09.12.2022
Zum Schreien still
Rechte Gruppierungen verursachen Gewalt, Einschüchterung und Leid und bedrohen die Leben von Menschen – in Deutschland wie in Israel. Grafik: Zaide Kutay
Rechte Gruppierungen verursachen Gewalt, Einschüchterung und Leid und bedrohen die Leben von Menschen – in Deutschland wie in Israel. Grafik: Zaide Kutay

In einer bayerischen Dorfdisco zeigt ein Besoffener den Hitlergruß. Auf den Straßen von Jerusalem grölen Rechtsradikale „Tod den Arabern“. Können wir aufhören, diese Realitäten gegeneinander auszuspielen? Fragt Kolumnistin Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

„Nur geträuuuuumt“ schallt es aus den Lautsprechern. WUMM WUMM WUMM. Wir springen und schwitzen. Blümchen, Neunziger Party, wie geil ist das denn bitte. Es muss vier Uhr morgens sein, als ein Fremder meinen Freund auf der Tanzfläche anstupst. Freundlich nicken sie sich im Takt der Musik zu. Der Fremde zeigt den Hitlergruß.

Tatort: eine Dorfdisco im Ostallgäu. Sekunden verstreichen. Meine Freund:innen und ich sind zu schockiert, um zu reagieren. Dann sprintet einer zur Bar und bittet den Clubbesitzer, dem Typen Hausverbot zu erteilen. Reaktion: Achselzucken, Shit happens, nichts zu machen. Wir rufen die Polizei.

Der Nazi windet sich die Treppe runter aus dem Club auf die Straße, wir ringen mit ihm, versuchen ihn solange aufzuhalten, bis die Polizei kommt. Er entwischt uns, plumpst auf den Beifahrersitz eines Autos. Ein Brummen, das Auto fährt los. Wir fotografieren von hinten das Kennzeichen. Draußen im Frost hat sich eine Menschentraube gebildet. Niemand aus dem Dorf kann unsere Aufregung verstehen. Wir hören „Lasst den Stefan in Ruhe, der war besoffen“ und „Ich find‘s ja auch nicht gut, aber wenn man sich unsere Regierung anschaut…“ Das war vor zwei Wochen. Die Polizei ermittle, heißt es auf unsere Nachfrage hin.

Suche nach Wahrheiten

Wenige Tage später beschließt das Bundeskabinett die „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“, die erste ihrer Art. Die Strategie hat die Bekämpfung von Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens im Fokus. Ein 52 Seiten langes Gelöbnis zur deutschen Verantwortung für die Erinnerung an die Schoah, zur Sicherheit des Staates Israel, zur Sichtbarkeit jüdischer Menschen in Deutschland. Soll mich das beruhigen?

Was bedeutet dieses Gelöbnis für Menschen wie Stefan aus der Dorfdisco? Welchen Wahrheiten fühle ich mich verpflichtet, wo kann ich mich positionieren? Gibt es eine Verbindung zu Israel? Die Zusammenhänge sind verfahren, die innerdeutsche Debatte zu Antisemitismus und Israel hysterisch und irreführend. Während des documenta-Sommers beschuldigte man mit größter Obsession die Veranstalter:innen monatelang des Antisemitismus, während Nazis in der bayerischen Provinz unbescholten ihr Unwesen trieben.

Und während dort der Hitlergruß gezeigt wird, grölen auf den Straßen von Jerusalem immer wieder Rechtsradikale „Tod den Arabern“. In der „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus“ steht hingegen auf Seite Drei, die Bundesregierung arbeite im Kampf gegen Antisemitismus „eng mit Israel zusammen“. Das alles ist doch gaga. Ist das Israel unserer Zeit wirklich der richtige Experte für diese Zusammenarbeit?

Die Brutalität in Israel und den palästinensischen Gebieten hat in den letzten Monaten ein Ausmaß angenommen, das ich noch nie erlebt habe. Israelische und arabische Medien berichten fast täglich über willkürliche Ermordungen palästinensischer Zivilist:innen und gelegentlich auch über den Tod israelischer Zivilist:innen. Im Westjordanland starben in diesem Jahr so viele Menschen wie seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr. Der rechtsextreme Politiker Itamar Ben Gvir bekommt den Ministerposten für innere Sicherheit.

„Ben Gvir kommt und räumt hier auf“, kommentierte ein israelischer Soldat, als sein Kollege in Hebron linke Aktivist:innen attackierte. „Das wars. Ihr könnt einpacken“. Taz-Korrespondentin Judith Poppe schreibt daraufhin auf Twitter: „Ich hab eine Scheissangst davor, was hier noch alles passieren kann“.

Ich auch. Denn genau wie Nazis und ihre schweigenden Mittäter:innen im bayrischen Dorf gehört auch das zu meiner jüdischen und israelischen Lebensrealität – nur findet es im deutschen Diskurs aktuell kaum Erwähnung.

Sicherheit, Freiheit und Würde

Und genau das ist es, was mir gerade Sorgen bereitet – das deutsche Schweigen. Die Berichterstattung über die Lage in Israel und Palästina bleibt bis auf die tiefgründige Reportage von Lea Frehse in der ZEIT zum Schreien still. Vielleicht, weil es so schwierig ist, eine Sprache zu finden, die in diesem verhärteten Konflikt echte Empathie schaffen würde. Oder vielleicht, weil die pro-israelische Linie der Bundesregierung sich trotz Pressefreiheit im Land vermutlich auch in den Köpfen der Menschen und in der Berichterstattung widerspiegelt.

Dabei gibt es Hoffnungsfunken: etwa, dass in der Strategie gegen Antisemitismus zaghaft die Absicht angekündigt wird, „die Menschenrechtslage in Israel und den palästinensischen Gebieten inklusive der andauernden Besatzungssituation differenziert und kritisch zu thematisieren und dabei gleichzeitig der Singularisierung Israels entgegenzutreten“. Dass dabei ehrlicherweise von „Besatzungssituation“ gesprochen wird, ist den Verfasser:innen schon hoch anzurechnen.

Aber bedeutet die in der Strategie versprochene „Sichtbarmachung und Stärkung jüdischer Lebensrealitäten“ in der Konsequenz die Unsichtbarkeit-Machung von palästinensischen Lebensrealitäten?

Ich möchte, dass wir einen Weg finden, all diese Widersprüche und Gedankenstränge zusammen zu denken und zusammen zu bekämpfen. Wir müssen aufhören, sie gegeneinander auszuspielen. Die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt und dass er in ganz Deutschland wuchert und jüdischen Menschen Angst macht, bedeutet nicht, in Israel herrsche keine Apartheid. Die Tatsache, dass in Israel Apartheid herrscht, bedeutet nicht, jüdische Menschen in Deutschland verdienen Antisemitismus. Sichtbarmachung der einen darf nicht auf Kosten der anderen gehen. Die Forderung nach Sicherheit, Freiheit und Würde muss für alle gelten.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy