03.10.2022
Von BDS lernen - Was kann Solidarität von unten für Syrien bedeuten?
Was können andere von der BDS-Bewegung lernen? Grafik: dis:orient
Was können andere von der BDS-Bewegung lernen? Grafik: dis:orient

Angesichts der großen Diaspora ist eine internationale Solidaritätskampagne mit der syrischen Revolution denk- und machbar. Als Vorbild kann dazu die BDS-Bewegung Palästinas dienen, argumentiert Joseph Daher.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

Über elf Jahre nach dem Beginn des syrischen Aufstands, der sich in einen Krieg unter Beteiligung zahlreicher regionaler und internationaler Akteure verwandelt hat, kontrolliert das Assad-Regime dank der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung Russlands und Irans fast 70 Prozent des syrischen Territoriums. Es steht jedoch vor großen sozioökonomischen Herausforderungen, die noch lange nicht überwunden sind.

In einer Zeit der Konsolidierung des Regimes in Damaskus, der Zersplitterung der syrischen Opposition, ohne dass sich eine demokratische und inklusive Alternative abbilden würde, stellt sich die Frage: Wie kann eine internationale beziehungsweise internationalistische Solidaritätskampagne mit der syrischen Revolution und ihren ursprünglichen Bestrebungen nach Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit gelingen?

Viele syrische Oppositionelle und zivilgesellschaftliche Organisationen haben in der Vergangenheit an nationale und internationale Akteure appelliert, das syrische Regime zu sanktionieren. Ein Beispiel ist der Caesar Syria Civilian Protection Act (auch Caesar Act genannt), ein Gesetz in den USA, das von der in den USA ansässigen NGO Coalition for a Democratic Syria angestoßen wurde und die syrische Regierung, einschließlich des Präsidenten al-Assad, wegen Kriegsverbrechen gegen die syrische Bevölkerung sanktioniert.

Manche forderten außerdem eine militärisches Eingreifen, so zum Beispiel Nasr al-Hariri, Vorsitzender der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalkoalition, im Juni 2021. Er forderte eine internationale Militärintervention gegen die von der kurdischen Partei PYD angeführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). In diesen Fällen handelt es sich, wie so häufig, um staatliche Unterstützung „von oben“, die manchmal einen reaktionären Charakter hat. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Strategie der internationalen Solidarität der Zivilgesellschaft. In dieser Hinsicht kann aus verschiedenen Erfahrungen mit „Grassroots“-Solidaritätskampagnen gelernt werden. Ein erfolgreiches Beispiel für internationale Solidarität ist die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionskampagne (BDS), eine palästinensisch geführte Bewegung für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit.

Die Kriminalisierung der BDS-Bewegung und damit jeglicher Form der Palästina Solidarität, die in England, Frankreich, Deutschland und den USA stattgefunden hat, ist dementsprechend im Kontext einer umfassenderen Bekämpfung progressiver und linker Politik zu verstehen und geht über den sogenannten Kampf gegen Antisemitismus hinaus. In der Tat haben in den letzten Jahren Antisemitismus und Angriffe auf jüdische Gemeinden in europäischen und nordamerikanischen Ländern zugenommen. Die Ursache hierfür solle allerdings nicht im Palästina-Aktivismus oder in der Linken im Allgemeinen gesucht werden, argumentiere ich mit dem Aktivisten und Akademiker Sai Englert.

Diese Entwicklung werde viel mehr durch den „Prozess der Normalisierung durch bürgerliche Parteien und die Mainstream-Medien“ rechtsextremer Figuren wie Trump, Boris Johnson oder Victor Orban und gleichgesinnten politischen Bewegungen befeuert. Diese Normalisierung baue „in erster Linie auf rassistischen, anti-Schwarzen und islamfeindlichen Rassismen auf, die ein zentrales Element der sogenannten Kriege gegen Drogen, Terror und Einwanderung der letzten drei Jahrzehnte waren“.

Unterschiede zwischen Palästina und Syrien

Während wir BDS als eine erfolgreiche internationale Kampagne der Solidarität von unten betrachten, müssen wir auch die Unterschiede zwischen dem syrischen und dem palästinensischen Fall anerkennen. Die Unterdrückung der Palästinenser:innen basiert auf einer siedlerkolonialen Struktur, die zunächst vom britischen Imperialismus und dann von den USA unterstützt wurde, um deren Interessen in der Region zu sichern.

Dass palästinensische Bewohner:innen des Ostjerusalemer Stadtviertels Scheich Dscharrah durch gewaltsame Enteignung bedroht sind, ist daher als Fortsetzung der ethnischen Säuberung zu sehen, die auf die Gründung Israels zurückgeht. Sie führte zur Nakba (arabisch für „Katastrophe“), in deren Verlauf  schätzungsweise 800.000 Palästinenser:innen gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben und zu Geflüchteten gemacht wurden. Heute gibt es mehr als sechs Millionen palästinensische Vertriebene. Die Mehrheit der Palästinenser:innen ist geflohen beziehungsweise auf der Flucht, heute gibt es vorrangig in den Nachbarländern, aber auch weltweit, eine Diaspora.

Das Regime in Syrien ist damit strukturell nicht vergleichbar. In Syrien regiert ein patrimoniales Regime im Sinne der traditionellen Weberschen Definition. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine autokratische und vererbliche Macht. Die Machtzentren (Politik, Militär und Wirtschaft) sind unter einer Familie und ihrer Clique, den Assads, aufgeteilt. Die staatliche Repression in Syrien betrifft Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen, die gegenüber dem Regime als nicht loyal und damit als Bedrohung angesehen werden. Das Regime zielt aber nicht auf eine bestimmte ethnische oder konfessionelle Gruppe innerhalb der Bevölkerung ab.

Ein weiterer Unterschied ist, dass der Staat Israel durch verschiedene militärische Interventionen und Besetzungen seit Jahrzehnten die Rolle des Wächters westlicher imperialistischer Interessen in der Region innehat, während Syriens Rolle in verschiedenen regionalen Fragen konterrevolutionär war. Im Vergleich zwischen dem syrischen und dem palästinensischen Widerstand muss auch die Situation der Arbeiter:innen berücksichtigt werden.

Die große Mehrheit der jüdisch-israelischen Arbeiter:innen ist nach wie vor mit dem Staat Israel und seinen Institutionen, wie dem Gewerkschaftsverband Histadrut verbunden. Sie sind materiell von ihm abhängig, da ihr Lebensstandard und ihre soziale Absicherung auf der kontinuierlichen Enteignung, Landnahme und der Zwangsumsiedlung von Palästinenser:innen fußen. Sie profitieren von diesen Phänomenen und beteiligen sich deshalb an der Unterdrückung der Palästinenser:innen durch den israelischen Staat. Große Teile der jüdischen Bevölkerung nehmen aktiv an diesem Projekt teil, insbesondere durch den verpflichtenden Dienst in der israelischen Besatzungsarmee. Daher muss die jüdisch-israelische Arbeiterklasse davon überzeugt werden, dass es keine anderen Alternativen als das Ende der kolonialen Strukturen gibt. Vielmehr sollte es einen Staat geben, in dem alle Bürger:innen gleichberechtigt sind.

Im Falle Syriens leidet die syrische Arbeiterklasse unter der neoliberalen Politik des Regimes. Die große Mehrheit der Arbeiter:innen hat kein materielles Interesse am Fortbestand des Regimes, auch nicht in jenen Sektoren, die als loyal gelten beziehungsweise für staatliche Institutionen arbeiten.[2] Das Armutsniveau in Syrien lag 2019 schätzungsweise bei über 85 Prozent, wobei die COVID-19-Pandemie, extreme Dürren und steigende Getreidepreise die Bilanz deutlich verschlechtert haben: Im Februar 2021 schätzte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Zahl der Syrer:innen, die unter Ernährungsunsicherheit leiden, auf fast 60 Prozent der Bevölkerung, eine Zahl die sich inzwischen weiter erhöht haben dürfte. Die Löhne haben im Laufe des Krieges für die Wohlstandsproduktion Syriens immer mehr an Bedeutung verloren. Die erwerbsfähige Bevölkerung ist durch hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften gekennzeichnet. Die hohe Arbeitslosigkeit lässt sich durch die Zerstörung großer Teile der Wirtschaft erklären, die zu einem Mangel an Möglichkeiten führt.

Diese Situation zwingt die Arbeiter:innen in Syrien, nach alternativen Einkommensquellen zu suchen. Diese Dynamik gab es bereits vor Ausbruch des Aufstands im Jahr 2011 und wird seither durch die Wirtschaftspolitik des Regimes verstärkt. Andererseits wandert eine große Zahl hochqualifizierter Arbeitskräfte neben anderen Faktoren auf der Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen aus. Die Rücküberweisungen durch Syrer:innen aus dem Ausland sind seit 2011 zunehmend zur wichtigen Stütze für den Lebensunterhalt großer Teile der Bevölkerung geworden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei aber auch die drohende Verhaftung jener wehrpflichtigen Personengruppen, die der Einberufung zum Militär keine Folge leisten. Sie führt dazu, dass viele junge Männer zu Hause bleiben oder sich unsichere, unterbezahlte informelle Arbeit suchen.

Diese Unterschiede bedeuten, dass syrische und palästinensische Solidaritätskampagnen sich auch in ihren Strategien und Forderungen unterscheiden müssen. Die wichtigste Frage bleibt jedoch, wie die Solidarität von unten aufgebaut werden kann, anstelle von staatlicher Hilfe, die immer auch von staatlichen Interessen bedingt wird. In dieser Hinsicht sind sowohl die Sensibilisierung für die syrische Revolution als auch der Aufbau einer internationalen Solidaritätskampagne von zentraler Bedeutung.

Gewerkschaften und soziale Bewegungen - Solidarität von unten

Nach dem Vorbild der globalen BDS-Kampagne sollten syrische Aktivist:innen soziale Bewegungen und Gewerkschaften adressieren. Sie sollten die Wurzeln und die Dynamik der syrischen Revolution erklären und dabei die gemeinsamen Interessen auf der Grundlage der Klassensolidarität und des Kampfes für eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung aufzeigen. Neben der despotischen und kriminellen Herrschaft des syrischen Regimes muss insbesondere aufgezeigt werden, dass seine neoliberale Politik große Teile der syrischen Bevölkerung verarmen lässt und sie ausbeutet. Wie bereits erwähnt werden die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen von der Politik in Damaskus weiterhin vernachlässigt.

An dieser Stelle ist eine Orientierung an palästinensischen Strategien hilfreich: Die palästinensischen Gewerkschaften haben beispielsweise mehrfach an andere Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Welt appelliert, sich international zu solidarisieren. So veröffentlichten sie nach dem Generalstreik vom 18. Mai 2021, der Teile der Wirtschaft von Israel bis zum Westjordanland und dem Gazastreifen lahmlegte, einen internationalen Aktionsaufruf. Darin forderten sie, sofortige und konkrete Schritte zu unternehmen, um sicherzustellen, dass die Gewerkschaften sich nicht selbst an der Aufrechterhaltung der israelischen Unterdrückung mitschuldig machen.

Die palästinensische Aktivistin Rafeef Ziadeh erklärt, dass „der Aufruf konkrete Forderungen enthält, um positive Absichtserklärungen […] in die Tat umzusetzen, zum Beispiel durch den Verkauf von Rentenfonds von Unternehmen, die an der israelischen Besatzung beteiligt sind, die Ermutigung von Arbeitnehmer:innen, sich zu weigern, mit israelischen Waren zu arbeiten, und der Unterstützung von Mitgliedern, die sich weigern, Waffen zu bauen, die für den Einsatz durch israelische Streitkräfte bestimmt sind“.

Dem Aufruf kam beispielsweise die italienische Gewerkschaft L'Unione Sindacale di Base (USB) in der toskanischen Stadt Livorno nach, deren Mitglieder sich weigerten, eine Waffenlieferung an Israel zu verladen. Mit folgender Begründung: „Wir wollen nicht zu Kompliz:innen des Massakers an palästinensischen Zivilist:innen werden“. Auch Mitglieder der Southafrican Transport and Allied Workers' Union (SATAWU) weigerten sich, das Containerschiff Zim Shanghai des israelischen Unternehmens Zim Lines zu entladen.

Angelehnt an diese Erfahrungen gibt es auch für Syrer:innen Möglichkeiten, sich mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in den Ländern, in denen sie leben, auszutauschen und eng mit ihnen zusammenzuarbeiten. Insbesondere in Europa, aber auch in der Türkei, sollte zu internationalistischer Solidarität aufgerufen werden. Eine Kampagne könnte darin bestehen, die 1948 gegründete und bis heute regimetreue General Federation of Trade Union (GFTU) in internationalen Institutionen als Dachverband für Gewerkschaften zu delegitimieren.

Die GFTU fungiert als Mittel der Unterdrückung und Kontrolle für das syrische Regime. Die Vorsitzenden und die meisten anderen Führungskräfte des Verbands werden systematisch aus den Reihen der Baath-Partei ausgewählt. Die GFTU vertritt dementsprechend die Propaganda des syrischen Regimes gegenüber anderen internationalen Verbänden auf Konferenzen innerhalb und außerhalb des Landes. So nahmen im September 2019 mehr als hundert arabische und andere Gewerkschaftsvertreter:innen zusammen mit Journalist:innen am dritten Internationalen Gewerkschaftsforum in Syrien teil. Bei dieser Gelegenheit brachten der Weltgewerkschaftsbund (WGB), die Organisation für die Einheit der afrikanischen Gewerkschaften (OATUU) und der Internationale Bund der Arabischen Gewerkschaften (ICATU) ihre Unterstützung für die syrische Regierung zum Ausdruck.

Potentielle Verbündete

Zukünftige Versuche, unabhängige und kämpferische Gewerkschaften in Syrien zu gründen, sollten von internationalen Solidaritätsnetzwerken unterstützt werden – wie es in der Vergangenheit mit unabhängigen ägyptischen Gewerkschaftsorganisationen gemacht wurde. Ein anderer Ansatz wäre, Boykottkampagnen gegen Organisationen und Einzelpersonen außerhalb Syriens zu organisieren, die gegen Geld die Propaganda des syrischen Regimes verbreiten.

Dies erfordert allerdings eine Neuausrichtung syrischer Diasporaorganisationen: weg von einer Arbeit, die sich hauptsächlich an Staaten und Vertreter:innen internationaler Organisationen richtet, hin zu lokalen Basisbewegungen. Das bedeutet auch, dass sich Syrer:innen – wenn es ihnen möglich ist – an ihrem Wohnsitz in sozialen Bewegungen engagieren, die für demokratische und soziale Rechte kämpfen. Ein guter Anknüpfungspunkt für solche Kooperationen sind Bewegungen, die sich gegen eine rassistische und islamfeindliche Politik engagieren. Diese rassistischen Angriffe stehen im Zusammenhang mit dem so genannten „Anti-Terror Krieg“ und der „Terrorismusbekämpfung“, die Muslim:innen und nicht-weiße Bevölkerungsgruppen per se unter Verdacht stellt.

Der wachsende Rassismus und die Islamophobie in Europa sind vor allem das Ergebnis der zunehmend autoritären und rassistischen Politik europäischer Regierungen. Diese Politik hat das Ziel, eine nationalistische Vorstellung zu festigen, indem sie die imaginierte ethnische Mehrheitsbevölkerung dazu auffordert, sich gegen die erfundene Bedrohung durch Muslim:innen und generell nicht-weiße Bevölkerungsgruppen zu vereinigen. Auch die meisten liberalen und sozialliberalen Parteien widersetzen sich dem nicht, ganz im Gegenteil. Es ist außerdem wichtig zu verstehen, dass Rassismus und Islamophobie eine größere gesellschaftliche Rolle spielen: Sie normalisieren die Ausweitung der staatlichen Kontrolle, die sich jedoch nicht nur gegen die als gefährlich eingestuften muslimischen und rassifizierten Bevölkerungsgruppen richten, sondern gegen alle Linken, die das herrschende System in Frage stellen.

Daher ist der Kampf gegen Rassismus ein Weg, um die Rechte aller zu verteidigen, die dieses ungleiche und autoritäre System in Frage stellen, einschließlich der Syrer:innen im Ausland. Ebenso können gemeinsame Aktionen für die Öffnung der Grenzen, beziehungsweise gegen den Bau von Mauern und den kontinuierlichen Ausbau Europas zur Festung, erdacht und ausgearbeitet werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt kann die Kooperation mit verschiedenen Bewegungen sein, die sich gegen die staatliche Zusammenarbeit zwischen europäischen Regierungen und autoritären Regimen in der WANA-Region einsetzt. Wir müssen das Bleiberecht und das menschenwürdige Leben aller Geflüchteten verteidigen und uns der morbiden Politik der Festung Europa widersetzen. Ein erfolgreiches Beispiel solcher Kooperationen war der Widerstand in Dänemark gegen die Vorbereitungen für Abschiebungen nach Syrien.

Unabhängig von inhaltlichen Überschneidungen mit anderen Bewegungen sollte der Kampf für die Rechenschaftspflicht des Assad-Regimes für alle Progressiven und Demokrat:innen eine absolute Priorität sein. Die strafrechtliche Verfolgung von zwei ehemaligen syrischen Geheimdienstmitarbeitern in Deutschland, die 2019 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen des „Al Khatib“ Prozesses angeklagt und 2021 verurteilt wurden, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit für die vom Regime begangenen Gräueltaten. Die Bemühungen müssen weltweit fortgesetzt werden, um sicherzustellen, dass die Hauptverantwortlichen für die staatlichen Folterungen unter Assad und alle Kriegsverbrecher:innen in Syrien vor Gericht gestellt werden, einschließlich islamisch-fundamentalistischer und dschihadistischer Kräfte und anderer bewaffneter Gruppen.

Die Frage der Sanktionen

Die internationalen Sanktionen gegen Syrien waren Gegenstand intensiver Debatten unter Syrer:innen und haben die politische Kluft zwischen jenen, die außerhalb von Syrien leben und denjenigen die im Land verblieben sind, vergrößert. Letztere sind letztlich die Leidtragenden solcher Sanktionen. Trotzdem sollten gezielte Sanktionen, wie die der BDS-Kampagne mit dem Ziel der Einhaltung der Menschenrechte aller Palästinenser:innen, unterstützt werden.

Solche Forderungen sind für den Fall Syriens beispielsweise im zuvor erwähnten US-amerikanischen Caesar Act aufgeführt: Dazu zählen Sanktionen gegen jede Regierung oder Einrichtung, die „die Aufrechterhaltung oder Ausweitung der inländischen Förderung von Erdgas, Erdöl oder Erdölprodukten durch die Regierung von Syrien erheblich erleichtert“ und „wissentlich, direkt oder indirekt, erhebliche Bau- oder Ingenieurdienstleistungen für die syrische Regierung erbringt“ (Abschnitt 102). Diese Forderung zielt möglicherweise auf russische und iranische Privatunternehmen ab, die von ihren militärischen Interventionen profitieren, indem sie durch neoliberale Politik und öffentlich-private Partnerschaften die Kontrolle über syrische Bodenschätze und nationale Infrastrukturen übernehmen.

Gleichzeitig könnten diese Sanktionen im Rahmen des Wiederaufbauprozesses in Syrien allgemein auf große ausländische Unternehmen abzielen, die potenziell in die städtischen Pläne der syrischen Regierung investieren könnten. Der derzeitige Wiederaufbauprozess, wie ihn das Regime in Damaskus vorschlägt, wird vermutlich die Loyalität seines Netzwerks von Großunternehmer:innen und ausländischen Verbündeten belohnen und ehemalige Rebellenhochburgen bestrafen, von denen viele bereits vor Kriegsbeginn wirtschaftlich marginalisiert waren. Gleichzeitig ist es wichtig, auch die Tatsache anzuerkennen, dass der Caesar Act zur Verschärfung der sozioökonomischen Probleme in Syrien beitragen könnte – und wahrscheinlich auch wird. Das Sanktionspaket könnte an der Vertiefung der Verarmung einiger Bevölkerungsgruppen mitwirken und ein weiteres Hindernis für deren künftige wirtschaftliche Erholung darstellen.

Die Wirksamkeit des Caesar Acts muss jedoch überprüft werden. Dies betrifft auch die Bereitschaft der USA, tatsächlich Rechenschaftspflicht und die Achtung der Menschenrechte in Syrien zu erreichen, während sie gleichzeitig Hauptwächter in der neoliberalen, militaristischen und autoritären Ordnung der Region sind. Darüber hinaus erlaubt der Caesar Act dem US-Präsidenten zwar, Maßnahmen zu ergreifen und bestimmte Institutionen und Einzelpersonen zu sanktionieren, er ist jedoch nicht dazu gezwungen. Tatsächlich gibt es keinerlei Verpflichtungen. Dass Washington beschloss, dem Libanon zu helfen, Strom und Erdgas aus Jordanien und Ägypten über syrisches Territorium zu sichern, impliziert, dass die USA bereit sind, auf Sanktionen zu verzichten.

Die Debatte über Sanktionen schmälert nicht die Notwendigkeit, Solidarität von unten aufzubauen, da nicht von Staaten erwartet werden kann, dass sie zugunsten der syrischen Bevölkerung handeln. Darüber hinaus haben Sanktionen in der Vergangenheit nur selten die erwarteten Ergebnisse gebracht oder die Änderung des Verhaltens eines Staates bewirkt. Einige Stimmen verweisen auf das „erfolgreiche Beispiel“ Südafrikas. Im Jahr 1986 verhängte die UNO eine Reihe von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und ein Ölembargo, um das rassistische Apartheidregime zu beenden. Im Jahr 1991 wurde dieses Regime dann tatsächlich abgeschafft.

Der kausale Zusammenhang ist von Sanktionen und politischem Wandel ist jedoch fraglich. Die Sanktionen wurden vom südafrikanischen Apartheidregime durch seine engen Beziehungen zu westlichen Staaten, die sich lange gegen die Sanktionen wehrten, weitgehend umgangen. Vielmehr waren der erhebliche Widerstand und die Mobilisierung der Bevölkerung vor Ort, sowie die umfassenden Boykott- und Solidaritätskampagnen in aller Welt der Hauptgrund für das Ende dieses Regimes.

Der Wunsch nach einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung

Abschließend lässt sich sagen, dass die wichtigste Herausforderung für syrische Demokrat:innen und Progressive darin besteht, ihre Unabhängigkeit von ausländischen Akteur:innen zurückzugewinnen, indem sie ein integratives, demokratisches Projekt mit klaren sozioökonomischen Alternativen anbieten. Dieses sollte der breiten syrischen Bevölkerung zugutekommen und große Teile der Diaspora ansprechen. Gleichzeitig ist der Aufbau eines eigenen internationalen Solidaritätsnetzwerks mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in der ganzen Welt eine absolute Notwendigkeit, um große Koalitionen mit Initiativen zu bilden, die den Wunsch nach einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung teilen.

Diese politische Ausrichtung wird die Unterstützer:innen eines demokratischen und fortschrittlichen Syriens dazu anregen, die Verbindungen zu anderen regionalen und internationalen Kämpfen zu erkennen und von ihnen zu lernen, anstatt einander zu bekämpfen und gegeneinander ausgespielt zu werden. Dies kann nur durch Solidarität von unten geschehen. Unsere Schicksale sind miteinander verbunden.

 


[1] Obwohl die dominierende Rolle alawitischer Persönlichkeiten an der Spitze des Regimes, des Militärs und des Geheimdienstes unbestritten ist, ist es problematisch, das Wesen des Staates auf eine „alawitische Identität“ und die Diskriminierung einer ganzen Gemeinschaft (z.B. arabische Sunniten) zu reduzieren.
Dieser Ansatz ignoriert die komplexen Netzwerke, die von der Elite des Regimes gepflegt werden. Das Regime wendet sich nicht gegen eine sunnitische Identität an sich, sondern gegen regimefeindliche Gruppen, die in ihrer großen Mehrheit aus der sunnitischen Bevölkerung verarmter ländlicher Gebiete, mittelgroßer Städte, sowie den Vorstädten von Damaskus und Aleppo stammen. Eine solche Vereinfachung übersieht die sunnitische Unterstützung für das Regime, insbesondere in Damaskus und Aleppo ebenso, wie die sunnitische Präsenz in den Institutionen des Regimes und den regimetreuen Milizen. Siehe: Joseph Daher (2018), Popular Oral Culture and Sectarianism a Materialist Analysis
 
[2] Große Teile der syrischen Bevölkerung sind in Bezug auf Löhne oder Unterstützung vom Staat abhängig. Der nationale Durchschnitt der staatlichen Beschäftigung stieg von 26,9 Prozent im Jahr 2010 auf über 55 Prozent im Jahr 2015. Dies ist auf den Rückgang der Gesamtbeschäftigung zurückzuführen, der sich in einem massiven Rückgang der bei der Sozialversicherungsanstalt (SSO) registrierten Personen widerspiegelt. Im Jahr 2019 waren etwa 2,2 Millionen Menschen bei der SSO registriert, während es 2012 noch circa 3,7 Millionen waren, was einem Rückgang von 40 Prozent entspricht.

 

 

 

Joseph Daher ist ein schweizerisch-syrischer sozialistischer Aktivist, Akademiker und Gründer des Blogs Syria Freedom Forever. Er ist Teil des Projekts „Wartime and Post-Conflict in Syria“ am European University Institute in Florenz (Italien). Er ist Autor von „Hisbollah: Political Economy of the Party of God“ (Pluto Press, 2016) und „Syria after...
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