03.09.2021
Tee und Tränengas
Hinter Zäunen und Schranken: Palästinensisches Leben in der Zone C des Westjordanlands ist geprägt von der Kontrolle durch die israelische Militärverwaltung. llustration: Kat Dems
Hinter Zäunen und Schranken: Palästinensisches Leben in der Zone C des Westjordanlands ist geprägt von der Kontrolle durch die israelische Militärverwaltung. llustration: Kat Dems

Für linke Israelis ist ziviler Ungehorsam eine persönliche Entscheidung. Für ihre palästinensischen Partner:innen ist es der einzige Weg, sich gewaltlos gegen Militärgewalt und Angriffe aus Siedlungen zu wehren, findet Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Der sandsteinfarbene Boden der Judäischen Hügel ist rissig. Die Risse bilden unregelmäßige Muster und setzen sich willkürlich zu einem geometrischen Formenspiel zusammen. Dieser sich bis zum Horizont erstreckende, karge Landstrich bietet eine spektakuläre Kulisse für die Szenen der Brutalität, die sich hier abspielen. An diesem Freitagmorgen Ende August demonstrieren Palästinenser:innen und linke Israelis gegen Siedler:innengewalt und die Schaffarm, die vor kurzem als Erweiterung des Außenpostens Avigail illegal auf palästinensischem Privatland der Familie Jabarin errichtet wurde.

Für jüdische Siedler:innen und Palästinenser:innen gelten hier auf demselben Territorium unterschiedliche Rechtsordnungen. Diese Gegend, in der beide Volksgruppen nebeneinander leben und zu der auch die Hügellandschaft von Masafer Yatta südlich der Stadt Hebron gehört, nennt sich seit dem Oslo-Friedensprozess der Neunzigerjahre „Zone C“. Sie macht rund 60 Prozent des Westjordanlands aus. Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 steht sie unter israelischer Militärverwaltung.

In drei Minuten soll der Bereich, in dem wir stehen, zur geschlossenen Militärzone erklärt werden, wird uns mitgeteilt. Dann dürfen wir uns nicht mehr hier befinden. „Wenn ihr keine Verhaftungen wollt, haut ab und geht in die andere Richtung!“, verkündet ein schwer bewaffneter Soldat in grüner Uniform. Er sieht gelangweilt aus. Wahrscheinlich hat er Besseres zu tun, als uns in der glühenden Hitze mit Verhaftungen zu drohen, denke ich mir.

Während wir laut trommeln und protestieren, rücken wenige Meter vor uns weitere zehn grüne Militärjeeps und Dutzende Sicherheitskräfte zur Verstärkung an. Wüsste ich es nicht besser, würde ich meinen, es handelt sich um die israelische Wüstenvariante eines SEK-Einsatzes. Dabei sind wir nur knapp hundert Menschen, die sich auf einem Hügel gegen Gewalt und Entrechtung starkmachen. Auch ein Knesset-Mitglied, Mossi Raz aus der linken Meretz-Partei, ist gekommen.

„Araber jagen“ am Shabbat

Eingekesselt von mehreren Siedlungen sind die Palästinenser:innen in der Gegend von Masafer Yatta seit Jahrzehnten permanenten Angriffen durch Siedler:innen ausgesetzt. In den vergangenen Monaten wurden die Attacken immer häufiger: Sie werden mit Steinen beworfen, ihre Olivenbäume angezündet, Schaffutter vergiftet. In den meisten Fällen schaut die Armee tatenlos zu, gelegentlich verbündet sie sich mit den Siedler:innen und verhaftet Palästinenser:innen. Am Shabbat, dem jüdischen Ruhetag, versammeln sich im illegalen Außenposten Havat Maon, der dem palästinensischen Dorf Tuwani gegenüber liegt, wöchentlich Dutzende junge Siedler:innen aus benachbarten Ortschaften. Gemeinsam gehen sie „Araber jagen“, heißt es im Jargon.

„Jetzt hast du mir mein Sonnenbad verdorben“, witzelt der Soldat wenige Minuten später, als eine ältere israelische Frau aus der Demonstration ihm zum Schutz vor der Hitze einen gelben Sonnenschirm über den Kopf hält. Sie trägt eine neongelbe Weste, auf der in sechs Sprachen „Mutter“ geschrieben ist: Sie vertritt die Koalition der „Mütter gegen Gewalt“. Eine Armschlinge schützt ihren linken Arm. „Das ist aus Sheikh Jarrah“, erklärt sie unbeeindruckt zum gebrochenen Arm und meint damit eine andere Demonstration gegen Zwangsräumungen in Ostjerusalem. Sie steht genau auf dem Fleckchen Erde, das gerade zur geschlossenen Militärzone ausgerufen wurde, rührt sich aber nicht.

„Du könntest mein Sohn sein. Ich habe nichts gegen dich, ich habe selbst zwei Söhne in deinem Alter“, redet sie auf den Soldaten ein. „Aber ihr solltet nicht hier mitten im Westjordanland stehen und Siedler:innen beschützen, sondern unsere Grenzen bewachen. Die Regierung hat euch einer Gehirnwäsche unterzogen!“ Ob ihre Worte den jungen Mann mit seinem schweren Gewehr erreichen? Sein Gesicht bleibt regungslos.

Enteignung ist legal

Seit 1967 verfolgt die israelische Regierung das Ziel, sich Gebiete im Westjordanland anzueignen. Die zentrale Methode dafür ist der Siedlungsbau. Diese Landnahme stellt den Versuch dar, die dortige demografische Unterlegenheit der Israelis die relativ geringe Anzahl jüdischer Siedler:innen im Vergleich zur Größe der palästinensischen Bevölkerung  –  durch eine geografische Dominanz auszugleichen. So viel Land wie möglich mit so wenig Palästinenser:innen wie möglich, ist das Prinzip.

Heute leben in Zone C fast eine halbe Million Siedler:innen in legalisierten Siedlungen, aber auch in Außenposten, die selbst nach israelischem Recht illegal sind. Um die Enteignung von palästinensischem Land für den Bau von Siedlungen zu rechtfertigen, interpretiert Israel ein Gesetz aus dem 19. Jahrhundert neu, als Palästina unter der Herrschaft des Osmanischen Reichs stand: Durch diesen juristischen Trick kann Land vom Staat, das als „nicht genügend bearbeitet“ erklärt wird, enteignet werden, wenn es längere Zeit nicht mehr bebaut wurde.

Ein endloses Geflecht aus Militärverordnungen und verworrener Bürokratie dient der „schleichenden Annexion“ und soll die palästinensische Bevölkerung langfristig verdrängen. Um diese Politik effektiv durchzusetzen und gleichzeitig Siedler:innen zu schützen, setzt man Soldat:innen ein. Im Irrlauben, ihr Land vor Feinden zu beschützen, werden so Teenager gleichzeitig Täter:innen als auch Opfer einer Politik, die Apartheid und Landraub zur Normalität gemacht haben.

Schockgranaten und Tränengas

Wer sich gegen diese unerträgliche Situation wehrt, wird bestraft. Wer gehorcht, trägt zur Legitimierung einer illegitimen Situation bei. Als wir nicht aus der willkürlich ausgerufenen „geschlossenen Militärzone“ weichen wollen, die eigentlich nur als Maßnahme für Notfälle dienen sollte, kommt es zur Eskalation. Die Sicherheitskräfte gehen zum brutalen Angriff über: Kurz nach dem Freitagsgebet, das die anwesenden Palästinenser:innen als spirituellen Teil der Demonstration durchführen, greifen sie uns mit Schockgranaten und Tränengas an. Zwei Menschen werden verhaftet.

Wir rennen schnell, es brennt in Augen, Gesicht und Hals, wir husten und spucken, es dröhnt immer wieder. Zum Glück haben einige Demonstrierende Zwiebeln dabei – an ihnen zu riechen, hilft gegen die Wirkung des Tränengases. Rania, ein kleines Mädchen aus dem benachbarten Dorf, hat Angst. Sie findet ihren Vater nicht, er könnte verhaftet worden sein. Sie klammert sich an die Hand einer Aktivistin. Nach Minuten des Bangens taucht er doch auf. Sie rennt auf ihn zu und umarmt ihn, die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Dabei muss ich daran denken, wie viele Kinder nicht mit ihren Vätern wiedervereint werden: weil diese verhaftet, verletzt oder erschossen werden. Seit der Amtseinführung des neuen Premierministers Naftali Bennett vor zwei Monaten wurden mehr als ein Dutzend palästinensische Zivilist:innen von israelischen Soldat:innen getötet. Bestraft wurde keiner, die Armee kündigte lediglich Ermittlungen an, die meistens ins Leere verlaufen.

Als alles vorbei ist, trinken wir Salbeitee in Tuwani und sitzen kurze Zeit später im Bus zurück nach Tel Aviv. Gewalt ist so sehr Teil unserer Normalität, dass sie uns nicht mehr beeindruckt. Die Demonstration wird es nicht in die israelischen Nachrichten schaffen: dafür ist „zu wenig“ passiert. Unsere palästinensischen Partner:innen in Masafer Yatta bleiben zurück, jeden Tag von neuem der Willkür und Gewalt von Siedler:innen und Armee ausgesetzt. Für uns ist ziviler Ungehorsam eine persönliche Entscheidung, für sie ist es einer der wenigen Wege, gewaltlos Widerstand zu leisten.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther