23.05.2021
„Arabischer Frühling“ – Kritik eines Narratives
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir

Dieses Jahr findet die Vortragsreihe „10 Jahre sogenannter Arabischer Frühling – eine kritische Auseinandersetzung“ statt. Hier merkt das Organisationsteam KIARA an, welche Schwierigkeiten der Begriff „Arabischer Frühling“ mit sich bringen kann.

Die überregionale Hochschulgruppe KIARA (Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen) setzt sich kritisch mit Theorie und Forschung zu WANA auseinander und organisiert dafür die aktuelle Vortragsreihe „10 Jahre sogenannter Arabischer Frühling". Im Rahmen einer Kooperation zwischen KIARA und dis:orient werden hier ausgewählte Beiträge zu den Veranstaltungen veröffentlicht.

Etwa zehn Jahre ist es jetzt her, dass in vielen Ländern Westasiens und Nordafrikas (WANA) Zehntausende Menschen auf die Straßen drängten und politische wie wirtschaftliche Forderungen stellten. In einigen Ländern wie Tunesien, Ägypten oder Libyen, führten die Protestbewegungen zu Regimestürzen. Andernorts, darunter in Syrien, Jemen oder Bahrain, bäumten sich die alten Regime auf oder die Länder versanken in anhaltenden Kriegen.

Auch wenn die Forderungen der Protestierenden und der Ausgang ihres Aufbegehrens unterschiedlich waren, tauchte in internationalen Medien und Policy Briefings bereits zu Beginn der Protestbewegungen ein Begriff auf, der den vielschichtigen Ereignissen ab 2010/2011 eine gemeinsame Lesart verpasste: der „Arabische Frühling“.

Auch heute, zehn Jahre nach den Protesten, ist dieser Begriff Teil der Berichterstattung. So heißt es etwa „Vom Arabischen Frühling in den Covid-Winter“ oder auch „Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling: Fast überall Chaos“. Der Begriff „Arabischer Frühling“ macht jedoch vor allem globale Machtungleichheiten deutlich und zeigt, wie sie hinsichtlich der Erzähler:innenperspektive (begrifflich) reproduziert werden.

Willkommen in „Arabien“?

Der Begriff des „Arabischen Frühling“ suggeriert ein homogenes arabisches „Volk“ und verkürzt die gesellschaftlichen Realitäten in WANA. Diese Verkürzung prägt spätestens seit der Kolonialzeit das europäische Verständnis der Region.

Die gesellschaftliche Vielfalt in WANA wird dadurch negiert – Ezid:innen, Kurd:innen, Aramäer:innen oder Imazighen kommen in dieser Lesart nicht vor.

Auch lässt der Begriff marginalisierte Stimmen verstummen, die grundsätzlich um ihre Existenzberechtigung und Repräsentation kämpfen müssen. Seit Jahrzehnten setzen sich beispielsweise Kurd:innen für ihre Anerkennung ein. Viele Regime in WANA versuchen seit geraumer Zeit nicht nur, die kurdische Sprache auszulöschen. Auch die Möglichkeit, sich politisch zu organisieren, wird vielen Kurd:innen verwehrt. Stattdessen droht Verbot und Verfolgung.

Gleichzeitig konnten sich Selbstbestimmungs- und Anerkennungspolitiken bei den Aufständen 2011 Gehör verschaffen: In Ägypten etwa, nahmen viele Nubier:innen an den Protesten gegen Hosni Mubarak teil, erlangten ein neues Selbstverständnis ihrer Identität, aber identifizierten sich in ihrem Protest gleichzeitig als Ägypter:innen.

Von Prag nach Tunis in einem Pinselstrich

Während der Begriff „Arabisch“ die Komplexität der Gesellschaften in WANA verkennt, hat das Problem mit dem „Frühling“ mit Assoziationen zu tun: Frühling – das klingt nach Beginn, nach „alles neu macht der Mai“ und markiert die Abgrenzung zum kalten Winter. Damit werden zahlreiche widerständische Bewegungen und ihre jahrzehntelangen Kämpfe unsichtbar gemacht.

In den 1970er Jahren organisierten sich beispielsweise Menschenrechtsaktivist:innen und andere politische Gruppierungen in Syrien, die sich sowohl anti-kolonialistisch als auch gegen das Baath-Regime positionierten. Auch die Bevölkerung in Westsahara kämpft für ihre Unabhängigkeit und gegen die völkerrechtswidrige Besatzung durch Marokko. Und das nicht erst seit 2011, sondern seit nun mehr als 40 Jahren.

Auch weckt der Begriff im europäischen Kontext Erinnerungen an den „Prager Frühling“ von 1968 und versucht historische Parallelen aufzuzeigen, die einer bestimmten, eurozentrischen Lesart folgen. Historisch lässt sich glatt auch noch der Frühling der Völker erwähnen, welcher schon von dem Franzosen Jacques Benoist-Méchin als Vergleich herangezogen wurde, als er sein Buch „Un Printemps Arabe“ (Ein arabischer Frühling, veröffentlicht 1959) schrieb. Mit diesem Buch tauchte der Begriff überhaupt erst auf – der Arabische Frühling. Benoist-Méchin versucht, Revolte der Region mit denen in Westeuropa 1848 zu verknüpfen. Diese Kontinuität einer machtvollen Erzähler:innen-Perspektive aus dem Globalen Norden, welche Ereignisse in der WANA-Region zu greifen und folglich immer auch zu definieren versucht, müssen wir beachten.

The New York Times Magazine schreibt schon im Jahr 2003 von einem „Arab spring“, in einem Kommentar mit dem Titel „Dreaming of Democracy“ (zu dem Zeitpunkt der US-Invasion im Irak und des folgenden Krieges sei dies aber unwahrscheinlich). Dabei wird die Hoffnung deutlich, die Region möge doch auch „endlich“ einmal zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild gelangen.

Mit welchen Mitteln diese Freiheit zu erreichen sei, machte 2011 der damalige britische Premierminister David Cameron in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich: Cameron versuchte die Geschehnisse in Nordafrika als einen Beleg dafür zu nutzen, dass Islam und westliche Werte kompatibel seien.

Westliche Werte, keine demokratischen Werte. Eine endogene, demokratische Veränderung in WANA, die nicht direkt von ihm kontrolliert wird, widerstrebt dem Globalen Norden und seinem hegemonialen Machtanspruch. Daher wird durch eine Kontrolle und Rahmung des Diskurses versucht, die Hoheit über diese außerhalb seiner Reichweite liegenden Entwicklungen zurückzugewinnen.

Die Protestbewegungen werden zwar zum Teil gelobt, dabei wird ihnen aber jeder eigenverantwortliche Charakter abgesprochen. Der Globale Norden äußert sich paternalistisch und ist stolz darauf, dass Länder in WANA „endlich“ die ersten Schritte gen Demokratie, welche dem Globalen Norden eigen sei, gehen. Gleichzeitig nutzt Cameron in seiner Rede ein Bild eines politischen Islams und bestärkt den Eindruck, Ereignisse in WANA müssten direkt mit einem politischen Islam in Verbindung gesetzt werden. Dabei werden erneut die Forderungen für soziale Gerechtigkeit, die das Kernstück der Proteste bilden, vernachlässigt.

Fällt eine Entwicklung aus dem Schema des Globalen Norden und ist aus seiner eigenen historischen Entwicklung nicht nachvollziehbar, werden die Geschehnisse als Chaos gedeutet, welches für WANA ja sowieso typisch sei. Die Gründe für diese Situation werden dabei in den autokratischen, diktatorischen oder religiös verblendeten Regimen in WANA gesucht. Durch eine solche Argumentation wird sich im Globale Norden von jeglicher Verantwortung freigemacht.

Die eigene koloniale Vergangenheit wird nicht aufgearbeitet und die vielfache Verstrickung in gesellschaftliche Konflikte in WANA heute, beispielsweise durch die fortwährende finanzielle Unterstützung autoritärer Regime, unterschlagen. Der Globale Norden inszeniert sich als Zentrum des Wissens und der Macht. Er ist es, der die Entwicklungen in anderen Regionen definiert.

Vom Versuch einer Begriffsfindung

Auch in WANA nutzten und nutzen einige Aktivist:innen den Begriff „Arabischer Frühling“. Doch der Begriff wird teilweise auch stark kritisiert: Schon im August 2011 wies der libanesische Journalist Rami Khouri in THE DAILY STAR auf die orientalistische Konnotation hin und forderte Medien des Globalen Nordens auf, den Begriff nicht mehr zu nutzen. Vielmehr plädiert er für „arab citizen revolt“ und setzt damit den Fokus auf die Forderung nach allgemeinen Bürger:innenrechten.

Insgesamt wird häufiger jedoch das Wort Ṯaura (Revolution) benutzt. An dieser Stelle lässt sich erwähnen, dass der Begriff der Revolution Komplexität zulässt, wohingegen der Frühling einen klaren Platz in der Abfolge der Jahreszeiten hat. Im Falle der Protestbewegungen in Syrien wird oft von einer Azma (Krise) oder in Jemen von den Aḥdāṯ al-Yaman (Ereignisse im Jemen) gesprochen.

Religiös-fundamentalistisch konnotierte Begriffe sind beispielsweise Fitna (etwa: Volksverhetzung) oder ʿAudat al-Ḫilāfa (die Rückkehr des Kalifats). Die Vielfalt der Begriffe spiegelt die unterschiedliche Wahrnehmung, Deutung und Konsequenzen der gesellschaftlichen Prozesse für die Betroffenen wider.

Es ist also wichtig Komplexität zuzulassen und Machtverhältnisse zu beachten und versuchen, aufzubrechen. Dazu gehört auch, nicht immer von außen alles besser wissen zu wollen. Machtkritik muss hier praktisch mit dem Überwinden von eurozentrischen Deutungen, generalisierenden Sichtweisen und vorschnellen Fehldiagnosen zusammen gedacht werden. Dafür bleibt es an der Zeit, sich kritisch mit dem Begriff „Arabischer Frühling“ auseinandersetzen.

In unserer Vortragsreihe greifen wir den Begriff „Arabischer Frühling“ zwar im Titel auf, möchten dies aber als Ausgangspunkt und Anregung für Kritik nutzen.
Rein für die Organisation, entschieden wir uns, den Begriff mit der Ergänzung „sogenannter“ zu verwenden. Dadurch erhoffen wir uns, auch ein Publikum zu erreichen, das mit Begriffen wie „Aufstände in WANA“ oder „Arabellion“ wenig anfangen kann.

Unsere Auftaktveranstaltung nutzten wir dazu, auf die Problematisierung des Begriffes einzugehen. Die Idee: Nicht unkommentiert Alternativen bieten, sondern durch den Begriff „sogenannter Arabischer Frühling“ einen öffentlichen Raum für Veränderung, Reflexion und Kritik erlauben. Gleichzeitig kann uns dieser Raum eine ernsthafte Auseinandersetzung ermöglichen: Wie können wir kreativ sein, die Ereignisse nicht mit veraltetem, ungenauem Vokabular zu betiteln? Wie können wir auch jetzt noch Revolution begreifen?

Der französisch-libanesische Politikwissenschaftler und Soziologe Gilbert Achcar schlug anlässlich des „Zehnjährigen“ vor, von der „ersten Dekade des arabischen revolutionären Prozesses“ zu sprechen. Ein Begriff, der nicht nur auf das Begreifen der Ereignisse vor zehn Jahren beschränkt. Er erinnert uns auch daran, dass es um das Formulieren in der Gegenwart geht. Denn sie trägt nach wie vor verschiedene Hoffnungen der Revolution in sich.

 

 

Sören Lembke studiert derzeit Soziologie und Arabistik und Islamwissenschaften an der Universität Leipzig und ist aktiv in der Gruppe „Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen" – kurz KIARA. Er interessiert sich besonders für postkoloniale Ansätze in der Soziologie und der Islamwissenschaft und Dekolonialismus.
Redigiert von dis:orient