19.02.2024
„Erinnern ist politisch“ – zwei Hinterbliebene über das Hanau-Attentat
Am Platz der alten Synagoge in Freiburg wurde mit einem Banner den Opfern des rassistischen Attentats in Hanau am 19. Februar 2020 gedacht. Foto: Wikimedia
Am Platz der alten Synagoge in Freiburg wurde mit einem Banner den Opfern des rassistischen Attentats in Hanau am 19. Februar 2020 gedacht. Foto: Wikimedia

Beim schlimmsten rechtsextremen Terroranschlag seit der Wiedervereinigung tötete am 19. Februar 2020 ein Rassist in Hanau neun Menschen mit Migrationsbezug, anschließend seine Mutter und sich selbst. Zwei Bücher stellen nun die Betroffenen in den Mittelpunkt. Verfasst haben sie zwei Hinterbliebene: Çetin Gültekin, der Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin, sowie Said Etris Hashemi, der den Anschlag selbst überlebte, aber seinen Bruder Said Nesar Hashemi verlor.

 

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Çetin Gültekin: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland 

Beim rechtsextremen Terroranschlag von Hanau verlor Çetin Gültekin seinen Bruder Gökhan Gültekin. Vier Jahre später schreibt er ein Buch – über das kurze Leben seines Bruders, das Behördenversagen in der Tatnacht und den Kampf gegen Rassismus. Gemeinsam mit Mutlu Koçak erzählt der 50-jährige Hanauer in „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“ die Geschichte, vielmehr die Realität, seines jüngeren Bruders Gökhan. Das Buch ist ein Mahnmal – eine bewegende Geschichte, ein lauter Schrei nach Gerechtigkeit und ein Weckruf an die Gesellschaft. 

Auf 304 Seiten stellt sich Gültekin die großen Fragen, etwa zur Kette des Versagens in der Tatnacht, aber auch persönliche, zum abstrakten Begriff Heimat, und wie sich diese durch Außeneinwirkung verändern kann. „Was wäre, wenn meine Eltern nicht in Armut in der Türkei gelebt hätten und somit nie nach Deutschland gekommen wären?“, fragt Gültekin. Sie führt ihn direkt zum rassistischen Anschlag am 19. Februar 2020. Denn: Unter diesen Umständen wäre sein Bruder wahrscheinlich nicht von einem Rassisten getötet worden. Das Buch zeigt immer wieder, wie bedroht die Lebensrealitäten von Menschen mit Migrationsbezug sind – und dass die Fragen nach Identität, Zugehörigkeit und Herkunft häufig mit Schmerz beantwortet werden. 

Gültekin erzählt von seinem Vater, der 1969 nach Deutschland gekommen war. Die Hoffnungen seiner Eltern seien groß gewesen, wie bei einigen der sogenannten Gastarbeiter. Sie glaubten, in Hanau eine Heimat für ihre Söhne gefunden zu haben. Gültekin selbst nennt sich einen „echten Hanauer Bub“ – obwohl er wenige Seiten später von den etlichen rassistischen Erfahrungen berichtet, die er und seine Familie bis heute erleben. In jeder Straße Hanaus habe er Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Nach dem rassistischen Anschlag hasse er diese Stadt. Den Namen des Täters erwähnt er in keiner Zeile.  Er bleibt der „Rassist mit den kalten Augen“, der seinem Bruder mit zwei Schüssen das Leben nahm. 

„Der Terroranschlag war das schlimmste und auch das letzte Ereignis in Gökhans Leben"

Gökhan sei das Licht der Familie gewesen, schreibt Gültekin. Nach seiner Geburt sei seine Mutter voller Lebensfreude aus dem Krankenhaus zurückgekommen, er habe ihr die Depressionen genommen. Übersetzt bedeutet der Name Gökhan „Himmelsherrscher“ – diesem Namen werde sein kleiner Bruder nun gerecht, er sei aber auch zu Lebzeiten ein Engel auf Erden gewesen. Kritisch reflektiert der Autor auch seine Rolle als „Abi“ (Türkisch für „großer Bruder“). Mit ehrlichen Worten gesteht er, in den entscheidenden Momenten nicht für seinen acht Jahre jüngeren Bruder da gewesen zu sein. Dieser war zuvor offenbar zweimal knapp dem Tod entkommen, hatte einen Gefängnisaufenthalt und jede Menge Schwierigkeiten hinter sich. Der Terroranschlag in Hanau sei das schlimmste und letzte Ereignis in Gökhans kurzem Leben gewesen. 

Die große Stärke des Buches liegt darin, dass Gültekin nicht nur als Erzähler agiert, sondern als Bruder des Anschlagsopfers eindringlich das Behördenversagen bei dem rassistischen Anschlag schildert: In der Tatnacht funktionierte der Notruf nicht, zudem war der Notausgang verschlossen. Spätere Recherchen ergaben, dass alle in der Arena-Bar hätten überleben können, wäre der Notausgang offen gewesen. Gültekin erzählt, wie es sich anfühlt, seinen Bruder nach dessen Tod nicht mehr sehen zu dürfen, weil die Polizei es versäumt hat, die Telefonnummern an den Gerichtsmediziner zu geben. Und wie bitter es ist, vier Jahre für lückenlose Aufklärung zu kämpfen, um letztlich einen Innenminister die Polizeiarbeit in der Tatnacht als „exzellent“ loben zu hören. 

Mit seinem Buch möchte Gültekin die Geschichte seines Bruders unsterblich machen. „Und selbst wenn ich irgendwann sterbe, wird Gökhans Geschichte niemals sterben“, sagt Gültekin in einem persönlichen Gespräch. 

Çetin Gültekin, Mutlu Koçak: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland. Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau. Heyne, München 2024. 304 Seiten, 16 Euro.

 

Said Etris Hashemi: Der Tag, an dem ich sterben sollte

„Es ist doch nur irgendein normaler Mittwoch! Warum besteht die Welt plötzlich nur noch aus Getöse, Blei und meinem Herzklopfen?“ Dieser Satz steht ziemlich in der Mitte von Said Etris Hashemis Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“, als er den Anschlag in der Arena Bar in Hanau-Kesselstadt beschreibt, dem letzten Schauplatz des Attentats vom 19. Februar 2020. Der rassistische Täter zielt auch nach Hashemi und trifft ihn in Hals und Schulter. Und der Satz steht auch im übertragenen Sinn im Zentrum des Buchs. Es ist dieser Terror, der Hashemi – „ein ganz normaler Junge vom Block in Kesselstadt“ – unfreiwillig verändert und ihn schließlich zum politischen Aktivisten macht.

Es ist ein inhaltlich, thematisch und sprachlich reiches Buch, das Hashemi mit der Journalistin Nina Sternburg verfasst hat. Natürlich geht es um den Anschlag, durch den der damals 23 Jahre alte Hashemi nicht nur zum Überlebenden wird, sondern auch zum Angehörigen – sein Bruder Nesar stirbt in der Arena Bar, ebenso wie Freunde von ihm. 

Vor allem aber geht es um Deutschland, in vielen Facetten: Hashemi erzählt vom Aufwachsen in Kesselstadt, wo jeder Block „eine eigene kleine Arche Noah“ war, „die alle möglichen Nationen beherbergte“ – was aber kein Problem darstellte. „Das Problem war unsere Armut.“ Hashemi beschreibt sein Leben als Kind afghanischer Einwanderer, er erzählt von Diskriminierungserfahrungen und konstatiert: „Irgendwie haben wir (Migrantenkinder) ja alle einen Knacks.“ Und gerade, als er eine berufliche Perspektive in der Versicherungs- und Investmentbranche entwickelt und seine „Zukunft bereits mit den Fassaden der Mainhattan-Skyline um die Wette glänzen“ sieht, kommt der Anschlag. 

„Ich check das einfach nicht, wie der Typ unterm Radar durchfliegen konnte"

Ein Schwerpunkt liegt bei dessen Aufarbeitung, vonseiten der Polizei, der Politik und der Zivilgesellschaft – und seiner ganz persönlichen. Den roten Faden bildet der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags, den Hashemi mit einigen anderen durchgesetzt hat. Er stellt sich vor, wie das wohl sein ermordeter Bruder Nesar kommentieren würde, und vergleicht das Gesagte mit seinen Erfahrungen. Das liest sich sehr spannend, was auch an der direkten Sprache liegt. So heißt es etwa über den späteren Attentäter: „Ich check das einfach nicht, wie irgendwelche Öko-Kids, die sich für das Klima einsetzen, in Präventivhaft genommen werden können, aber der Typ unterm Radar durchfliegen konnte. Monatelang. Eigentlich jahrelang.“

Momente, in denen man auch als Leser:in häufig nur mit dem Kopf schütteln kann, gibt es viele. Etwa, als Hashemi mit blutender Halswunde nach dem Anschlag auf der Straße sitzt und der Polizist als erstes nach seinem Ausweis fragt. Oder als er Tage nach dem Anschlag über das Radio im Krankenhaus aus dem Mund des Bundespräsidenten vom Tod seines Bruders erfährt. Eigentlich wollte Hashemi nach dem Anschlag „im Nebel der Zeit verschwimmen wie eine alte Fotografie“, schreibt er. Dann engagierte er sich doch in der Aufarbeitung und Aufklärung: „(..) je gesünder ich körperlich wurde und je mehr ich mitbekam, wie die Polizei und die Staatsanwaltschaft die Aufarbeitung des Anschlags verkackten, indem sie beispielsweise die Ermittlungen wegen der Notausgangstür frühzeitig einstellten oder den Tätervater mit mehr Schutz bedachten als uns, desto mehr wuchs in mir der Wunsch, aktiv zu werden.“  Und es ging auch um etwas Größeres: „Ich wollte etwas verändern, etwas schaffen, das den Leuten in diesem Land tatsächlich half.“

Der Untersuchungsausschuss, in den Hashemi und seine Mitstreiter:innen so viele Hoffnungen gesetzt hatten, konnte zwar nicht wie erhofft etwas an den Verhältnissen ändern. Doch Hashemi engagiert sich weiter. Denn – und das gilt vielleicht nicht nur am 19. Februar: „Erinnerung ist wichtig, um Veränderung zu forcieren. (…) Erinnern ist auch politisch.“

Said Etris Hashemi: Der Tag, an dem ich sterben sollte. Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat. Hoffmann und Campe, 2024. 224 Seiten, 23 Euro.

 

Wir gedenken Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren. Sedat Gürbüz, ermordet mit 29 Jahren. Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren. Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren. Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren. Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren. Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren. Ferhat Unvar, ermordet mit 23 Jahren und Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

 

 

 

 

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...
Yasemin hat Amerikanistik und Ethnologie an der Goethe Universität in Frankfurt studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin für das Jugendportal des deutschen Bundestags und absolviert aktuell ein Volontariat bei der Rheinischen Post. Sie beschäftigt sich vor allem mit Migration und Perspektiven in der postmigrantischen Gesellschaft.
Redigiert von Hanna Fecht