01.10.2023
Tunis öffnet seine Innenhöfe - Das Kunstfestival Dream City
Letztes Jahr besuchten knapp 20.000 Menschen das Dream City-Festival in Tunis. Am 8. Oktober 2023 endet das mittlerweile neunte Festival. Foto: Vanessa Barisch.
Letztes Jahr besuchten knapp 20.000 Menschen das Dream City-Festival in Tunis. Am 8. Oktober 2023 endet das mittlerweile neunte Festival. Foto: Vanessa Barisch.

Vom 21. September bis 8. Oktober wird das historische Zentrum der tunesischen Hauptstadt zur Bühne des Dream City-Festivals für zeitgenössische Kunst. Neben dem facettenreichen Programm bietet auch der Blick hinter die Kulissen spannende Einblicke.

Seit dem 21. September ist die Medina [Altstadt, Anm. d. R.] von Tunis wieder um einige Schätze reicher: Für die mittlerweile neunte Edition des Dream City-Festivals öffnen die schlummernden Paläste und Gärten des historischen Zentrums der tunesischen Hauptstadt Tunis wieder ihre blauen und gelben Türen. Die Innenhöfe laden mit Ausstellungen und Installationen zeitgenössischer Kunst zum Träumen ein. Gleichzeitig werden viel besuchte öffentliche Plätze wie der Bahnhofsplatz zu Bühnen für Tanz und Theater und begeistern somit auch spontan Passant:innen.

Kurz gesagt: An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Der gezielte Besuch der unterschiedlichen Veranstaltungen ist dagegen eine Herausforderung, denn die Gassen der Medina bleiben unübersichtlich und verwinkelt – selbst Google Maps kennt nicht alle Spielorte des Festivals. Eine echte Schatzsuche also, die nicht selten mit ungeplanten Erlebnissen, wie einem Kurzfilm in einem schmucken Kellergewölbe, endet.

Menschen auf den Straßen tanzen und klatschen zur Musik. Das Dream City-Festival begeistert die Stadtbewohner:innen von Tunis ebenso wie internationale Besucher:innen. Foto: Vanessa Barisch.

Vom Untergrundfestival zu internationalem Renommée

Ursprünglich war genau diese Unübersichtlichkeit das Ziel, denn das Festival startete 2007 – noch vor der Revolution – als Untergrundfestival. Damals mussten seine Veranstaltungen vor den Augen des Regimes geschützt werden. Nun wehen in der Innenstadt von Tunis an jeder Ecke bunte Fahnen und Banner, die auf das heute international renommierte Festival der zeitgenössischen Kunst aufmerksam machen.

Das Organisationskollektiv L’Art Rue will mit dem Festival „tunesische und internationale Künstler:innen einladen, sich mit der Stadt und ihren Bewohner:innen auseinanderzusetzen und kontextuell zu gestalten“. Letztes Jahr geschah dies vor den Augen von circa 20.000 Zuschauer:innen.

Tanz, Theater und Kunst - überall in der Altstadt finden Veranstaltungen statt. Die Choreographie von Jean-Baptiste André bezieht mehrere plastische Skultpturen mit ein und nutzt als Kulisse ein altes Tor der Medina. Foto: Haroun Ben Youssef.

Das Konzept fand bereits Nachahmer:innen: Als Marseille europäische Kulturhauptstadt wurde, waren die Gründer:innen von Dream City, Selma und Sofiane Ouessi, im Rahmen der Kulturreihe Marseille-Provence 2013 eingeladen, das Konzept auch vor Ort im Stadtteil L’Estaque zu implementieren. Die beiden erzählen: „Das war das erste Mal, dass eine Methodik vom Globalen Süden in den Norden kam“. Trotz der aktiven Auseinandersetzung der Organisator:innen mit Disparitäten zwischen Globalem Norden und Süden, wird das Festival in Tunesien gerade in dieser Hinsicht von manchen kritisiert.

Kontrovers diskutiert: Finanzierung durch internationale Finanzmittel

Vor allem die Finanzierung durch europäische und nordamerikanische Geldmittel, zum Beispiel die Ford Foundation oder die Allianzkulturstiftung für Europa, stößt auf viel Kritik. Manche, wie der unabhängige Regisseur Youssef Mbarek , stellen deswegen die Unabhängigkeit des Festivals und die Kunstfreiheit in Frage: „Solche Festivals stecken dich in eine Schublade. Wenn du zu gewissen Themen arbeitest, finanzieren sie dich, das weiß jeder: Feminismus, sexuelle Minderheiten, Demokratie und Umwelt. Ich habe kein Problem mit diesen Themen, aber ich bin Künstler und muss in meiner Themenwahl frei sein.”

Auch der Tänzer und Choreograph Filipe Lourenço ist der Ansicht, dass ausländische Finanzmittel implizite Verpflichtungen mit sich bringen können, gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass die Professionalität sowie das diverse und internationale Angebot von Dream City nur durch internationale Mittel möglich ist. In den Nachbarländern Algerien und Marokko seien Kulturfestivals rarer und litten unter den geringen Budgets, so der Choreograph im Gespräch.

Abstrakter gedacht steht die Frage im Raum, ob zeitgenössische Kunst nicht schon durch ihre Rahmung westlichen Kunstschulen entstammt. Youssef Mbarek befürchtet in diesem Zusammenhang, dass lokale Künstler:innen in ein Korsett gezwungen würden und die freie Entfaltung von alternativen Kunstrichtungen behindert sei. Felipe Lourenço sieht zeitgenössische Kunst dagegen als sehr offenes Konzept. Er meint: „Kunst aus Europa hat eine große Ausstrahlungskraft, weil sie bessere Finanzierung genießt und weil Europa leider im globalen Diskurs präsenter ist als andere Weltregionen“. Für Lourenço, der schon zum zweiten Mal an Dream City teilnimmt, liegt das Problem eher in Dominanzmechanismen des Globalen Nordens als an zeitgenössischer Kunst selbst.

Die Tänzerin Cyrinne Douss, die zwischen Tunesien und Frankreich arbeitet, erachtet die strikte Abgrenzung von Kunst aus unterschiedlichen Ländern und Kontexten als problematisch: „Wir leben in einer Welt, die gleichzeitig voller Grenzen und ohne Grenzen ist. Ich versuche, mit Kunst diese Grenzen zu überwinden. Austausch kann sehr konstruktiv sein.”

Vielfältiges Programm: Gelebter Austausch und Extravaganz

Ein Beispiel des gelebten Austauschs ist die Tanzperformance „Gouâl in Situ“ von Felipe Lourenço, in der auch Cyrinne Douss dieses Jahr in Tunis zu sehen ist. Es handelt sich um eine Neuinterpretation eines algerisch-marokkanischen Kriegstanzes, die von tunesischen und internationalen Tänzer:innen aufgeführt wird. Der Choreograph stellt heraus, dass L’Art Rue bei der Programmgestaltung des Festivals viel Wert auf die Einbindung lokaler Künstler:innen legen.

Sechs Tänzer:innen des Stücks "Gouâl in Situ" von Choreograph Felipe Lourenço tanzen in einem Innenhof. Foto: Haroun Ben Youssef

Tatsächlich können dank des Festivals tunesische Künstler:innen ihr Portfolio erweitern und Kontakte knüpfen – ohne die oft zermürbenden Visumsprozesse des Schengenraums oder Nordamerikas durchlaufen zu müssen. Das Publikum aus Tunesien wiederum hat die Gelegenheit, neben lokalen Aufführungen auch ein internationales Angebot wahrzunehmen.

Dream City bietet zudem gerade für junge tunesische Künstler:innen Chancen, wie die Tanzperformance „Cypher“ zeigt: Nachwuchstänzer:innen aus Sidi Bouzid, einer marginalisierten Region in Zentraltunesien brachten das Stück des Choreographen Ridha Tlili bei der letzten Dream City-Edition auf die Bühne. In diesem Jahr inszenierte Andrew Graham seine inklusive Performance „Lines“. Es war beeindruckend zu sehen, wie die unterschiedlichen körperlichen und kognitiven Fähigkeiten der Tänzer:innen zu Impulsen und Inspiration für die Aufführung wurde. Bei all den Stücken mit sozialpolitischem Hintergrund ist auch Platz für Extravaganz, wenn Festivalgründer Sofiane Ouessi in „Bird“ vor der prunkvollen Kulisse des Palasts Dar Hussein in einer Symbiose mit Zuchttauben deren Balzakt tanzt.

An der inklusiven Performance „Lines“ sind viele Tänzer:innen und Musiker:innen - sowohl Profis als auch Laien mit und ohne Behinderung -  beteiligt und beschäftigen sich mit dem Zusammenleben in der Stadt. Ringsum die Bühne sitzen die Zuschauenden. Foto: Vanessa Barisch.

Die Magie der Begegnung

Letztendlich sind das Mitdenken von internationalen Ungleichheiten und der Einsatz seitens der Organisator:innen für den lokalen Kontext, in dem das Festival stattfindet, Teil der Magie von Dream City. Im Vorfeld der diesjährigen Edition äußerte sich L’Art Rue zu diesen globalen und lokalen Themen folgendermaßen: „Diese Turbulenzen und Herausforderungen werden auch im Programm sichtbar. Im Kontext stehende Kunstwerke sind mehr denn je der Motor des Festivals.“

In „missa luba“ (working title) setzt sich Sammy Baloji mit der Geschichte des Kongos, dessen Kolonialisierung und Evangelisierung auseinander. Foto: Haroun Ben Youssef.

Manchmal ist es aber gar nicht der Charme der Kunst, sondern eher der Zauber der Begegnung mit Zuschauer:innen oder Passant:innen, die ungeplanten Überraschungen, die das Erlebnis Dream City besonders machen. So zum Beispiel bei einer nigerianischen Performance beim letztjährigen Festival auf dem Platz Beb Souika, als sich ein Zuschauer entschied auf die Bühne zu treten – und spontan von den Tänzer:innen miteingebunden wurde.

 

* Der Name ist ein Pseudonym, da der Gesprächspartner um Anonymisierung gebeten hat.

 

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Clara Taxis, Rebecca Spittel