24.07.2023
In Tunesien zeigt sich: Sicherer Drittstaat ist ein dehnbarer Begriff
Migrant:innen harren im Zentrum von Sfax aus, aufgrund der rassistischen Ausschreitungen haben sie keine Bleibe mehr. Foto: Vanessa Barisch
Migrant:innen harren im Zentrum von Sfax aus, aufgrund der rassistischen Ausschreitungen haben sie keine Bleibe mehr. Foto: Vanessa Barisch

In Sfax ist ein Kreisverkehr zum sichersten Ort für Migrant:innen geworden. Obwohl in Tunesien aktuell die Rechte von Menschen aus Zentral- und Westafrika missachtet werden, setzt die EU weiter auf enge Zusammenarbeit in Sachen Migration.

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten.

Zahlreiche Hetzjagden und sechs Morde an Menschen aus Zentral- und Westafrika, das ist die schockierende Bilanz der letzten Woche in der Küstenstadt Sfax. In der zweitgrößten Stadt des Tunesiens bereiten sich unter anderem Migrant:innen auf die Überfahrt nach Europa vor. Im Kontext der sich zuspitzenden Gewalt verließen viele von ihnen seit Anfang Juli ihre Unterkünfte am Stadtrand, teils aus eigener Initiative, teils weil sie vertrieben wurden. Auslöser der gewalttätigen Auseinandersetzungen war der Tod eines Einwohners von Sfax am 3. Juli 2023 im Zuge von Handgreiflichkeiten zwischen Migrant:innen und lokalen Jugendlichen. 

Auf der Suche nach Schutz entschied sich die Community, am Kreisverkehr vor dem Fischmarkt ihr Lager aufzuschlagen. Hier fühlen sie sich von der Polizei und durch die Augen der Öffentlichkeit einigermaßen geschützt. Bei über 40 Grad harren sie dort ohne Sonnenschutz aus. Einer von ihnen ist Musa aus Gambia: „Ich fühle mich komplett schutzlos. Vorher arbeitete ich in Libyen, dort war es besser. Es war eine schlechte Entscheidung hierherzukommen. Mein Handy und mein Geld wurden mir gewaltsam abgenommen und ich weiß nicht, wo ich hinsoll.“ Täglich werden Leute mit Bussen abtransportiert und in die Hauptstadt Tunis gebracht, in Gefängnisse verfrachtet und misshandelt oder in der Wüste nahe der algerischen oder libyschen Grenze ausgesetzt. 

EU baut auf Tunis - egal zu welchem Preis

Die Europäische Union verfolgt gleichzeitig in vollem Bewusstsein der höchst schwierigen Lage von People on the Move[1] weiterhin den Plan, Tunesien zum sicheren Drittstaat zu erklären. Das geschieht im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS. Nach den aktuellen Vorschlägen würde das bedeuten, dass auch nicht-tunesische Staatsbürger:innen nach Tunesien abgeschoben werden könnten. 

In der Hoffnung illegalisierte Migration – vor allem nach Lampedusa – zu reduzieren, trieb gerade die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni dieses Vorhaben voran und sprach sich für Finanzspritzen an die Küstenwache des Nachbarstaates aus.  Die Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen und der damalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte besuchten mit Meloni am 12. Juni 2023 den tunesischen Präsidenten. Eine knappe Woche später folgte ihnen der französische Innenminister Gérald Darmanin und seine deutsche Amtskollegin Nancy Faeser, die unter anderem effizientere Abschiebemechanismen nach Tunesien ansprach. 

EU kommt ihrem Ziel einen Schritt näher 

Am 16. Juli brachte ein erneuter Besuch von Von der Leyen, Rutte und Meloni den „Durchbruch“. Kais Saied unterzeichnete ein Memorandum of Understanding mit der EU, eine Absichtserklärung ohne rechtliche Bindung. Über eine Milliarde Euro möchte Europa an das nahe am Bankrott stehende Tunesien zahlen - allerdings 900 Millionen davon zu den Konditionen, die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) noch auszuhandeln sind. Eine Einigung zwischen Tunesien und dem IWF lässt seit fast einem Jahr auf sich warten. Die restlichen 105 Millionen Euro, die laut des Memorandum of Understanding unabhängig von einer Übereinkunft mit dem IWF ausgezahlt werden sollen, sind für Grenzschutz und Abschiebeerleichterungen bestimmt.

In Tunis demonstrierten zeitgleich zum Treffen zwischen dem europäischen Trio und dem tunesischen Präsidenten einige Hundert gegen die tunesische und europäische Migrationspolitik. Das Mobilisierungspotenzial war damit deutlich kleiner als beispielsweise im Vorfeld des Staatsstreichs Kais Saieds im Juli 2021. Ob sich das allein durch die letztlich viel diskutierte Politikmüdigkeit oder durch stillschweigende Zustimmung für Saieds Kurs erklären lässt, bleibt unklar.

Leere Worte: Die EU mahnt die Achtung der Menschenrechte an, Kais Saied bekennt sich zu seiner afrikanischen Identität

Kais Saied, der Ende Juni noch verlauteten ließ, nicht die Grenzpolizei Europas spielen zu wollen, agiert einmal mehr entgegen seiner populistischen Versprechen. Auch abgesehen von der aktuellen Entwicklung hatte Tunesien bereits zu Beginn der Amtszeit Saieds italienische und europäische Gelder für die Aufrüstung des Grenzschutzes und die Rückführung von illegalisierten tunesischen Migrant:innen erhalten.

Seine populistische und rassistische Politik zeigte Saied bereits Ende Februar 2023 mit Äußerungen, die die Daseinsberechtigung von Menschen aus Zentral- und Westafrika in Tunesien in Frage stellten. Schon damals war es landesweit zu Attacken auf Schwarze Menschen gekommen und viele aus Zentral- und Westafrika hatten das Land auf Booten Richtung Europa verlassen. Neben den üblichen Anmahner:innen von Menschenrechten wie der Europäischen Union, die selbst an den Außengrenzen ihre eigenen Standards verrät, meldete sich auch die Afrikanische Union kritisch zu Wort. Kais Saied distanzierte sich daraufhin bei einem Staatsbesuch in Guinea-Bissau von seinen hetzerischen Aussagen gegenüber der Schwarzen Community in Tunesien: „Ich bin selbst Afrikaner und stolz darauf.“ 

In den kommenden Wochen werden die Innenminister:innen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Rat über das GEAS-Reformpaket abstimmen, das laut eines gemeinsamen Statements von über 50 NGOs und Migrationsexpert:innen die „Allgemeingültigkeit von Menschenrechten, rechtsstaatlichen Grundsätzen und europäischen Werten“ infrage stellt. Das vor knapp zehn Tagen unterschriebene Memorandum of Understanding legt nun den Grundstein für die weitere Abriegelung der europäischen Außengrenze und bereitet den Weg für ein Abkommen ähnlich des EU-Türkei-Paktes. An dieser Stelle bleibt zu erwähnen, dass die Türkei momentan entgegen der Vereinbarung keine abgelehnten Asylbewerber:innen zurücknimmt.  

Was bedeutet das für Musa? 

Der in Sfax ausharrende Musa ist in Gambia verheiratet und hat dort einen zweijährigen Sohn. Er möchte der lebensbedrohlichen Lage in Tunesien schnellstmöglich entkommen und plant derzeit seine Überfahrt nach Italien. Wie groß das Risiko ist, weiß er genau: „Wir sind mental darauf vorbereitet, dass wir nicht überleben. Aber es ist besser, es endlich zu versuchen als unter diesen Umständen hier auszuharren.“ 

Doch selbst wenn Musa es bis nach Lampedusa schafft, bestehen kaum Chancen auf ein menschenwürdiges Leben in Europa. Groß ist die Gefahr in einem Grenzhotspot eingesperrt zu werden und ein Asylverfahren zu durchlaufen, das nicht den Standards des internationalen Flüchtlingsrechts entspricht. Sollte er es dennoch schaffen seine Geschwister in Deutschland zu erreichen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Asylantrag angelehnt wird hoch. 

Würde er dann abgeschoben, hätte ihn das Hin- und Her des Grenzregimes mehrere Jahre seines Lebens gekostet. Dabei hat Musa sehr bescheidene Wünsche für seine Zukunft: „Ich bin gelernter Techniker, ich will endlich wieder in meinem Beruf arbeiten, ein bisschen Geld verdienen und meine Familie zu Hause unterstützen.“ Klingt fast nach einer qualifizierten Fachkraft. 

 

[1] Wir verwenden den Begriff People On the Move, um die Einteilung in Flüchtende und Migrant:innen zu vermeiden. Der Begriff umfasst ein „breiteres Spektrum menschlicher Mobilität, für die es einen grundlegenden Schutzstandard geben muss“ (Pijnenburg, Rijken 2020).

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Hannah Jagemast, Clara Taxis