02.04.2021
Runter mit den Scheuklappen!
Bereits das vierte Mal innerhalb von zwei Jahren war die israelische Bevölkerung im März 2021 aufgerufen, ihr Kreuz für die Parlamentswahl zu setzen. Illustration: Kat Dems
Bereits das vierte Mal innerhalb von zwei Jahren war die israelische Bevölkerung im März 2021 aufgerufen, ihr Kreuz für die Parlamentswahl zu setzen. Illustration: Kat Dems

 Israel hat gewählt. Sechs Parlamentssitze gehen an ein Bündnis aus rechtsextremen Parteien. Das ist verheerend, aber nicht überraschend, findet Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Vor Beginn der Corona-Pandemie war ich oft in Hebron und niemals gerne. Hebron ist die größte palästinensische Stadt und die einzige, in der israelische Siedlungen innerhalb des Stadtgebiets liegen. Etwa 650 Soldat:innen der Israeli Defense Forces sollen hier 850 Menschen schützen den radikalen Kern der jüdischen Siedlerbewegung.

Hebron gilt im Judentum als heilig, in der politischen Realität ist die Stadt aber ein Labyrinth aus Checkpoints, Graffitis mit Hassbotschaften und palästinensischen Kindern, die den wenigen Tourist:innen in der Stadt Schlüsselanhänger mit Landkarten in Palästina-Farben aufdrängen. Israelische Flaggen, hebräische Straßenschilder und Soldat:innen an jeder Ecke erinnern daran, wer das Sagen hat. Einige palästinensische Familien haben ihre Fenster vergittert als Schutz vor den Steinwürfen israelischer Siedler:innen. Jeden Moment kann es hier eskalieren.

In Hebron liegt das Grab der Patriarchen. Von jüdischen wie muslimischen Gläubigen gleichermaßen als heilige Stätte verehrt, wird der Ort sowohl als Synagoge, wie auch als Moschee genutzt. Obwohl die räumliche Nähe eigentlich als Verweis auf Gemeinsamkeiten gelesen werden könnte, bleibt das friedliche Miteinander aus. 1994 erschoss dort Baruch Goldstein, ein fanatischer jüdischer Arzt, 29 Palästinenser beim Gebet. Spätestens das Massaker verwandelte die Stadt in ein Schlachtfeld für religiösen Extremismus. Obwohl nur die wenigsten Israelis jemals einen Fuß in die Stadt gesetzt haben, ist sie ein Mikrokosmos für Grundsatzfragen. Daran erinnerten die Parlamentswahlen vergangene Woche.

Das Porträt eines Massenmörders im Wohnzimmer

In Hebron lebt Itamar Ben-Gvir mit seiner Familie. Der Rechtsanwalt und Politiker ist Dritter auf der Liste des neu geformten rechtsextremen und homophoben Bündnisses Religiöser Zionismus, das bei den jüngsten Wahlen sechs Parlamentssitze erlangte. Das ist ein historischer Erdrutschsieg, denn zuletzt hatte eine rechtsextreme Partei 1984 einen Sitz in der Knesset.

Bis vor kurzem hatte Ben-Gvir ein Porträt des Mörders Goldstein in seinem Wohnzimmer hängen. Um seine Aussichten bei den Knesset-Wahlen nicht zu gefährden und potenzielle Koalitionspartner:innen von sich zu überzeugen, verkündete er nun, er habe das Bild abgenommen. Der Ideologie, die das Bild symbolisiert, hat Ben-Gvir sich aber seit drei Jahrzehnten verschrieben: dem Kahanismus.

Der Kahanismus vermischt Ultranationalismus, religiösen Fundamentalismus und Rassismus mit einer offenen Rechtfertigung von Gewalt. Nach eigenen Aussagen wurde Ben-Gvir zum ersten Mal als 14-Jähriger verhaftet, seitdem kamen 53 Anklageschriften gegen ihn hinzu. Berüchtigt ist er unter anderem für rassistisch motivierte Krawalle, für seine Forderung nach einer Zwangsumsiedlung aller „illoyalen“ palästinensischen Bürger:innen und als Strafverteidiger von Aktivist:innen, die wegen antiarabischer Hasskriminalität und Terrorismus angeklagt waren.

Demokratien sterben nicht über Nacht

Ich wünschte, Ben-Gvirs Erfolg wäre ein Ausnahmefall – ein Problemkind, das es durch eine Reihe unglücklicher Zufälle ins Parlament geschafft hat und jetzt einen Ministerposten anstrebt. Aber so einfach ist es nicht. Rechtes Gedankengut und die Diffamierung von progressiven Stimmen haben in den vergangenen Jahren zunehmend an Legitimität im politischen Mainstream gewonnen. Demokratien sterben nicht über Nacht.

Die Liste antidemokratischer Gesetzesvorlagen, die im vergangenen Jahrzehnt im Parlament diskutiert oder verabschiedet wurden, ist lang. 1988 wurden Kahanist:innen aufgrund ihrer radikalen Positionen nicht zu den Knesset-Wahlen zugelassen und nach dem Goldstein-Massaker sogar zu einer terroristischen Vereinigung erklärt. Wie kommt es dann, dass der jüdische Extremismus über 25 Jahre später wieder Sympathien im Land erlangen konnte?

Rückkehr in den rechten Mainstream

Der Aufstieg des Kahanismus ist auch dem Aufbau einer erfolgreichen organisatorischen Infrastruktur zu verdanken, die sich aus dem politischen Verbot in den 1990er-Jahren ergab. Ein loses Netzwerk von Verbänden, NGOs und Graswurzelbewegungen erlaubte, kahanistische Weltanschauungen unter dem Deckmantel gemeinnütziger Vereine und religiöser Bildung weiterzuverbreiten.

Die Unüberschaubarkeit der zahlreichen Organisationen, der Mangel an staatlichen Kontrollen sowie eine erfolgreiche Mobilisierung für Spenden führte zu einer allmählichen Ausweitung der gesellschaftlichen Kreise, die Kahanist:innen erreichen konnten. Oft wurde dieses Netzwerk von einer engen Zusammenarbeit mit Unterstützer:innen in politischen Schlüsselpositionen begleitet.

Maßgeblich für die Normalisierung von rechten Parolen ist auch die antiarabische Hetzkampagne des Premiers Netanyahu, der seit 2009 regiert und freundschaftliche Beziehungen mit Siedler:innen pflegt. Seine erfolgreichen Bemühungen um einen Zusammenschluss der kahanistischen Partei mit anderen rechten Parteien bei den Wahlen im April 2019, mit denen er für potenzielle Koalitionen flirtete, besiegelten die Rückkehr des Kahanismus in den rechten Mainstream.

Zwischen Schweigen und Sympathie

Kurz nach den Wahlen letzte Woche schrieb Breaking the Silence, eine israelische Organisation von Soldat:innen, die in den besetzten palästinensischen Gebieten dienten, treffend auf Facebook: „Die politische Legitimität der Kahanist:innen begann, lange bevor Netanjahu sich Rechtsextremen zuwandte. Sie begann, als eine Regierung nach der anderen den Forderungen von Kahanist:innen in Hebron und in den palästinensischen Gebieten schweigend oder mit Sympathie nachgab“.

Die Organisation warnt, Hebron sei nicht nur eine Siedlung, sondern ein Modell für ein kahanistisches Israel, ein Prototyp für eine jüdische Siedlung im Herzen einer arabischen Stadt mit Straßen und Gesetzen nur für Jüdinnen und Juden, die bis an die Zähne bewaffnet und gewalttätig seien. Breaking the Silence sind in der israelischen Öffentlichkeit nicht besonders beliebt, denn sie halten dem Land einen Spiegel vor, in den nur wenige zu schauen bereit sind. Rassismus wird gerne ausgeblendet oder verharmlost.

Israelis sind stolz auf ihre Demokratie. Wenn aber von 120 Parlamentssitzen 70 an das rechte Lager und sechs an die extreme Rechte gehen was sagt das über den Zustand dieser Demokratie aus? Der Kahanismus ist kein unvorhersehbares Randphänomen, sondern die logische Konsequenz einer Politik und Zivilgesellschaft, die jahrzehntelang wegschauten oder mit ihrem Schweigen implizit die strukturelle Gewalt der Besatzung palästinensischer Gebiete legitimierten. Dieses Schweigen hat rechtsextremes Gedankengut in breiten Teilen der israelischen Gesellschaft anschlussfähig gemacht.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther