09.08.2019
Schaffen jenseits kollektiver Allegorien

Früher glaubte unsere Kolumnistin, dass ihre Geschichte unterschiedlos die Geschichte all jener sei, die so aussahen, sprachen und vermeintlich beteten wie sie. Heute weiß Moshtari Hilal: Das Problem heißt „Selbstorientalisierung“. Und nun?

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

Ich war an der Universität Bamberg zu Gast, um über meine künstlerische Praxis zu sprechen. In der Vorbereitung des Workshops „Orientalisierung, Selbstorientalisierung und Dekonstruktion“ fand ich mich in einer unbehaglichen Situation wieder. Lange Zeit hatte ich meine jahrelange Ausbildung als kritische Islamwissenschaftlerin und meine freie Arbeit als Künstlerin neurotisch zu trennen versucht. Nun trafen beide Bereiche plötzlich aufeinander.

Das Bamberger Institut für Orientalistik kündigte den Workshop als Raum an, um sich damit zu befassen „wie sich in Europa Orientalismus in Politik, Kultur und der Wissenschaftsproduktion manifestierte“. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf der Untersuchung „politische[r] Akteure, Intellektuelle[r] und KünstlerInnen im Nahen und Mittleren Osten in Geschichte und Gegenwart“.

Ich begann über mein künstlerisches Schaffen zu sprechen, wie von einer gründlich durchgeführten Feldforschung – mir entging die Ironie nicht. Ich war nun Analysierende und Analysierte zugleich, Orientalistin und Orientalisierte.

Selbstorientalisierung

Für meinen Beitrag „Schaffen jenseits kollektiver Allegorien“ zwang ich mich, meine jahrelang verdrängten frühen Werke erneut zu betrachten. Wie ich diese unbeholfenen Zeichnungen ansah, wurde mir bewusst, dass mein Vortrag mit der Selbstorientalisierung beginnen würde. Meine Zeichnungen bildeten alle zu erwartenden Orientalismen der visuellen Kultur ab. So waren etwa verschleierte und geschmückte Körper zu sehen, die vermutlich von kolonialen Studio-Fotografien wie jenen in Malek Alloulas kritischer Analyse „Le harem colonial: images d'un sous-érotism” (Haremsphantasien: Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit, 1981) inspiriert waren.

 Moshtari Hilal

Entweder waren die weiblich konnotierten Wesen gesichtslos oder starrten lasziv und mit halb verdecktem Gesicht zurück. In einem der Bilder verfolgt eine schwarze flüssige Gestalt, die einem Tschador aus Erdöl gleicht, eine junge Frau in Hosen und mit kurzem Haar. Mir ist heute schmerzhaft bewusst, wie ich unreflektiert mit den Symbolen eines kolonialen Orientalismus, aber auch eines islamkritischen Säkularismus arbeitete und so unter anderem die visuelle Sprache von Exil-Iranerinnen wie Marjane Satrapi (Bild 1) oder Shirin Neshat (Bild 2) übernahm.

 Marjane Satrapi

Dabei hatte ich weder die Erfahrung dieser Künstlerinnen, die aufgrund der repressiven Politik des islamischen Regimes in Iran ihre Heimat verlassen mussten, noch hatte der schwarze Schleier irgendeine Rolle in meinem Leben gespielt oder mich anders tangiert. Tatsächlich hat es niemals in meinem Leben eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Schleier gegeben. Niemand hat mich jemals gebeten den Hijab zu tragen, ausgenommen von Moschee-Besuchen und Auslandsaufenthalten, die jedoch nur kurzfristig und unverbindlich waren.

Woher kam also meine eigenartige Obsession mit dieser Symbolik? Und warum glaubte ich, dass diese sehr kontextbedingte visuelle Sprache zweier Dissidentinnen die meine sein könnte? Satrapi und Neshat nutzten diese Sprache zu Beginn der 2000er Jahre mit Referenzen zum Iran-Irak-Krieg der 1980er-Jahre und der Militarisierung der iranischen Gesellschaft. Von diesen Themen verstand ich kaum etwas.

 Shirin Neshat

Auf beide Fragen kann ich rückblickend ein Schlagwort als Selbstdiagnose anführen: Selbstorientalisierung. Nicht nur glaubte ich, dass meine Geschichte unterschiedslos die Geschichte all jener sei, die aussahen, sprachen oder vermeintlich beteten wie ich. Auch übernahm ich unreflektiert all die Ängste und Sorgen derer, die den Islam seit Kolonialzeiten und – in neuer Auflage – seit 9/11 in Medien und Büchern definierten.

Die Versuchung ist groß, Themen zu bearbeiten, die einem regelrecht von außen zugeteilt werden: „Hier, das ist dein Problem, deine Bürde, das sind deine Leute – beschäftige dich damit.“ Die Partikularität dieser Rollen und Räume – islamische Kunst, Exilliteratur, postmigrantisches Theater, Fluchtperspektiven oder noch exzentrischer: „erste afghanische Graffiti-Künstlerin” – ist so ausgrenzend wie voyeuristisch.

Sie können damit zum Durchbruch und Fluch werden. Im besten Fall führen sie zur kritischen Auseinandersetzung und damit zu noch besseren Arbeiten und öffentlichen Diskursen. Im schlimmsten Fall münden solche Karrieren in Karikaturen wie Shirin Neshat sie geworden ist – im wahrsten Sinne des Wortes in der Öffentlichkeitsökonomie der frühen 2000er hängen geblieben. Zugegebenermaßen sind solche Künstler*innen einflussreich, aber was sind die Parameter ihres Erfolgs und ihrer Wirkung?

Gefangen in der Allegorie?

Der US-amerikanische Literaturkritiker Fredric Jameson behauptete 1986, dass Literatur aus der „Dritten Welt“ grundsätzlich allegorisch für das Kollektive sei. Damit degradierte er alles Schaffen der nicht-westlichen und nicht-industriellen Welt als vorerst ethnologisch und politisch relevant, während westliche Kulturproduktion seit der Postmoderne primär an ästhetischen Kriterien gemessen werde.

Wenngleich diese Allegorien-These kaum mehr vertreten wird, ist die Idee des nicht-weißen, nicht-normativen Körpers und Geistes als Vermittlerin für eine vermeintliche Gruppe weiterhin fest in der Praxis von Kritiker*innen, Kurator*innen, Akademiker*innen und Journalist*innen verankert.

Jede Ausstellung, die mit einem Arab, Muslim oder Female beginnt, meint insgeheim oder auch offen, jene Gruppe durch die ausgestellten Arbeiten zu erklären oder zu verstehen. Diese Art des Kuratierens ist üblicher, wenn es sich um die Werke von Künstler*innen aus dem Globalen Süden oder von Minderheiten handelt. Über diesen Tokenismus hinaus benennt der Literaturtheoretiker Aijaz Ahmad die Praxis der selektiven Einbeziehung nicht-westlicher Kulturschaffende sowie die aktive Missachtung heterogener Perspektiven als symptomatischen Prozess des allegorischen Blickes im internationalen Kanon.

So etwa auch das überproportional große Interesse an weiblichen und muslimischen Perspektiven zur Sexualität in der zeitgenössischen Kunst und Literatur. Jene Schnittstelle gilt als provokant und daher relevanter als etwa weibliche Perspektiven, die sich kritisch gegenüber sexueller Freizügigkeit positionieren.

Künstlerische Arbeiten, die eine im internationalen Kanon marginalisierte Perspektive abbilden, werden immer in Relation mit der damit zusammenhängenden Öffentlichkeitsökonomie rezipiert – also als die alternative Perspektive zur Norm. Vermeidet eine Künstlerin jede Assoziation mit ihrer vermeintlichen Minderheitenidentität und etabliert so ihr Schaffen penibel um die Allegorie herum, meidet selbst eine öffentliche Aussage zu jener Gruppe, dann übt sie praktisch Selbstzensur. Tut sie dies nicht, tappt sie in die Allegorie-Falle. Ich wollte weder in der Allegorie gefangen sein noch mein Selbst zensieren.

Jenseits der Allegorie

Das „Schaffen jenseits kollektiver Allegorien“ ist für mich vor allem ein Anspruch. Denn meine eigene Arbeit begann ja tatsächlich mit der Selbstorientalisierung in reinster Form. Durch das Nachdenken über sie lernte ich zu verstehen, wie Macht unser Vorstellungsvermögen, unsere Seh- und Denkgewohnheiten, unsere Ängste und Sehnsüchte beeinflusst.

Diese Beeinflussbarkeit betrifft natürlich jede*n. Aber es ist besonders kritisch, wenn sie jene betrifft, die glauben, originell, kreativ, persönlich und visionär zu handeln, wenn sie Inhalte schaffen. Ich mag als Künstlerin imstande sein, Bilder zu schaffen, aber nach wessen Abbild schaffe ich sie? Wer hat die Bilder in mir geschaffen?

Wahrscheinlich liegt der Irrtum der Schaffenden darin, dass sie die Vorstellung der Originalität so sehr verinnerlichen, dass ihnen entgeht, dass sie selbst mit Referenzen arbeiten. Referenzen, die oft den notwendigen Kontext geben, um ihre Arbeiten abseits der Allegorie zu rezipieren. Es kann nämlich keine bruchlose Allegorie dort geben, wo offen über den Schaffensprozess reflektiert wird, beginnend im Gedanken, nicht dem Material.

Wahrscheinlich bin ich dem unbehaglichen Moment, Analysierende und Analysierte zu sein, deshalb dankbar, weil er mir diese Reflexion ermöglichte. Denn vielleicht können wir den Anspruch haben, jenseits von kollektiven Allegorien zu schaffen, nicht aber jenseits von Macht und Geschichte.

Moshtari Hilal ist freischaffende Künstlerin in Hamburg und Berlin.
Redigiert von Daniel Walter, Eva Tepest, Maximilian Ellebrecht