17.01.2021
Verlorene Jugend: Was die Krise im Libanon für Studierende bedeutet
An der bislang größten Demonstration im Dezember 2020 in Beirut beteiligten sich mehrere tausend Studierende. Quelle: Mada
An der bislang größten Demonstration im Dezember 2020 in Beirut beteiligten sich mehrere tausend Studierende. Quelle: Mada

Die gravierende Wirtschaftskrise im Libanon trifft auch die Hochschulen im Land hart. Dis:orient sprach mit Studierenden, die sich an den aktuellen Protesten gegen die Erhöhung der Studiengebühren beteiligen.

Seit Herbst 2019 rutscht die libanesische Wirtschaft in eine immer tiefere Krise und bedroht die Menschen im Land in stetig neuen Lebensbereichen. Die von Klientelismus, Profitgier und Korruption geprägte Politik sorgte über Jahrzehnte für eine strukturelle Privatisierung staatlicher Leistungen, beispielsweise im Gesundheitssystem oder in der Bildung, welche in Folge der Krise nun immer stärker unter Druck geraten.

Insbesondere die Hyperinflation der nationalen Währung, mit 80 Prozent Wertverlust der libanesischen Lira innerhalb weniger Monate hat deshalb auch auf die in großen Teilen privaten Universitäten des Landes enorme finanzielle Auswirkungen. Als Reaktion wollen die größten und teuersten Hochschulen, allen voran die renommierte American University Beirut (AUB), nun eine Erhöhung der Studiengebühren um etwa 160% durchsetzen. Mit diesem Schritt droht Bildung im Libanon nur noch reichen Menschen zugänglich zu werden, denn die einzige öffentliche Universität des Landes, die Libanesische Universität, ist chronisch unterfinanziert und verfügt weder über die Kapazität noch die Qualität, den Bedarf an universitärer Bildung zu decken.

Aufgrund der Inflation und der hohen Arbeitslosigkeit können viele sich die ohnehin schon hohen Studienkosten (an der AUB ca. 24.000 US-Dollar pro Jahr) kaum leisten, eine weitere Erhöhung der Gebühren würde für viele unausweichlich den Abbruch des Studiums bedeuten. Dagegen hat sich nun ein breites, universitätsübergreifendes Bündnis studentischer Organisationen formiert, die seit mehreren Monaten Protestmärsche mit tausenden Teilnehmer:innen organisieren und für einen grundlegenden Wandel des libanesischen Hochschulsystems eintreten.

Dis:orient hat dazu mit mehreren Aktivst:innen verschiedener Universitäten gesprochen und sie zu ihren Beweggründen und Forderungen befragt. Zudem wollten wir wissen, welche Protestaktionen, auch vor dem Hintergrund enormer Polizeigewalt bei vergangenen Demonstrationen, geplant sind und welche Pläne sie für ihre persönliche Zukunft haben.

„Wir haben ein Recht auf Mitbestimmung über unsere Zukunft“

Aya Kassem, 20, studiert Ernährungswissenschaften an der AUB und ist Mitglied der studentischen Vertretung der AUB sowie im Secular Club.[1]

Die Erhöhung der Studienkosten und Dollarisierung, also die Umstellung auf Dollar als einzige akzeptierte Währung geschah vollkommen undemokratisch und ohne die Einbeziehung der studentischen Vertretung. Wir setzen uns für die Rücknahme dieser Entscheidung ein und fordern, feste Studiengebühren in libanesischen Lira. Nur so können wir uns weiterhin unsere Bildung leisten.

 Darüber hinaus fordern wir Transparenz bei finanzpolitischen Fragen der Universität sowie die Einbeziehung der gewählten studentischen Repräsentant:innen. Ich gehe davon aus, dass die Verwaltung weiterhin versuchen wird, uns ihre Entscheidung aufzuzwingen. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit vielen Gruppen an der AUB zum Gebührenstreik aufgerufen und halten die Studierendenschaft an, ihre Gebühren nicht zu zahlen, bis eine Einigung gefunden wurde. Dabei arbeiten wir viel mit Social Media Kampagnen und koordinieren uns in WhatsApp-Gruppen. Außerdem hoffen wir darauf, dass auch politisch noch stärkerer Druck auf die Universität ausgeübt wird und erwägen, juristisch gegen die Entscheidung vorzugehen.

Persönlich plane ich, hier zu bleiben, um mein Studium im Libanon fortzuführen. Auch wenn es aktuell sehr hart ist, ich habe das Gefühl hierbleiben zu müssen, um für mein Land einen echten Wandel zu erreichen.

„Alle haben ein Recht auf Bildung, Bildung sollte kein Luxus sein“

Nazem El-Khatib, 21, Student der Technischen Informatik an der Université Saint Joseph (USJ), Vize-Präsident des USJ Secular Club sowie Mitglied der studentischen Vertretung seiner Universität.

Hauptgrund unseres Protests ist die Dollarisierung und die Erhöhung der Studiengebühren, doch unser Kampf ist umfassender. Wir sind dagegen, dass Bildung als Ware oder Dienstleistung gehandelt wird. Bildung ist ein Recht und wir fordern eine öffentliche Universität, die stark genug für uns alle ist und den Bedarf deckt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass das Bildungsministerium den Etat für die Finanzierung der öffentlichen Libanesischen Universität erhöht. Es geht also nicht nur um die Erhöhung der Studienkosten an sich, sondern im Kern darum, das gesamte libanesische Bildungssystem zu ändern.

Darüber hinaus fordern wir bereits seit 2017 einen Vertrag für die Studierende. Darin sollen studentische Rechte festgeschrieben werden, zum Beispiel dass die Studiengebühren im Verlauf des jeweiligen Studiums nicht erhöht werden dürfen. Außerdem fordern wir die Demokratisierung der Universität durch studentische Wahlen und eine Vertretung.

Wir haben 2015 als Secular Clubs der zwei größten privaten Universitäten, AUB und USJ das universitätsübergreifende Netzwerk Mada gegründet, bestehend aus anti-konfessionalistischen Studierendengruppen verschiedener Universitäten. Wir wachsen ständig: In den vergangenen Monaten haben sich einige säkulare Studierendengruppen an weiteren Universitäten gegründet. Als Mada haben wir verschiedene Proteste geplant und umgesetzt, so auch die der vergangenen Wochen. Dafür haben wir uns mit anderen, politisch ähnlich ausgerichteten Gruppen zusammengeschlossen, dazu gehören studentische Vertretungen der Libanesischen Universität sowie ein großer Zusammenschluss junger Libanes:innen, die im Ausland studieren. Das Problem ist also sehr weitreichend, alle Studierenden im Libanon und darüber hinaus sind betroffen.

Ich persönlich werde im nächsten Jahr das Land verlassen und in Frankreich weiter studieren. Aber ich plane definitiv zurückzukehren, um das Land zu gestalten.

Eine Polizeikette schirmt das Eingangstor der AUB ab; Quelle Mada

„Die Gewalt gegen uns zeigt klar, wo die Fronten liegen“

Farah Darwish, 25, Aktivistin und Studentin der Public Relations an der Lebanese International University (LIU). Dort wurde sie Gründungsmitglied der Studierendenvereinigung LIU Independence Group.

Ich studiere zwar nicht an einer der aktuell betroffenen Unis, bin jedoch aus Solidarität auf der Straße. Bisher gab es vor allem eine große Demonstration, bei der wir allerdings mit viel Gewalt durch die Sicherheitskräfte konfrontiert waren.

Für unsere Protestaktionen haben wir ein breites studentisches Bündnis geschlossen, in dessen Rahmen wir uns gemeinsam organisieren und auf Forderungen einigen. Der Fokus liegt speziell auf der AUB, da sie die Entscheidung, die Studiengebühren zu erhöhen, angestoßen und sich dafür mit zehn weiteren Universitäten zusammengeschlossen hat. Das ist praktisch eine Koalition, die sich gegen ihre eigenen Studierenden richtet. Mit unseren Aktionen wollen wir vor allem auf die AUB Druck ausüben, damit sie erstens diese Entscheidung zurücknimmt und zweitens auch die anderen Universitäten unter Druck geraten, diese Gebührenpolitik zu beenden beziehungsweise gar nicht erst zu adaptieren.

Wir planen trotz der Polizeigewalt unser Bündnis aufrechtzuerhalten und weiterzuarbeiten. Wir werden laut bleiben, denn die letzten Wochen und Monate haben die Fronten klar aufgezeigt: Wir fordern, als Studierende und nicht als Kund:innen wahrgenommen zu werden. Die Reaktion der Universitäten bestand darin, nicht mit uns zu reden und stattdessen Militär, Polizei und sonstige Sicherheitskräfte auf uns zu hetzen. Das zeigt eindeutig, wo das Problem liegt und bestärkt uns nur weiter in unserem Vorhaben.

Für mich persönlich sehe ich auf lange Sicht keine Zukunft im Libanon. Ich möchte nicht bleiben, denn ich weiß, dass meine Chancen hier sehr limitiert sind. Doch ich plane nicht, in absehbarer Zeit zu gehen. Ich möchte zumindest das Gefühl haben, wenigstens versucht zu haben, etwas zu verändern. Mit meinem Engagement im Rahmen der Protestbewegung möchte ich meinen Teil zu einer besseren Zukunft beitragen.

 

[1] Der Secular Club ist eine links-gerichtete und die erste anti-konfessionalistische politische Studierendenvereinigung. Er wurde 2008 gegründet und fand vor allem in den letzten Jahren viel Zustimmung und Nachahmer an weiteren Universitäten.

 

 

Ginan Osman studiert derzeit Middle Eastern Studies (M.A.) an der American University in Beirut, wo sie sich vertieft mit Politik und Wirtschaft des Landes auseinandersetzt. Zuvor studierte sie Politik des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und Rabat und arbeitete in der deutschen Landes- und Bundespolitik.
Redigiert von Johanna Luther, Clara Taxis