26.05.2023
Zwischen Resilienz und Überleben
Die afghanische Medienlandschaft hat mit vielen Repressalien zu kämpfen, aber sie ist aktiv und vielfältig in ihren Versuchen, trotz der Taliban zu bestehen. Grafik: Zaide Kutay
Die afghanische Medienlandschaft hat mit vielen Repressalien zu kämpfen, aber sie ist aktiv und vielfältig in ihren Versuchen, trotz der Taliban zu bestehen. Grafik: Zaide Kutay

Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban schaffen afghanische Medien Räume für inklusiven Diskurs und kritische Berichterstattung – ein Ausdruck von Qualitätsjournalismus inmitten eines Überlebenskampfes, findet Mina Jawad.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Anm.d.R.: Die Autorin ist als Trainerin und Beraterin in der Medienentwicklung im Kontext von Afghanistan freiberuflich tätig.

Kurz vor Mitternacht des 30. August 2021 erhoben sich die letzten Militärflugzeuge der US-Armee über dem Kabuler Flughafen. Taliban-Offizielle durchschritten triumphierend die Landebahnen der Hauptstadt, ihren erneuten Sieg im langwierigen Afghanistan-Krieg proklamierend. Eine finale, symbolträchtige Geste, die einen bedeutenden Wendepunkt markierte: Die Republik wurde keine 20 Jahre alt.

Doch die Auseinandersetzung in Afghanistan dauert an – eine Schlacht, in der nicht nur Geschosse, sondern Worte, Bilder und Informationen als Waffen dienen. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen die Medien. Medien, die während der ersten Herrschaft der Taliban in den 90er Jahren eine Ära des Stillstands, sogar des Rückschritts erlebten. Die berüchtigten Restriktionen umfassten das Verbot jeglichen Bildmaterials. Mittlerweile haben die Taliban ihre Position hinsichtlich des Bilderverbots revidiert und präsentieren sich medienaffin. Allerdings setzte innerhalb von nur drei Monaten nach ihrer Machtübernahme die befürchtete mediale Rezession ein. Die Anzahl von Medienunternehmen schrumpfte um fast die Hälfte, über 60 Prozent der Journalist:innen haben ihren Job verloren, davon überproportional viele Frauen. Und trotz Selbstzensur haben die Repressalien keine drei Monate auf sich warten lassen.

Dass Afghanistan nach fast zwei Jahren unter der Taliban-Herrschaft im Press Freedom Index des RSF insgesamt schlecht abschneidet, mag nicht überraschen. Trotzdem führt es das Feld in der unteren Kategorie an. Ein Zustand, der kein Grund zum Feiern ist, dennoch könnte die Situation noch wesentlich schlimmer sein. Dabei geht allerdings völlig unter, wer diesen „Erfolg“ zu verbuchen hat: Es ist ein Ausdruck der Resilienz und des Überlebenskampfes afghanischer Medienschaffenden und Journalist:innen.

Phönix aus der Asche?

Dieser Umstand wird häufig dem Nachhall der wohl wenigen Erfolgsgeschichten der Republik zugeschrieben, in dem die Medienlandschaft regelrecht einen Boom erlebte. 2018 waren mehrere Hundert TV-, Radio- und Printmedien in Betrieb. Doch Quantität allein sagt nichts über den qualitativen Beitrag von Medien zur Demokratie als gesellschaftliche Kontrollinstanz aus. Diese Qualität musste hart erkämpft werden. Journalist:innen und Medienschaffende erlebten massive Repressalien, von Einschüchterungen und Übergriffen bis hin zu Mord. Durch reaktionäre Kräfte – nicht nur Taliban – und korrupte Politiker:innen, die mindestens vom Westen geduldet, teils hofiert, wurden, als auch als Repräsentant:innen der Republik auftraten. In einer weiteren Entwicklung zur Kontrolle des öffentlichen Diskurses gründeten nicht wenige Reaktionäre ihre eigenen Medienkanäle.

Trotz wiederholter Mediengesetz-Reformen, zuletzt 2017, blieben die meisten Verbrechen gegen Journalist:innen nach wie vor ungestraft. Die Republik hat – auch mit ihrem Ruf der freiesten Presse in der Region - ihre Makel. Das CPJ verzeichnete zwischen 2001 und 2021 66 Morde an Journalist:innen. Wichtig ist dabei zu betonen, dass diese erschreckende Statistik die Zahl derjenigen, die in gefährlichen Missionen oder während Kampfhandlungen ihr Leben ließen, nicht berücksichtigt.

Afghanistan illustriert auf makabre Weise die Falle der Selektivität in den Statistiken – eine bizarre Ironie. Das Land wurde wiederholt für seine inhärente Gefahr für Journalist:innen ausgezeichnet.  Ein 2019 im Auftrag der UNESCO erstellter Bericht belegt dies mit harten Fakten, indem er hunderte von nicht-tödlichen Angriffen auf Journalist:innen in Afghanistan innerhalb eines Jahres dokumentiert. Diese Zahlen verdeutlichen die Schwierigkeit, vollständige Realitäten abzubilden.

Medien als treibende Kraft

Die florierende Medienlandschaft war keineswegs nur auf Nachrichtenformate beschränkt. Sie umfasste auch „seichte“ Unterhaltung. Beliebte Satire- und Musikformate knüpften an vergangene Epochen an. In der Satire zeigte sich dies in der Wiederaufnahme der Tradition des „Parche Tamsili“ aus den 1980ern: Die aufgezeichneten Inszenierungen adressierten gesellschaftliche Missstände und übten subtile Kritik an den Regimen. In Castingshows erlebten Folklore, „Amateur“-Pop und Klassik eine Renaissance. Auch die Genderfrage kommt hier ins Spiel: Die Verhandlung geschlechtlicher Performance stellte einen massiven Tabubruch dar, welcher insbesondere unter der konservativen Bevölkerung Kontroversen auslöste.

Es lässt sich durchaus argumentieren, dass in einem Land, das besonders in seinen Provinzen von anhaltenden Kriegszuständen geprägt war, die dominante Produktion und Ausstrahlung von Sendungen aus urbanen Zentren, insbesondere Kabul, sowohl ein Ausdruck von Dekadenz als auch eine Art „Brot und Spiele“ darstellte.

Unterhaltungsformate dienen jedoch nicht nur der Zerstreuung, sie sind höchstpolitisch. In den meisten Diskursen wird die Bedeutung von Kunst als kollektiver Bewältigungsmechanismus völlig unterschätzt. Die Medien schaffen Raum für die Verhandlung und Wahrung von Identität und einen Umgang mit kollektivem Trauma. Bei aller Kritik ist es im komplexen Gefüge Afghanistans den Medien gelungen, den Raum für kritische Berichterstattung und Kulturerzeugnisse zu schaffen und zu verbreiten, mit denen sich die heterogene Bevölkerung Afghanistans mehrheitlich identifizieren kann: laut einer Studie aus 2022 über ethnische und räumliche Grenzen hinweg.

Verhandlungen von Existenz

Die Medien Afghanistans verhandeln auch im Emirat bei aller Widrigkeit ihre Existenz dadurch, ihre Grenzen auszutesten. Bemerkenswert ist etwa, dass der größte Privatsender TOLO trotz strikter Verbote der Taliban von Live-Musik im Dezember 2021 Pop und Klassik mit traditionellen und modernen Instrumenten ausstrahlte. Ausgerechnet in der „Yalda“-Nacht, welcher nach zoroastrischer Tradition den Sieg des Lichts über die längste Nacht symbolisiert. Ein doppelter Affront gegen die Taliban.

Auch der der Schwesterkanal Tolonews fiel mit einer bemerkenswerten Aktion auf: Als die Taliban im Mai 2022 eine Direktive ausgaben, nach der Nachrichtensprecherinnen vor der Kamera eine Maske tragen sollten, reagierte die Redaktion einen Tag vor Inkrafttreten des Erlasses mit einem Protest, bei dem ausschließlich Männer Masken trugen. Der Moderator Zabiullah Sadat ging gar so weit, dass er bei einer Live-Talkshow Masken an die männlichen Gäste verteilte. Als einziger ohne Maske verblieb der Sprecher der Moralpolizei, Sadeq Akif Muhadschir.

Es sind jedoch nicht nur medienwirksame Aktionen, die fast an der Grenze des Aktivismus zu verorten sind, welche die gesellschaftliche Sprengkraft der Medienschaffenden ausmachen. Wer es in den Augen der Taliban mit der offenen Kritik zu weit treibt, droht gar der vollständige Ausschluss durch Verbote und Lizenzentzug, wie jüngst afghanische Exilmedien widerfuhr. Haltung zu zeigen und andererseits den Taliban auch eine Plattform zu bieten, ist die eigentliche Kunst. Diesen Spagat zu vollziehen ist nicht nur Ausdruck eines Überlebenskampfes, denn wer den Taliban keine Plattform bietet, hat keine Chance, überhaupt noch zu operieren. Er ist auch ein Ausdruck von Qualitätsjournalismus und der darin zugrundeliegenden politischen Weitsicht. Kritik aus der Diaspora, es handele sich dabei um eine Kollaboration, ist selbstgerecht und realitätsfern – und verkennt, dass die entlarvenden Fragen und Gegenüberstellungen mit weiteren Gäst:innen, wie etwa Aktivist:innen, Technokraten und ehemaligen Politiker:innen, den Zuschauer:innen selbst die Möglichkeit bietet, Vernunft und Unrecht zu erkennen.

In täglichen Sendungen werden Räume für einen möglichst inklusiven Diskurs geschaffen, um etwa die prekäre Wirtschaftslage, Sicherheitspolitik, Außenbeziehungen, Fragen nach einer inklusiveren Regierung und Frauenrechte zu behandeln. Am Weltfrauentag 2023 strahlte der Sender zwei Sendungen nur mit Frauen aus, welche über ihre Rolle in der mehrheitlich-muslimischen Gesellschaft diskutierten – einschließlich Taliban-Sympathisantinnen. Einige Themen sind durchaus Tabu – etwa jegliche Berichterstattung über mögliche Bürgerkriegsszenarien. Berichte über interne Spannungen innerhalb der Taliban werden höchstens kleinlaut am Rande behandelt.

Materielle Sicherheit

Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass ein Abbild der Themen und Interessen geschaffen wird, welches im Zweifel alle Teile der heterogenen Bevölkerung betrifft. Mit all ihren Ausschlüssen, Ecken und Kanten, gelingt den noch aktiven Medien Afghanistans, die einem enormen Druck ausgesetzt sind, das, woran korrupte Strukturen und die Weltgemeinschaft gescheitert sind: Sie schaffen situative Umrisse eines zivilen Diskurses.

Und damit wurden mehr Stimmen, als an jedem Verhandlungstisch der vergangenen Jahrzehnte, innerhalb und außerhalb des Landes, gehört. Mit all ihren Ausschlüssen ist das Wirken der Medien ein Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe und des Versuchs, der Rolle des Journalismus gerecht zu werden, indem Informationen gesammelt, überprüft und verbreitet werden, und zumindest der Versuch unternommen wird, ihre gesellschaftliche Kontrollfunktion wahrzunehmen.

Schon lange vor der Republik waren die Medien Schauplatz politischer, sozialer und kultureller Umwälzungen. Der Erfolg und die Resilienz afghanischer Medien sind nicht nur Ausdruck harter Arbeit, es braucht auch materielle Sicherheit, um zu überleben. Diese Sicherheit muss gewährt werden, und hier ist auch der Westen in der Bringschuld, ohne den Anspruch zu haben, Einfluss auf Gestaltung und Programmatik zu nehmen. Denn als unmittelbare Betroffene führen die Medienschaffenden am besten vor, wie mit der gegenwärtigen Lage am besten umzugehen ist: Mit Realismus, Haltung und Kritik zugleich.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Raum, Gender und ihren Wechselwirkungen. Ihre Schwerpunkte liegen in postkolonialer Analyse in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Mina Jawad is a freelance writer. She works on the construction of space, gender and their interactions. Her work focuses on postcolonial analysis in...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich