13.12.2019
Nichts ist wohlverdient

Grenzen sichern, schneller abschieben und zivile Seenotrettung kriminalisieren: Europa setzt weiterhin auf Abschottung. Doch bei allem Wegschauen und Wegschaffen: Die Bilder des Leids werden uns nicht loslassen.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

„Aus Griechenland werden keine grausamen Bilder mehr kommen“, sagte der griechische Migrationsminister George Koumoumtsakos jüngst in einem Interview mit Spiegel Online. Niemand müsse sich Sorgen machen oder gar ein schlechtes Gewissen haben. Griechenland habe die Situation im Griff, der „Albtraum“ der sogenannten „Flüchtlingskrise“ werde sich nicht wiederholen.

Er sagt all das vor allem, um seine mächtigen europäischen Partner*innen zu beruhigen: Nicht nur würden immer weniger Menschen ans europäische Festland durchdringen, so sein Versprechen, auch von grausamen Bildern blieben Europäer*innen in Zukunft verschont. Der Grund: Griechenland wolle geschlossene Zentren für die Inhaftierung von Ausländer*innen bauen. Dadurch soll das Abschiebungsverfahren schneller laufen und die Mobilität der Geflüchteten eingeschränkt werden.

„Demokratische Strenge“, nennt der Minister die angeblich neue europäische Politik, für die er steht: Grenzen sichern, schneller abschieben, europäische Partner*innen nicht verärgern und trotzdem behaupten, die Menschenrechte würden geachtet. Ob das zusammen geht? Scheinbar ja, solange sich keine Bilder des Leids verbreiten. Denn was zählt, ist nicht, was wirklich geschieht, sondern, was sichtbar wird.

Außer Frage steht: Zumindest im Mittelmeer lassen sich die unliebsamen Bilder nicht mehr vermeiden. Zwangsläufig werden sie uns wie ein Dorn im Auge sein: die abertausenden Geflüchteten, die im Mittelmeer ertranken. 15.000 Menschen sind allein in den letzten fünf Jahren der Festung Europa zum Opfer gefallen. Und tausende weitere werden wohl noch ertrinken müssen.

Erst vor einigen Wochen hat das Europa der „demokratischen Strenge“ eine Resolution zur Seenotrettung von Geflüchteten im EU-Parlament verhindert – mit einer Mehrheit von Konservativen und Rechtsradikalen. Die Resolution zielte darauf, die strafrechtliche Verfolgung von Rettungsaktivist*innen aufzuheben und eine Grundlage für eine staatliche Rettungsmission zu schaffen. „Eine Schande“, nennt Cornelia Ernst, Asylsprecherin der Linken im Parlament, die Ablehnung der Resolution. „Hier will man lieber wegschauen und sterben lassen“, sagt sie. Wie oft wollen Politiker*innen noch vom Grauen wegschauen, ohne sich dabei unmenschlich vorzukommen?

Wegschauen und Wegschaffen

Noch peinlicher wird das Wegschauen mit Blick auf Libyen. Folter, Vergewaltigung, Zwangsarbeit und KZ-ähnliche Zustände: Im Angesicht der höllischen Zustände in Libyen mag es manchen Geflüchteten fast wie eine Erlösung erscheinen, im Mittelmeer zu ertrinken. Allein in diesem Jahr hat die sogenannte libysche Küstenwache mehr als 6.000 Menschen in diese Hölle zurückgebracht. Sie kann das dank der technischen und finanziellen Ausrüstung, die sie von Europa erhält – trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen.

Das Wegschaffen ergänzt hier das Wegschauen. Je mehr sich das Geschehen von Europa fernhalten lässt, umso einfacher ist es, dieses auszublenden. Neu ist das nicht: Seit Jahren ist das Wegschaffen fest in der politischen Agenda Europas verankert – von Plänen zur Errichtung von „Aufnahmezentren“ in Nordafrika bis hin zu „Sicherheitszonen“ in Syrien. „Wir schaffen das“? Wohl eher: „Wir schaffen das weg!“

Außenpolitische Versäumnisse

Als vor neun Jahren der sogenannte „Arabische Frühling“ begann, schien für Europa die Zeit gekommen, Versäumnisse nachzuholen und die eigene Außenpolitik auf den Prüfstand zu stellen. Heute lässt sich mit Bedauern feststellen, dass europäische Politiker*innen mehr versäumen als nachzuholen. Die Kurzsichtigkeit bleibt Programm. Die Stichwörter heißen arrangieren und abschotten. So arrangiert sich Europa mit repressiven Regimen wie dem des ägyptischen Machthabers Abdel Fattah al-Sisi. Schließlich garantiere al-Sisis Ägypten „regionale Stabilität“ und sei „ein wichtiger Partner“ in der „Bekämpfung des internationalen Terrorismus“, wie es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Opposition im Bundestag heißt.

Auch in der Kriegsindustrie geht es in erster Linie um Arrangement: Obwohl die Aufrüstung Saudi-Arabiens die Europäer*innen in immer größere Verlegenheit brachte und Deutschland seine Rüstungsexporte gar vorübergehend stoppte, halten die europäischen Bemühungen, sich auf eine rüstungsfreundliche Abfindung zu einigen, weiterhin an. In mehreren europäischen Ländern erwies sich der Stopp der Rüstungsexporte an das Land, das seit Jahren im Jemen einen brutalen Krieg führt, angesichts der zahlreichen Ausnahmen und Gesetzesverletzungen als Schimäre, wie jüngst von einem Bericht von Euronews aufgedeckt wurde.

Doch so sehr Europa sich auch abschotten mag: Mehr und mehr Menschen werden aus ihren zerstörten Städten fliehen. Sie werden weiterhin nach Auswegen suchen aus der scheinbaren Aussichtslosigkeit ihres Daseins – irgendwo zwischen anhaltender Repression und erstickender Armut. Die Menschen werden weiter für ein würdiges Leben kämpfen und gegen eine ungerechte Ordnung rebellieren – eine Ordnung, deren Stützen weder von der imperialen Geschichte Europas noch von seiner neoliberalen Gegenwart getrennt werden können.

Im Anblick des Leids

2019 war wieder ein Jahr der massiven Proteste in Westasien und Nordafrika, beginnend mit Algerien und dem Sudan bis hin zu Ägypten, dem Libanon, dem Irak und dem Iran. Auch in Syrien geht die Misere mit tausenden Ermordeten und Festnahmen weiter. Tausende andere setzen in gerade diesem Moment ihr Leben für mehr Gerechtigkeit aufs Spiel setzen.

Die Bilderflut verfolgt uns. Das Wegschauen ist fast unmöglich geworden. Oft tun wir nur so, als würden wir wegschauen, in Wirklichkeit gewöhnen wir uns an die Bilder des Grauens, solange sie die Bilder der Anderen sind. Die Bilder sind hautnah, sie durchdringen uns, doch wir lassen sie mit abgestumpften Sinnen an uns abprallen – ein ethischer Bankrott.

Hilfreich sind hier die Gedanken des Philosophen Emmanuel Levinas. Für ihn manifestiert sich das Ethische in der Begegnung mit den Anderen – und zwar von Angesicht zu Angesicht. Das Humane entfalte sich, in dem wir die Anderen wirklich sehen und ihnen gegenüber entsprechend verantwortungsvoll handeln. Im Anblick leidender Gesichter, zeigt sich die Unendlichkeit, das Antlitz Gottes, sagt Levinas. Dadurch werden wir zur Verantwortung gezogen. Und in dem Moment, in dem das Leid bewusst, ja, greifbar wird, stellt sich heraus, dass sich niemand in dieser Welt von der Verantwortung lossagen kann, dass nichts wohlverdient ist – einfach nichts.

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...
Redigiert von Leonie Nückell, Maximilian Ellebrecht