16.03.2018
Gegenwartskunst: Globalisiert, aber nicht universell
Stigma. Morteza Pourhusseini, 2014.
Stigma. Morteza Pourhusseini, 2014.

Der Begriff Gegenwartskunst versucht, Kunstschaffende weltweit auf einem einheitlichen Fundament zu vereinen. Zwei KünstlerInnen aus Iran, die aktuell am Hamburger Kulturfestival „Wundern über tanawo’“ teilnehmen, stellen aber fest: Zwar beeinflusst sich die gesamte Kunstwelt stets gegenseitig, doch der Einfluss des Westens auf nicht-westliche KünstlerInnen ist groß.

Dieser Text erscheint im Rahmen unserer Berichterstattung rund um das Kulturfestival „Wundern über tanawo’“, das vom 15.-24. März in Hamburg stattfindet.
Alsharq ist Medienpartner des Festivals. Hintergründe
haben wir hier aufgeschrieben.
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 Der Begriff Gegenwartskunst vereint alle Kunstschaffenden weltweit. Jedoch baut die Gegenwartskunst ihr Selbstverständnis nicht auf dem Fundament vieler verschiedener, lokaler Elemente auf, sondern ist maßgeblich vom europäischen Konzept der Moderne geprägt. Das ist problematisch, denn so schafft die Gegenwartskunst Hierarchien, die ein europäisches Zeitverständnis und seine ökonomischen und politischen Werte sowie Schönheitsideale bevorteilen.

Nicht-westliche KünsterInnen haben oft das Gefühl, sich diesem Verständnis unterordnen zu müssen, wenn sie Teil davon sein wollen. Gleichwohl kann ein einheitliches Fundament der Gegenwartskunst nützlich sein, um KünstlerInnen global miteinander zu verbinden.

Mit zwei KünstlerInnen, die im Rahmen des iranischen Kunst- und Kulturfestivals Wundern über tanawo’ (Hamburg, 15.-24. März) in der Gruppenausstellung mit (Exil-)KünstlerInnen aus dem persisch-sprachigen Raum zu sehen sind, haben wir über ihr Verständnis von globaler Gegenwartskunst gesprochen. Klar ist für beide, Gegenwartskunst macht es nicht-westlichen KünstlerInnen schwierig, ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit und Inhalten zu etablieren, jedoch bietet sie auch neue Gestaltungsmöglichkeiten, die vor einigen Jahrzenten noch nicht vorstellbar waren.

Morteza Pourhusseini betont, dass die Gegenwartskunst heute viel komplexer sei und mehr kritische Auseinandersetzung mit der Kunst notwendig mache:

Die zeitgenössische Kunst ist in der Zeit des Postmodernismus, das heißt seit den 60er und 70er Jahren bis heute, komplexer geworden. Denn sie beschränkt sich nicht mehr auf eine bestimmte Definition von einer oder zwei künstlerischen Strömungen. Die Medien, die ethnischen und religiösen Minderheiten, LGBTIQ* und der Pluralismus, Auswanderung und viele andere Themen haben die Grenze zwischen der westlichen und östlichen Kunst im Vergleich zu Vergangenheit verblassen lassen. Ein Kunstwerk nimmt seine Form zum Teil von der künstlerischen Gesellschaft seiner Zeit, auch die Strömungen, die die westliche Kunst bestimmen, spielen eine wichtige Rolle für die entstehenden Kunstwerke – auch in Bezug auf die iranische Kunst. Ich habe immer versucht, mich über die zeitgenössische Kunst zu informieren und mich gleichzeitig von Definitionen fernzuhalten, welche das Ergebnis des kollektiven Geschmackes sind; stattdessen möchte ich die Individualität der Kunstschaffenden bewahren und so meine Definition von zeitgenössischer Kunst darstellen.“

Pourhusseini zufolge gibt es demnach kein ein universelles, ökonomisches und politisches Wertesystem, aus dem GegenwartskünsterInnen schöpfen. Stattdessen kommt es auf die sozio-politischen Kontexte an den Orten an, an denen sie leben und arbeiten. Somit stellen sich KünstlerInnen sehr unterschiedliche Fragen und teilen nicht das gleiche Verständnis davon, was schön ist und was berührt. Hoda Zarbaf sieht den westlichen Einfluss gelassener. Für sie ist Gegenwartskunst vor allem: Kunst von heute und besonders vielschichtig.

Es ist eine inklusive Kombination von Formen, Konzepten und Stilen. Typischerweise treten manche Formen in populären Kunstszenen hervor und erreichen mit der großen Hilfe von Online-Medien ein breites Publikum. Ich persönlich habe beispielsweise gelernt, Mode nicht mit einer Bewegung zu verwechseln, deshalb verstehe ich auch Trends in der Kunst nicht als eine Erwartungshaltung der Kunstwelt. Gegenwartskunst tendiert dazu, vielfältig zu sein, schnell und vielschichtig und auf eine Art fühle ich mich als der Nachwuchs dieser Vielschichtigkeit. Ob ich damit identifiziert werden möchte oder nicht, ich bin damit sehr verbunden. Das Kunstpublikum heute reagiert besser auf „relevante“ soziale, politische und sexuelle Subjekte, das kann für den/die KünstlerIn schwierig sein, weil es vermittelt, dass er/sie ausschließlich Kunst zu aktuellen und themenbezogenen Inhalten schaffen muss. Trotzdem, ich glaube, dass die meisten KünstlerInnen – wenn nicht alle – Ideen der gegenwärtigen Zeiten hinterfragen, kommentieren, einfangen, transformieren oder kritisieren. Ich möchte glauben, dass Gegenwartskunst fortschrittlich ist und eine Bandbreite von Mechanismen zur Konstruktion und Manifestierung seiner Ziele aufnimmt.“

Die Herausforderungen der Gegenwartskunst liegen nach Zarbaf weniger in ihrem Universalanspruch, sondern eher darin, sich zwischen den vielfältigen Stilen, Formen und Konzepten zu positionieren und zu etablieren. Das lässt den Eindruck erwecken, Kunst sei ein großer Spielplatz, auf dem KünstlerInnen viele verschiedene Spiele spielen und dabei Spaß haben können. Verkennt diese Aussage nicht die Macht und den Einfluss, den der internationale Kunstmarkt auf junge und besonders nicht-westliche Künstler hat?

Mortezar Pourhosseini wurde bereits mit bestimmten Erwartungen der westlichen Kunstszene an nicht-westliche KünstlerInnen konfrontiert. Diese Erwartungen sind oft mit post-kolonialen Räumen verbunden und mit exotisierten Vorstellungen ebendieser überladen.

Die westliche zeitgenössische Kunst hat viel Einfluss und eine prägende Wirkung. Aus ihr entsteht ein Monopol über weite Teile der Gegenwartskunst. Der wichtige Punkt ist aber: Damit ein künstlerisches Werk nicht unter übliche Definitionen fällt und seine Identität bewahrt und somit den Wünschen der Gesellschaft und den politischen und wirtschaftlichen Mächten nicht die gleichen Antworten gibt, muss man seine Einstellung und seinen Bezug zur zeitgenössischen Kunst immer wieder hinterfragen. Darum müssen wir kritische Aspekte erkennen, wie zum Beispiel Klischees und Exotisierung. Es gibt bestimmte Klischees, die man von einem Land wie Iran erwartet. Ich versuche die Begriffe wie Glaube, Religion und Gewalt aus meiner eigenen Sicht – fern von üblichen Klischees – aus Irans Gegenwartskunst heraus zu erklären.”

Hoda Zarbad betont aber auch die Bereicherung, die Gegenwartskunst durch den iranischen Einfluss erfahren kann:

Eine große Anzahl von Werten, die universell in der Kunstszene (und auch generell) gesetzt werden, sind westlich. Verallgemeinert ist jede Form von offengelegten Manierismus/Eigentümlichkeiten exklusiv und begrenzend. In diesem Fall ist das besonders für KünstlerInnen, die im Osten praktizieren, zutreffend. Ich gebe ein Beispiel: Iran ist eine Zivilisation mit einer umfangreichen künstlerischen Geschichte der Poesie. Die Konsequenz ist, dass die Arbeit der heutigen iranischen KünstlerInnen durch Sprache und Literatur auf objektive oder subjektive Art bereichert ist. Aber der Großteil der Gegenwartskunst, die im Westen praktiziert wird, ist eine non-narrative und abstrakte Kunst, also scheint hier eine Lücke zu sein, die gefüllt werden muss. Ich finde, wir müssen diese Lücke durch Dialoge, Kritik und Beobachtung füllen, statt sie mit Ausweichen und Ignoranz zu füttern.”

Im internationalen Kontext überwiegt die kulturelle Hegemonie des Westens auf dem Kunstmarkt. Das von Joseph Nye aufgestellte Konzept der „Soft Power”, mit dem in den 50er und 60er Jahren die westliche „Wertevermittlung” über Kunst und Kultur stattfinden sollte, hatte zuvorderst ein Ziel: Kapitalismus verbreiten und dem Kommunismus entgegenwirken.

Die Strategie war äußerst erfolgreich. Die westlichen Werte und Vorstellungen von dem, was schön ist, beeinflussen, welche*r KünstlerIn erfolgreich sein wird und welche*r nicht. Noch weiter ausgebaut wird der westliche Einfluss durch die internationalen Kunstmessen, die seit den frühen 2000ern von London und New York mittlerweile auch in nicht-westliche Metropolen getragen wurden. Hier ist Kunst angepriesen, verkauft und gefeiert worden, die ein kapitalistisches und imperialistisches Antlitz trägt und internationale Kunstmessen sind damit Teil eines globalisierten, neo-kapitalistischen Spielplatz geworden.  

Front Camera, Back Camera; Hoda Zarbaf Front Camera, Back Camera; Hoda Zarbaf

 

 Demnach setzt sich Gegenwartskunst nicht nur kritisch mit bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen auseinander, sie ist genauso ein Teil ebendieser Strukturen. Das bedeutet: Gegenwartskunst kann zwar offen, kritisch und undogmatisch sein, aber sie hilft auch, bestehende Systeme und Ungerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Eine KünstlerIn der Gegenwart zu sein ist also immer eine Gratwanderung: Ist man zu kritisch, hat man schlechte Karten, durch Kunst Geld zu verdienen. Ist man zu angepasst, wirkt man destruktiv auf das eigene Schaffen und die Kunst der Gegenwart. Vielleicht schaffen die nicht-westlichen KünstlerInnen die Gratwanderung und können damit die Gegenwartskunst kritischer und wahrhaftiger machen.  

Morteza Pourhosseini schafft Brücken zwischen künstlerischen Praktiken der Vergangenheit und Gegenwart. Seine hyperrealistische Bildsprache verweist auf Mysterien, die hinter dem eigentlichen Bild verborgen sind. Statt Emotionen zur Schau zu stellen, beherbergen Pourhosseinis zeitlose Porträts Momente subtiler Anspannung. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten stehen der Mensch und das Dilemma seiner Begrenztheit. Das narrative Konzept mündet in der Beschäftigung mit Religion und deren Instrumentalisierung im Zuge von Kriegen: Der Mensch reizt seine Grenzen dort aus, wo er andere zu Opfern macht.

Hoda Zarbaf haucht recycelten Gegenständen, gebrauchter Kleidung, verlassenen Möbeln und verwaisten Puppen neues Leben ein. Umgestaltet und neu komponiert, fangen diese den Körper in entblößenden Momenten ein und verbildlichen Schmerz, Vergnügen, Blut, Geburt oder andere Eindrücke körperlicher Entladung. Weiblichkeit wird zum zentralen Motiv, das im (Selbst-) Porträt einer Frau mündet, einsam und unverhüllt. Hoda Zarbafs Arbeiten wurden u.a. in der Aaran Gallery Tehran, auf der Governors Island Art Fair in New York und bei Walnut Contemporary in Toronto gezeigt.  

Weitere Gedanken dazu, Wie koloniale Ideale unsere Schönheitsvorstellungen bis heute bestimmen, hat Alsharq-Kolumnistin Moshtari Hilal in der aktuellen  Kolumne „Des:orientierungen“ aufgeschrieben. Auch von Moshtari Hilal sind im Rahmen der Gruppenausstellung bei Wundern über tanawo‘ Werke ausgestellt.  

Das Festival „Wundern über tanawo“ findet vom 15. – 18. März 2018 in Hamburg statt. Mehr Informationen zum Festival und zum Programm unter www.tanawo-festival.org   

Corinna ist 2016 während Forschungsaufenthalten in Israel und Palästina zu Alsharq gestoßen. Nach ihrem Master in Peace and Conflict Studies an der University of St. Andrews hat sie sich in ihrem zweiten Master in Comparative Political Thought an der SOAS im Bereich Postcolonial Studies und Philosophy of Time spezialisiert. Bei Alsharq arbeitet...
Redigiert von Bodo Straub