber Israel sollte auf bilateraler Ebene mehr von Deutschland herausgefordert werden. Die Tatsache, dass die Palästinenser:innen vor einem Militärgericht verurteilt werden, sollte beispielsweise gründlich diskutiert und vor internationale Gerichte gebracht werden. Besonders Deutschland betont immer, dass Israel ein demokratischer Rechtsstaat ist. Dementsprechend könnte dies gerade von Deutschland angesprochen und hinterfragt werden.

Außerdem ist es wichtig, die schrumpfenden zivilgesellschaftlichen Räume in Israel anzusprechen. Wir hoffen, dass wir diese Art von Diskussion zumindest hier in Deutschland führen können, dass wir es zur Sprache bringen und aus allen Blickwinkeln darüber sprechen können. Auch wenn man selbst nicht die Entscheidung trifft, etwas zu tun, so kann man zumindest andere nicht aktiv daran hindern, zu reagieren.

 

 


[1]  Zur „Feuerzone“ erklärte Gebiete des Westjordanlands werden vom Militär zum Training mit scharfer Munition genutzt. Rund 18 % der Area C wurden von israelischen Behörden mittlerweile zu Feuerzonen deklariert. Die palästinensischen Bewohner:innen haben dadurch meist nur noch schwer oder gar keinen Zugang mehr zu ihrem Land.  

 

 

 

Henriette studierte Vorderasiatische Archäologie und Islamwissenschaft im Master in Berlin, London und Amman und arbeitete und lebte im Sudan, Tunesien, Syrien, Tadschikistan, Aserbaidschan und Russland. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich Migration und promoviert in der Iranistik zu Kurd*innen in Russland.
Redigiert von Claire DT, Rebecca Spittel