02.06.2023
Rezension: „Dust: Egypt´s Forgotten Architecture“
Plate 19, Greek Apartment, Alexandria, 2019. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 19, Greek Apartment, Alexandria, 2019. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 1,  Classroom, Said Halim Palace, Cairo, 2007. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 1, Classroom, Said Halim Palace, Cairo, 2007. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 33, Red curtain, Cinema Radio, Cairo, 2010. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 33, Red curtain, Cinema Radio, Cairo, 2010. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 35, Tires in storage, Abd al-Hamid Selim al-Guindy Department Store, Minya, 2021. Foto: Xenia Nikolskaya.
Plate 35, Tires in storage, Abd al-Hamid Selim al-Guindy Department Store, Minya, 2021. Foto: Xenia Nikolskaya.

Die Fotografin Xenia Nikolskaya portraitiert seit fast 20 Jahren Gebäude der letzten Jahrhundertwende in Ägypten. Dabei herausgekommen ist ein Bildband, der wenig hinterfragt, dafür aber zum Schmökern und Schwelgen einlädt.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Ägypten liegt nicht länger in Afrika, sondern in Europa“[1], so formulierte Khedive Ismail (1830-1895) – auch bekannt unter dem Beinamen „der Prächtige“ – seine Pläne für Ägypten, als er 1863 die Macht im Land übernahm. Er wollte, dass die damalige osmanische Provinz Ägypten so schnell wie möglich mit den europäischen Mächten in den Bereichen Bildung, Kultur und Wirtschaft aufschließt. Diese Modernisierung sollte sich auch in der Stadtplanung und Architektur seiner Städte, allen voran in der Hauptstadt Kairo, widerspiegeln.

Und so entstanden Ende des 19. Jahrhunderts neue Stadtbezirke mit Boulevards, Parks, Theatern, Kinos und großzügigen Stadthäusern nach dem Beispiel Paris: Ismailiya, das heutige Wust-al-Balad oder Downtown und etwas später Helliopolis und Muhandeseen. Sie standen mit ihren schicken und reich verzierten Villen und Palästen im Art-déco-Stil und Neoklassizismus im Kontrast zu Alt-Kairo, dem damaligen Stadtkern, mit seinen alten und baufälligen Gebäuden. Kein Wunder, dass die Besitzer:innen allesamt der damaligen ägyptischen Oberschicht angehörten und reiche Geschäftsleute aus Europa und Westasien waren. Ebenso viele der Architekten. Auch sie stammen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts meist aus Italien, Deutschland oder Frankreich. Denn die Ausbildung von Architekten in Ägypten begann erst mit der Herrschaft des Khediven Ismail.

Fotografie im Dienste des Denkmalschutzes

Heute sind viele dieser Gebäude unbewohnt und oftmals in einem baufälligen Zustand oder existieren gar nicht mehr. In Ägypten gibt es zwar das Ministerium für Tourismus und Antiquitäten, das für den Erhalt zuständig ist, und Gesetze, die die Bauten schützen sollen. Allerdings liegt der Fokus bei beiden eher auf Artefakten aus früheren Epochen, wie die Zeit der Pharaonen, der Islamisierung Ägyptens, der Griechisch-Römischen und koptischen Periode. Bis vor kurzem waren viele der Häuser aus der Jahrhundertwende gar nicht alt genug für einen Schutzstatus. Laut Gesetz gilt das nur für Gebäude, die älter als 100 Jahre alt sind. Somit fristen viele der ehemaligen Luxusbauten bis heute ein stiefmütterliches Dasein – außer sie hatten das Glück, weiterhin einer wohlhabenden Familie zu gehören oder dem ägyptischen Staate von Nutzen zu sein, wie das im Band portraitierte Museum für Landwirtschaft.

Aber vielleicht macht gerade dieser Kontrast zwischen Pracht und Verfall ihren leicht morbiden Charme aus. Das dachte sich auch die russische Fotografin Xenia Nikolskaya vor etwa 20 Jahren, als sie mit einer russischen Archäologie-Mission zum ersten Mal nach Kairo kam. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt stieß sie immer wieder auf Gebäude, die sie vom Baustil her an die Stadthäuser ihrer Heimatstadt St. Petersburg erinnerten: „Ich war schlichtweg fasziniert von der fremden, doch seltsam vertrauten Ästhetik der europäisch anmutenden Architektur Kairos.“ Neugierig geworden, begann Nikolskaya sich näher mit den Anwesen und ihren Erbauer:innen auseinanderzusetzen.

Das Resultat liegt seit 2022 bei der American University in Cairo (AUC) Press in zweiter Auflage vor. Der Bildband „Dust: Egypt´s Forgotten Architecture“ erschien erstmals 2013 und wurde aufgrund der großen Nachfrage erneut aufgelegt und durch Fotos ergänzt, die es damals nicht in die erste Auflage schafften. Ergänzt wurden außerdem Aufnahmen, die zwischen 2013 und 2021 entstanden. An etwa 30 Orten in Kairo, Alexandria, Ismailia, Mina, Esna und kleineren Orten im Nildelta machte Nikolskaya ab 2006 Aufnahmen von 46 Wohnhäusern oder Palästen, alle erbaut im Stile der Jahrhundertwende. Damit, so die Fotografin im Vorwort, möchte sie einen Beitrag zum Denkmalschutz in Ägypten leisten. Denn einen öffentlich zugänglichen Katalog über die Gebäude aus dieser Zeit gab es vor Nikolskayas Projekt nicht, ergänzt die Kuratorin und Künstlerin Heba Farid in ihrer Einleitung zu Dust.

Architektur als Aufbewahrungsort von Zeit

Doch das ist nur ein Anliegen des Bildbandes. Er ist gleichzeitig Nikolskayas Promotionsprojekt über die Frage, inwieweit das Genre Interior Fotografie, also Innenaufnahmen im Stile der Architekturfotografie, verwendet werden kann, um das Bildobjekt zu interpretieren. Daher finden sich nur Innenaufnahmen der jeweiligen Gebäude in dem Buch. Denn Außenaufnahmen könnten verräterisch sein und Details preisgeben, die Aufschluss über Zeitpunkt und äußere Umstände der Aufnahme liefern, und das liefe ihrem Anliegen zuwider, erklärt die Künstlerin in der Einleitung zum Band. Ihr Ansinnen war es, in ihren Bildern einen Raum zu schaffen: „(…) wo allein die Architektur ein Aufbewahrungsort der Zeit ist (…) und so die politische und wirtschaftliche Stagnation wiedergibt.“

Das gelingt ihr in beinahe all ihren Aufnahmen. Insbesondere dort, wo kaum Mobiliar vorhanden und der Zerfall noch nicht weit fortgeschritten ist. Beispielsweise im Plate 57 Abandoned palace in Manial, Cairo, 2010. Durch einen Flur blickt man ins Treppenhaus. Links befinden sich Fenster. Sie stehen offen. Ihr Glas ist verstaubt und vergilbt. Außen sind verschlungene Eisenstangen angebracht. Die Wände sind gelb gestrichen, kahl und an einigen Stellen mit Wasserflecken durchsetzt. Zwar nimmt der Flur das Bild ein, aber er steht dennoch nicht im Fokus. Zentral ist das Treppenhaus. Hier glänzt der Marmor des Geländers, die Wände strahlen gelb und die Muster im Handlauf schimmern im Sonnenlicht. Die Szenerie strahlt etwas Zeitloses aus, so als ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig stattfinden und sich somit auflösen.

Offene Fenster und Türen begegnen uns in vielen der Fotos. Sie werfen unweigerlich die Frage auf, wer Fenster oder Tür geöffnet hat. Sie wirken als eine Art Verbindung zwischen dem vergangenen und gegenwärtigen Moment. Aber das bleibt auch das einzige direkt menschliche Einwirken. So bleibt für die Betrachtenden genug Raum, um sich die Geschichten der Häuser und ihrer Bewohner:innen selbst auszuschmücken. Das Fortschreiten der Zeit ist in dieser Aufnahme kaum spürbar. Der Verfall schreitet nur langsam voran, zu erkennen etwa an der Schicht Staub, die sich am Boden und an den Fenstergläsern abzeichnet oder am verblassenden Putz.

Ganz anders wirken dagegen ihre Bilder, wo eher Zerstörung als Zerfall zu sehen ist. Wenn beispielsweise ganze Deckenabschnitte am Boden liegen, wie im Plate 52 Bagous Palace, Cairo, 2011 oder Treppen fast vollkommen eingestürzt sind, zu sehen im Plate 39 Staircase, Tiring Department Store, Cairo, 2010. Hier ist spürbar, dass Zeit in einem anderen Tempo und mit einer anderen Wucht gewirkt hat und noch immer nachwirkt.

Ruinen-Fotografie: Zwischen Faszination und Glorifizierung

Kuratorin Heba Farid vermag in Nikolskayas Bildern Spuren des Genres Ruinen-Fotografie auszumachen. Sie verweist damit auf die Inszenierung der Aufnahmen. Bei Ruinen-Fotografie portraitieren Fotograf:innen den Verfall von meist städtischen und ehemals bedeutsamen Gebäuden aus der Zeit der Industrialisierung mit einer Mischung aus Faszination und Nostalgie. Sie versuchen in ihren Bildern das Zusammenspiel von Verlust, Verfall und Imperfektion als etwas Schönes und Positives darzustellen.

So wirken auch Nikolskayas Bilder wie eine sanfte und bittersüße Liebkosung vergangener Glorie. Im Plate 11 Birds in a cage, Muhammad Kamil al-Bindari Villa, Giza, Cairo, 2021 sehen wir eine Veranda, wo der Putz an den Wänden und am Steingeländer bröckelt, die Fassade stellenweise beschmiert ist und sich auch hier wieder eine dicke Staubschicht auf dem Boden breitgemacht hat. Aber dennoch verströmt die Aufnahme Ruhe, Stille und eine Erhabenheit – insbesondere in der Millionenmetropole Kairo, wo Momente ohne eine Hupe im Hintergrund Rarität sind.

Plate 11 Birds in a cage, Muhammad Kamil al-Bindari Villa, Giza, Cairo, 2021. Foto: Xenia Nikolskaya.

Anders als manche Vertreter:innen des Genres, bescheinigt Farid Nikolskaya keinen naiv-beschönigenden und glorifizierenden Umgang mit den Bauten: „Stattdessen betrachtet sie (Nikolskaya, Anm. d. Redaktion) diese Räume als moderne, archäologische Ruinen, wo die Vergangenheit viel näher ist und Sekunden vorher noch existierte.“ Daher stellen die Bilder für sie eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar. Anders als bei Ruinen-Fotografie versucht Nikolskaya den Verfall nicht zu beschönigen, sondern so zu zeigen, wie sie ihn wahrnimmt.

Hierbei spielt ihr zweites Thema „Verlust“ eine wichtige Rolle. Denn die Aufnahmen erinnern daran, dass etwas im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Das geschieht durch die oben angesprochene Imperfektion. Wobei offen bleibt, wer genau den Verlust erlitt und was genau abhandenkam. Ging es Nikolskaya um die Pracht der Gebäude, dass Menschen ihr Zuhause verloren haben oder um die Spuren, die sie dabei hinterließen?

Staub als ästhetisches und metaphysisches Stilelement

Wie aber passt das mit der Absicht der Fotografin zusammen, die Zeit mit einer architektonischen Inszenierung zum Verharren zu bringen? Viele ihrer Aufnahmen erinnern an ein gekonntes Versteck-Spiel mit dem Thema Zeit. Ein wenig, als ob sie, die zeitliche Einordnung der Aufnahme, einen ansieht, zuzwinkert, umdreht und sich wieder ein neues Versteck sucht. Sie ist zwar da, aber nicht greif- sondern nur erkennbar. Das symbolisiert in beinahe allen Bildern neben kaputten Möbeln oder einer dahinsiechenden Bausubstanz, vor allem auch der Staub. Er ist nicht nur Namensgeber des Bildbands, sondern auch das Bindeglied zwischen den einzelnen Bildern.

Nikolskaya dient er als ästhetisches Mittel. Er verändert, wie das Licht und so auch die Farben in den Bildern wirken. Das wird vor allem in Räumen deutlich, in die kaum Tageslicht hineinströmt. Sie erscheinen einem leicht gedämpft, teils sogar etwas schummrig. Das ist beabsichtigt. In ihrem Vorwort beschreibt sie ihr Vorhaben auch als Versuch, „(…) das Filmgenre Horror mit Fotografie zu verbinden.“ Viele ihrer Aufnahmen erwecken in einem dadurch das Gefühl, einen Tatort zu besichtigen, beispielsweise im Plate 31 Simon Arzt Department Store, Port Said, 2010.

Das Geländer ist mit roten Plastikfolien verhangen, teilweise sind sie runtergerissen, bei manchen Fenstern fehlen die Scheiben. Der Putz ist blättrig, vergilbt, Stromkabel hängen von der Decke. Dieser offensichtliche Verfall, gezeichnet von einem fast schon schmerzlichen Desinteresse seiner Umgebung, erinnert trotz heller Belichtung, genau aus dieser Mischung aus Verfall und Einsamkeit an den Schauplatz eines Krimifilms. Denn hier kommt niemand zufällig vorbei.

Plate 31 Simon Arzt Department Store, Port Said, 2010. Foto: Xenia Nikolskaya

Viele Fragen bleiben offen

Ihre Bilder dramatisch und durchaus eindringlich zu inszenieren, gelingt Nikolskaya zweifellos. Beim Durchblättern verharrt man immer wieder an einer Fotografie und beginnt sich vorzustellen, wie die Erbauer:innen dort residierten, welch rauschenden Feste sie gaben und welch illustren Gäste sie empfingen. Die Antworten darauf liefert der Bildband nicht. Zwar werden die Häuser kurz vorgestellt, aber diese an Informationen eher mager gehaltenen Texte finden sich ganz hinten im Band. Etwas mehr Inhalt hätte den Leser:innen die Gebäude und ihre Geschichte näher gebracht und so vielleicht auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, die Häuser vor dem (kollektiven) Vergessen zu bewahren. So bleibt man als Betrachter:in in der Schwebe, was genau einem die Fotografin mit dem Bild sagen möchte – außer, dass es einmal ein recht stattliches Anwesen war.

Dieser ungestillte Wissensdurst begleitet einen oft und schmälert die Aussagekraft des Bandes. Zwar ist das Nikolaskayas Weg, die politische und wirtschaftliche Stagnation der Mubarak-Ära abzubilden, aber warum sie sich gerade auf diese Art der Darstellung fokussiert, bleibt schleierhaft. Auch warum sie Stagnation derart a-politisch inszeniert, wo sich – wie die Geschichte zeigte – einiges in Ägyptens Zivilgesellschaft bewegte und immer noch bewegt, bleibt ihr Geheimnis.

Genauso wie eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Faszination für einen leicht kolonial angehauchten Baustil aus einer Zeit, in der ebendieser immer noch Konjunktur hatte. Ganz zu schweigen davon, dass in Dust nur Anwesen der Oberschicht abgedruckt sind, der Titel aber von „Ägyptens verlorener Architektur“ spricht. Was also ist mit den Wohnhäusern von Arbeiter:innen, Künstler:innen, Intellektuellen oder Bediensteten? Sie fehlen. Ebenso mangelt es an einer finalen Zusammenführung der verschiedenen Genres, die Nikolskaya verwendet oder anderweitig anwendet und kombiniert.

Nichtsdestotrotz sind ihre Fotografien eindringlich. Ihr gelingt es, den Glanz und Glamour eines vergangenen Jahrhunderts als Marzipan-Füllung einer Bitterschokolade einzufangen, ohne dabei ihre Bilder allzu süßlich zu inszenieren. Der Bildband Dust. Egypt´s forgotten Architecture ist somit ein wunderbar filigraner Zeitvertreib.

Xenia Nikolskaya: Dust. Egypt´s forgotten Architecture, American University Cairo Press, Cairo, 2022, 160 Seiten, US$ 43,39

 


[1] Cleveland, William L.; Bunton, Martin (2009): A History of the Modern Middle East. S.95.

 

 

Eva Hochreuther studierte Nah- und Mitteloststudien in Mabrug und Migrationswissenschaften in Schweden. Während ihrer Studienjahre verbrachte sie einge Zeit in Kairo, Amman und Beirut.
Redigiert von Claire DT, Hanna Fecht