25.06.2021
Zuhause unter Feinden
Nicht sicher in den eigenen vier Wänden: So fühlen sich viele Menschen in palästinensichen Dörfern und Städten aus Angst vor israelisichen Razzien. Illustration: Kat Dems
Nicht sicher in den eigenen vier Wänden: So fühlen sich viele Menschen in palästinensichen Dörfern und Städten aus Angst vor israelisichen Razzien. Illustration: Kat Dems

Seit Jahrzehnten durchsucht die israelische Armee in nächtlichen Razzien palästinensische Häuser per Generalverdacht. Dass diese aggressive Praxis nun beendet werden soll, ist ein kleiner Sieg für die Menschenrechte, findet Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Freund, wie er während seines Dienstes in der israelischen Armee in einer palästinensischen Stadt auf ein kleines Mädchen aufmerksam wurde. Sie schien verängstigt und er ging auf sie zu, um zu helfen. Aber als sie ihn in seiner Uniform näherkommen sah, stand ihr die Panik ins Gesicht geschrieben. Sie rannte weg und versteckte sich im Gebüsch.

Die Erinnerung an diese Episode prägte sich in mein Gedächtnis ein. Als letzte Woche Dutzende Aktivist:innen auf Twitter ein und dasselbe Video des israelischen Fernsehkanals Kan11 teilen, musste ich plötzlich daran denken. Und daran, dass die meisten Palästinenser:innen noch niemals eine:n Israeli ohne Soldat:innenuniform getroffen haben. Sie kennen israelische Soldat:innen meist nur von Checkpoints, Verhaftungen oder ihrem eigenen Zuhause, wenn diese ungeladen nachts einbrechen.

Letzteres könnte sich in der Zukunft zumindest teilweise ändern: In dem einminütigen Video verkündete ein Sprecher der Israel Defense Forces (IDF), diese werden künftig das sogenannte „Intelligence Mapping“ in den besetzten palästinensischen Gebieten einstellen. Nur noch in Ausnahmesituationen soll die Praxis angewandt werden. Der Ausdruck „Mapping“ entstammt dem Militärjargon und ist ein Euphemismus für brutale Razzien, die israelische Streitkräfte seit Jahrzehnten zu geheimdienstlichen Ermittlungszwecken durchführen. Dafür bricht eine Einheit von Soldat:innen bewaffnet und ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl meist zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens in palästinensische Häuser ein – ohne jegliche Verdachtsgrundlage.

Routinen erzeugen Traumata

Die ganze Familie wird geweckt, auch Kinder und ältere Menschen werden aus ihren Betten aufgescheucht. Die Soldat:innen kontrollieren Ausweise, durchwühlen alle Zimmer und machen Fotos von Räumen und Menschen – darunter auch von Kindern, ohne Einverständnis ihrer Eltern. Gelegentlich kommt es zu Sachschäden bis zu physischer Gewalt. Was für die Armeeführung lediglich eine Routineprozedur ist, bedeutet für tausende palästinensische Familien Angstzustände und das Eindringen in den intimsten Raum eines Menschen: das eigene Haus.

Häufig wirken sich diese Erfahrungen stark auf die psychische Gesundheit aus, gerade für Kinder können sie zu schwerwiegenden Traumata führen. Auch israelische Soldat:innen berichten immer wieder von Belastungsstörungen, die sie als Folge der Razzien erleiden. Laut der Menschenrechtsorganisation B`Tselem soll die Armee allein im Jahr 2020 insgesamt 2480 Mal in Häuser in palästinensische Städten und Dörfern eingedrungen sein, allerdings nur ein Teil davon zum „Mapping“. Weitere Gründe waren Suchaktionen von Verdächtigen, Verhaftungen oder die Beschlagnahmung von Häusern für militärische Zwecke.

Seit Jahren kritisieren Menschenrechtsorganisationen diese Praxis als illegitim und unmenschlich. Sie fordern, Razzien nur mit gerichtlichem Durchsuchungsbefehl durchzuführen – wie es in demokratischen Ländern und auch innerhalb israelischer Staatsgrenzen üblich ist, in den vom israelischen Militär kontrollierten palästinensischen Gebieten hingegen nicht. Wiederholt wurde der Vorwurf laut, die systematischen Razzien dienten in erster Linie der Machtdemonstration und kollektiven Abschreckung und würden zu Trainingszwecken von Soldat:innen durchgeführt.

Das legt auch ein Report der israelischen Nichtregierungsorganisationen Yesh Din, Breaking the Silence und Physicians for Human Rights nahe, der im November 2020 erschien. Aussagen von 158 betroffenen palästinensischen Familien sowie 40 israelischen Soldat:innen, die an den Einsätzen beteiligt waren, bringen erschreckende Details zutage. Laut Soldat:innen werden bis zu einem Drittel der Razzien zum „Mapping“ durchgeführt – und das ohne konkreten Verdacht und ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl.

Druck von „linken Organisationen“

Obwohl die IDF dies immer wieder verneint, berichten Soldat:innen, Opfer von „Mapping“ würden Familien, die weder im Verdacht „terroristischer Aktivitäten“ stehen noch sonst irgendwie negativ aufgefallen sind. Oft werden die durchsuchten Häuser ohne konkrete Auswahlkriterien oder Strategie, sondern vollkommen willkürlich selektiert. Das einzige „Vergehen“ der Betroffenen besteht darin, die falsche Nationalität zu haben und zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Im Report berichtet ein Soldat davon, seine Kolleg:innen nach einer Razzia gefragt zu haben, was er nun mit den Infos und Aufnahmen tun solle: Niemand konnte ihm eine Antwort darauf geben – und so löschte er die Fotos der Familien nach einigen Wochen einfach von seinem Telefon.

In besagten Fernsehinterview, das auf Twitter kursierte, wird angeführt, die IDF habe sich auf Druck von „linken Organisationen“ dazu entschlossen, das „Mapping“ abzuschaffen. Es bestehe keine Notwendigkeit mehr dafür, so die Begründung. Als Grund wurden verbesserte Technologien angeführt, mithilfe derer alle relevanten Informationen auch ohne Razzien erhoben werden könnten. Die Armee würde auf diese Weise weniger in das Alltagsleben von Palästinenser:innen eingreifen.

Der Beschluss wurde von den IDF quasi präventiv gefasst, da sie sich sonst in Kürze einer unbequemen Untersuchung durch den Obersten Gerichtshof hätten stellen müssen: Auslöser für die Ermittlung waren Details zur aggressiven Durchführung der Razzien aus dem Report der drei NGOs, welche die IDF zu internen Nachforschungen bewegt hatten. Es hätten demnach laut dem Militäranalysten Amos Harel weder die Regierungsablösung, noch die jüngsten Kämpfe bei der Entscheidung eine Rolle gespielt.                                                                   

Ein Sieg gegen das System

Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl sind kaum zu rechtfertigen und grundsätzlich eine Einladung zum Machtmissbrauch. Wenn sie aber einem zynischen Spiel der IDF dienen, worauf die Beschreibungen der Soldat:innen schließen lassen, ist das schlichtweg ein Armutszeugnis für die Streitkräfte – trotz ihres verzerrten Selbstverständnisses als „moralischste Armee der Welt“.

Dass diese Praxis nun beendet werden soll, ist eine Erleichterung. Aber auch ohne das „Mapping“ wird der Bewachungsapparat gegen das palästinensische Volk in Israel und in den besetzten Gebieten weiterarbeiten, attestiert die israelische Journalistin Amira Hass. Die Sammlung von Informationen und die totale Überwachung eines jeden Schrittes von Menschen sind zentrale Strategien zur Selbstdisziplinierung von Palästinenser:innen, um sie weiterhin im Würgegriff zu halten. Das Panoptikum, ein ausgeklügeltes Gefängnis im Sinne Michel Foucaults, ist und bleibt die Essenz des palästinensischen Daseins. Zu gerne würde ich Hass Diagnose widersprechen, kann es aber nicht.

Und dennoch - trotz aller berechtigter Skepsis ist die Entscheidung der IDF das „Mapping“ zu beenden, nach Jahren von Rückschlägen im Kampf für Menschenrechte in Israel und den palästinensischen Gebieten, ein Sieg gegen das System. Und auch wenn die Entscheidung international bisher wenig Aufmerksamkeit erregt hat, im engen Korsett einer illiberalen Demokratie wie Israel sind auch kleine Errungenschaften wichtig. Nicht nur geben sie denjenigen Israelis Hoffnung, die tagtäglich gegen die Ungerechtigkeit der Besatzung kämpfen. Vor allem für die vom „Mapping“ betroffenen tausendenden palästinensischen Familien bedeutet die Entwicklung Entscheidendes: dass sie jetzt und in Zukunft nicht mehr aus dem Schlaf gerissen werden.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther