15.10.2015
Rezension: „Islam in Liberalism“ von Joseph Massad
"The Deeds of the Prince". Acryl und Graffiti auf Leinwand: Gerardo Gomez/Devianart (CC)
"The Deeds of the Prince". Acryl und Graffiti auf Leinwand: Gerardo Gomez/Devianart (CC)

In seinem neuesten Werk untersucht Joseph Massad, wie sich der westliche Liberalismus in Abgrenzung zu einem essentialistisch verstandenen Islam konstruiert. Dabei werden Homophobie, Patriarchat und Despotismus auf den „Anderen“ projiziert und im gleichen Zug aus der eigenen Geschichte gestrichen. Doch auch die Kritik an diesen Denkformen kann selbst in fragwürdige Essentialismen abgleiten, rezensiert Adrian Paukstat.

„Whatever point of origin is chosen for the story of Europe to begin, ,Islam‘ seems to have a foundational role at every turn.“1

Zugegebenermaßen: Neu ist der Gedanke nicht. Spätestens seit Edward Said gehört die Idee, dass der „Orient“ als eine Projektionsfläche der Selbstidentifizierung westlichen Denkens dient, zum Standardrepertoire der „Postcolonial Studies“ und erlangte Einfluss weit über diesen Bereich hinaus. Joseph Massad, Professor für zeitgenössische arabische Politik und Geistesgeschichte an der Columbia University in New York, hat nun Saids Orientalismus-These in seinem neuesten Werk „Islam in Liberalism“ weiter zugespitzt. Während Said die breit angelegte Wechselwirkung zwischen Orient und Okzident untersuchte, wendet sich Massad der Dyade Islam und Liberalismus zu. Kenntnisreich und originell untersucht er dabei die Geschichte einer Selbstkonstituierung des Liberalismus vor dem „Spiegel“ des „Islam“. Schritt für Schritt versucht Massad nachzuweisen, wie die Ausschlüsse des politischen Liberalismus systematisch als Eigenschaften des „Islam“ konstruiert wurden - ist Liberalismus Freiheit, so ist „Islam“ Despotie; ist Liberalismus Toleranz und Gleichberechtigung, so ist „Islam“ Homophobie und Patriarchat. Dabei wird vorsätzlich verdrängt, dass die Geschichte des Liberalismus beileibe kein Shangri-La von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war. Stattdessen werden negative Attribute im Modus der „pathischen Projektion“, wie sie Freud nannte, auf den Islam projiziert, um sich und das eigene politische Selbstverständnis so als „aufgeklärt“ absetzen zu können. Massads Fazit erscheint insbesondere in Bezug auf die Arbeit westlicher, auf die Rechte von Frauen und Homosexuellen bezogener NGOs vernichtend: Vom Impuls getragen, subalterne Frauen zu „retten“, reproduziere die NGO-Industrie eben jene Dichotomien eines zurückgeblieben und vormodernen „Orients“ und „Islams“, gegenüber denen dann der westliche Liberalismus als umso strahlenderes Beispiel für Gleichheit und Menschenrechte erscheinen solle. Doch in Wirklichkeit diene die NGO-Industrie – vor allem im Nahen Osten und der islamischen Welt – in erster Linie den Interessen eines globalen, primär US-amerikanischen Imperialismus. Und weil dessen zentrales Anliegen nicht Menschenrechte, sondern politische Dominanz sei, gehöre dazu auch, dass sich dieser Imperialismus eine Welt nach seinen Werten schafft. Von Juden und Semiten Im abschließenden Kapitel wendet sich Massad den Ein- und Ausschlüssen orientalistischer Diskurse zu. Dabei untersucht er die Wechselwirkungen des einschließenden Begriffes der „abrahamitischen Religionen“ und des ausschließenden Prinzips „Semitismus“. Während der Begriff der „abrahamitischen Religionen“ Juden, Christen und Moslems als wesensgleich begreift, haben kolonialistische Ideologien und Rassenlehren dagegen bereits im 19. Jahrhundert „Semiten“ – also explizit Juden und Moslems – ausgegrenzt. Diese beiden Begriffe seien jedoch, nach Massad, nicht als Widersprüche zu betrachten: Der Begriff „Semit“ zeigt die Trennlinie eines weißen Selbstverständnisses gegenüber Moslems und Juden an und implementiert so den rassistischen Ausschluss – und die durch den Ausschluss konstituierten Macht- und Unterdrückungsverhältnisse werden gleichzeitig durch den Begriff der „abrahamitischen Religionen“ verdeckt, der komplementär als Ideologie fungiert. Im Zionismus sieht Massad diese Logik durchkonzeptionalisiert. Der „Semit“ erscheint dabei als „Zionist“. Im Streben nach einem Nationalstaat europäischer Provenienz wird die semitische Identität verleugnet und indes den Weg des Orientalismus begangen: Aus den „semitischen“ Juden, so Massads These, wurden weiße Europäer. Die Palästinenser mussten in diesem Kontext zu „Orientalen“ werden, während der gleichzeitige Bezug auf Juden und Moslems als Teil der abrahamitischen Religion die offenbaren Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zwischen beiden verschleiert. Massads Diskussion des so betitelten „Semitismus“ scheint jedoch ihrerseits von zentralen und teilweise höchst fragwürdigen ideologischen Ausschlüssen geprägt. Zwar verweist Massads durchaus quellengesättigt auf orientalistische Diskurse, die Juden und Moslems als den „Anderen“ der weißen Europäer identifizieren. Doch stellt dies eben nur einen Teilaspekt dar. Dass der Holocaust kaum eine Rolle in Massads Konzepten spielt, ist hierbei kein Zufall. Der eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten betrieb nämlich nicht die Vernichtung der „Semiten“, sondern der Juden. In diesem Kontext scheinen einige der Ausführungen Massads daher gefährlich nahe an jenen Abwehrideologien, die stets darauf hinauslaufen, den „Juden“ selbst zum Nazi zu machen. Dabei ist die These, dass sich der Zionismus im Zuge seiner Entstehung ein westlich-kolonialistisches und stellenweise offen antisemitisches Selbstverständnis angeeignet hat, an sich keineswegs falsch. So schrieb beispielsweise der frühzionistische Denker Nathan Birnbaum:

„Es gab eine Zeit, wo ich dem Judenhaß mit einem gewissen Wohlwollen gegenüberstand. [Denn] es sind doch auch nur die stammelnden Ausdrücke der sehr richtigen Empfindung, daß zwischen Juden und Nichtjuden eine unüberbrückbare Kluft gähnt [...].“2

Bei Massad erscheint dagegen insbesondere die Tendenz problematisch, dieser Selbstidentifizierung des zionistischen Judentums die „eigentliche „Identität“ des Judentums gegenüberzustellen. So verfällt Massad nämlich selbst wieder in einen reduktionistischen Essentialismus – die „wahre“ Identität des Juden, so insinuiert er dabei, sei der „Semit“, nicht der weiße Europäer. Welcher Liberalismus? Auf diese Weise subsumiert Massad die gesamte westliche Geistesgeschichte unter die Dichotomie: „Liberalismus – Islam“. Dabei ist auch der Begriff „Liberalismus“ mehr als ungenügend definiert. Es entsteht zwar die vage Ahnung, Massad meine damit so etwas wie westlich/aufklärerisch/modern verfasste Konzeptionen von Staatlichkeit und Gesellschaft schlechthin. Doch macht er dieses Verständnis weder irgendwo explizit noch problematisiert er es ausreichend. Lediglich aus einigen positiven Bezügen auf Rousseau ist herauszulesen, dass Massad offensichtlich die klassische Zweiteilung politischer Theorie in „Republikanismus“ und „Liberalismus“ in seiner Begriffsdefinition vor Augen hat. Doch nichtsdestotrotz erscheint Massads Analyse daher als drastischer Reduktionismus:

„,Islam in Liberalism‘ seeks to understand how Islam became so central to liberalism as ideology and as identity, indeed how liberalism as the antithesis of Islam became one of the key components of the very discourse through which Europe as a modern identity was conjured up.“3

Es ist hinlänglich bekannt, dass die moderne Staats- und Gesellschaftstheorie sich seit jeher von einem konstitutivem Negativum her versteht. Aber die Behauptung, dass der „Islam“ diese Position in so umfassenden Sinne einnimmt, wie Massad andeutet, ist nicht plausibel. Der „Islam“ dient in gegenwärtigen Diskursen sicherlich oft als Negativfolie. Doch gilt dies nicht automatisch für die gesamte Genese des politischen Liberalismus. Denn der „Islam“ war weder für John Locke, noch John Stuart Mill, noch Charles-Louis de Montesquieu ein zentraler Referenzpunkt der eigenen politischen Theorie. Es ist bezeichnend, dass Massad diese Denker nur sehr dosiert behandelt, obwohl sie die zentralen Ideengeber des politischen Liberalismus darstellen. Was Massad hierbei vergisst, bzw. übergeht, ist die Tatsache, dass jene Denker zu ihrer Zeit selbst Verfolgte waren. Sie können daher keineswegs als Ideologen einer hegemonialen politischen Ordnung gelten. Ihr politisches Abgrenzungsbedürfnis galt demnach weit weniger den Subalternen, als vielmehr den Mächtigen. Der „Andere“, gegen den beispielsweise Locke in seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ anschreibt, ist in erster Linie der von der Ideologie des Gottesgnadentums getragene Absolutismus.4 Dass die Vordenker des Liberalismus im „orientalischen Despotismus“ eine Analogie zu den Verhältnissen sahen, die sie selbst bekämpften, ist sicher richtig. Dass sie ihre eigene Situation aber konstitutiv vom den politischen Verhältnissen im osmanischen Reich her begriffen hätten, ist dagegen wissenschaftlich nicht haltbar. Herrschaft nur als Fremdherrschaft So hellsichtig Massads Kritik an den orientalistischen Aspekten der heutigen NGO-Industrie erscheint, werden auch hier alle Sachverhalte dem eigenen binären Denken untergeordnet. Massad begreift demnach die Position der NGO-Industrie im System globaler Hegemonie ausschließlich kulturalistisch; inwiefern westliche NGOs vor allem ökonomische Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse produzieren und reproduzieren, untersucht er dagegen nicht.5 Massad verurteilt daher stets die von den NGOs betriebene Propagierung „westlicher“ Konzepte von Sexualität. Doch dabei bleibt durchweg unklar, ob er einen radikalen Kulturrelativismus predigt, oder doch noch Formen internationaler Solidarität mit Opfern von Sexismus und Homophobie in der islamischen Welt für möglich hält. Massad betont zwar, dass die Kritik an den real existierenden Strukturen dieser Solidarität keineswegs eine Absage an jede Form von gegenseitiger Unterstützung darstellt. An anderer Stelle bringt er jedoch ebenso unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich diese Formen politischen Aktivismus niemals wirklich von den Strukturen des globalen, westlichen Dominanzdenkens ablösen können:

„Given the very international imperial power structures (which are not reducible to the human subjects formed by them taking ,responsibility‘) within whose circuits such interventions are always launched, they can never escape their ,save and rescue‘ mission at all.“6

Im Hinblick auf die mutmaßliche Totalität imperialistischer Herrschaft bleibt letztlich der Eindruck, dass Massad jeden Versuch transnationaler Solidarität als immer schon imperialistisch korrumpiert betrachtet. Dies mündet schließlich in ein politisches Denken, dass als einzigen wesentlichen Widerspruch nur noch die Achse Imperialismus – Anti-imperialismus gelten lässt. In diesem Denken verengt sich Herrschaftskritik als oberstes Prinzip linker Gesellschaftstheorie zu einer Ideologie, der die Fremd-herrschaft als Herrschaft schlechthin gilt. Für solches Denken, das alle Dialektik gesellschaftlicher Vermittlung ignoriert, erscheint dann das Befreiungsversprechen der Aufklärung notwendigerweise als bloße Lüge und imperialistischer Trug. Doch ohne die Ideengeschichte des von Massad so verachteten Liberalismus wäre er letztlich selbst gar nicht in der Lage, Befreiung überhaupt nur zu denken. Darin liegt die Ironie von Massads bilderstürmerischem Rundumschlag - als ob sie von einem weißen, heterosexuellen, mitteleuropäischen Mann geschrieben wurde. -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------  1: Massad, Joseph: Islam in Liberalism. Chicago 2015: S. 15.  2: Birnbaum, Nathan, Einige Gedanken über den Antisemitismus. In: Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage. Band 1, Czernowitz 1910, S.154. Dies soll hier nur als ein Beispiel unter vielen dienen. Strukturell ähnliche Aussagen lassen sich von Nathan Birnbaum, über Theodor Herzl, Nahman Syrkin, Leo Pinsker, Chaim Arlosoroff, Moses Hess bis hin zu Ben Gurion finden. Vgl. hierzu auch: Rubinshtain, Amnon, Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herzl bis heute, München 2001.  3: Massad: S. 11.  4: Keineswegs soll hierbei unterschlagen werden, dass der Liberalismus als Theorie des „Besitzindividualismus“ die nichtbesitzenden Klassen systematisch von den Bürgerrechten ausschloss. Auch in dieser Abgrenzungsbewegung „nach unten“ spielte der „Islam“ jedoch keine Rolle. (vgl. Macpherson, C.B.: The Political Theory of Possessive Individualism: Hobbes to Locke. Oxford 1962.).  5: Hier lohnt sich ein Blick in die hervorragende Studie von Helmut Krieger, der sich mit genau diesem Thema befasst hat: Krieger, Helmut: Umkämpfte Staatlichkeit: Palästina zwischen Besatzung, Entwicklung und politischem Islam. Wiesbaden 2015.  6: Massad: S. 176.   klicken_mitglied_werden

Adrian hat Anglistik, Geschichte und Konfliktforschung in Augsburg studiert. Von 2012 bis 2014 war er mehrmals in Israel/Palästina 2012-2014 und studierte Hebräisch in Jerusalem. Sein Regionalschwerpunkt liegt auf Bilad ash-Sham im Allgemeinen und Israel/Palästina im Speziellen. Seit 2017 ist Adrian bei dis:orient und dort vor allem im...