27.09.2025
Eine Performance über Krieg und moderne Sklaverei
Das Theaterstück "When I saw the Sea" behandelt die Situation von Arbeitsmigrant:innen im Libanon. Foto: Wanda Siegfried
Das Theaterstück "When I saw the Sea" behandelt die Situation von Arbeitsmigrant:innen im Libanon. Foto: Wanda Siegfried

Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel traf eine Gruppe ganz besonders: Arbeitsmigrant:innen. Künstler:innen aus dem Libanon haben sich diesem Thema gewidmet. Dis:orient besuchte die internationale Premiere von „When I Saw The Sea“.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Ich glaube nicht an die Kraft der Kunst, die Leben von Menschen völlig zu verändern. Aber sie kann anstoßen, sie kann Veränderung stimulieren.“

An diesem warmen Sommerabend des 2. Junis herrscht reger Betrieb vor dem Hebbel am Ufer (HAU), der große Theatersaal ist ausverkauft. Die vergleichsweise jungen Besucher:innen verweilen auf den kühlen Treppenstufen vor dem Theater. Einige Menschen tragen Kuffiyehs, es wird Arabisch, Deutsch und Englisch gesprochen, die Stimmung ist erwartungsvoll. Pünktlich um 18 Uhr bewegt sich die Menschenmenge aus der Abendsonne ins Innere des Gebäudes. Angekommen auf den Plätzen strahlt das Scheinwerferlicht den Zuschauer:innen direkt ins Gesicht. Einige schützen sich mit kleinen Programmheften, die am Eingang ausgehändigt wurden, andere bedecken ihre Augen mit einer Hand. Durch das direkte Licht wird der Nebel, der vom hinteren Teil der Bühne aus durch den Saal wabert, noch sichtbarer. 

Die Performance fängt an: Die Scheinwerfer gehen aus und eindringliche Klänge dröhnen aus den Boxen. Es ist so laut, dass man sich – wie vorher die Augen – nun die Ohren zuhalten will. Der Klang erinnert an die Einschläge von Bomben, an Trommeln und an Donner – alles zusammen. „Hi Ali, wie geht es dir?“, fragt eine Stimme auf Arabisch ins Dunkel. Er antwortet: „Uns geht es nicht gut.“ „Ali, wie waren die letzten Tage?“, fragt eine weitere Stimme. Die Stimmen vervielfachen sich, es entsteht ein Gewirr aus Fragen und Antworten. Es sind Sprachnachrichten des Choreografen der Performance, Ali Chahrour, seinen Freund:innen und Familienangehörigen. Sie geben einen Einblick in die chaotische Situation im Libanon während des Krieges. Alis Familie stammt aus der Nähe von Nabatieh, einer Stadt im Süden des Libanon, die durch ihre Nähe zur Grenze besonders von den israelischen Angriffen betroffen war. „Israel will uns zerstören“, spricht es aus einer nächsten Sprachnachricht, begleitet von dem Klang einschlagender Raketen. 

Entrechtet im Libanon

Plötzlich verstummt alles. Ein Scheinwerfer richtet sich auf die Bühne und erhellt eine junge Frau. Rania erzählt auf Arabisch ihre Lebensgeschichte: Sie ist im Libanon geboren, Tochter einer Arbeitsmigrantin, die sie selbst niemals kennenlernen konnte. Sie fragt sich laut, was aus ihrer Mutter geworden ist. Plötzlich brechen ihre Spekulationen ab. Sie blickt nach hinten in den Saal. Eine weitere Frau kommt auf die Bühne. Sie singt, im Stil von Fairuz, über die Geschichte einer Frau, die versteckt wurde. Soll sie Ranias Mutter darstellen?

Zwei weitere Frauen werden durch das sich immer weiter ausbreitende Licht auf der Bühne sichtbar. Sie beginnen zu singen, die ostafrikanischen Klänge und Gesänge vermischen sich mit dem noch immer andauernden arabischen Gesang. Teile des Gesangs werden durch Übertitel übersetzt, andere Teile bleiben für viele Zuschauer:innen unverständlich. Eine der Frauen fällt erschlafft zu Boden. „Mein Land schlägt in meiner Brust“, sagt sie, während die andere Frau sich besorgt an ihre Seite setzt. Die besorgte Frau ist Zena. Sie erzählt von ihrer Kindheit und der Migration in den Libanon, von ihren Kindern und dem Leben als Mutter. Musik prägt wieder das Geschehen, die libanesischen Klänge vermischen sich mit dem Gesang der dritten Frau. Sie stellt sich als T’enei vor. Sie kam nach dem Tod ihrer Mutter zum Arbeiten in den Libanon.

T’eneis Stimme wird immer leiser, bis sie schließlich von den Klängen eines arabischen Liebesliedes aufgesaugt wird. Die Stimmung scheint plötzlich gelöst: Trommeln, Schellen und Gesang füllen den Raum, bevor wieder traurigere Klänge angestimmt werden. Die Musiker:innen, die sich bisher hauptsächlich im Hintergrund aufgehalten haben, kommen nach vorne und musizieren weiter, während Zena auf das erhöhte Podest der Musiker:innen tritt. Alle Lichter werden schwächer, nur ein Scheinwerfer beleuchtet ihr Gesicht. Es herrscht Stille, die kurz darauf von tosendem Applaus gebrochen wird. 

Wer verschließt die Augen? 

Im Anschluss an die Performance treffen sich Ali Chahrour und Zena mit der Kuratorin Petra Poelzl auf der Bühne des HAU. Ali Chahrour sagt zu Beginn lachend, er habe es genossen, wie die Zuschauer:innen beim Eintritt in den Saal ihre Augen zum Schutz vor dem Scheinwerferlicht bedeckten. Für ihn sei das eine Metapher zur Realität in Gaza, vor der sich die Deutschen ebenfalls verstecken würden. Er spielt damit auf den Verlust der Glaubwürdigkeit Deutschlands in vielen Ländern WANAs seit dem 7. Oktober 2023 an.

Chahrour erzählt vom ersten Aufeinandertreffen mit Zena: Nach den israelischen Angriffen im Libanon verließen zahlreiche Libanes:innen das Land und ließen ihre Haushaltsangestellten, die im Kafala-System wie Sklav:innen leben, zurück. Als Kafala-System wird die Struktur bezeichnet, in der viele Migrant:innen, unter anderem im Libanon, arbeiten. Ihre Hausherr:innen verbürgen sich für ihre Visaregularien, beanspruchen im Gegenzug aber die volle Kontrolle über die Körper und Kräfte der Arbeiter:innen. Sie entziehen ihnen häufig direkt nach der Ankunft persönliche Gegenstände, wie Handys und Dokumente. Mittellos und ohne Reisepässe haben die Angestellten keine Möglichkeit, zu flüchten und freie Entscheidungen zu treffen. Als die Angriffe auf Beirut zunahmen, flohen viele von ihnen zum Meer – einen geschützten Raum gewährte man ihnen nicht. Eine dieser Arbeiter:innen war Zena. An diesem Tag sah sie zum ersten Mal das Meer. Nur wenige Gehminuten von den Einschlägen israelischer Geschosse entfernt lernte sie Ali kennen, der sich zufällig auch dort befand. Auf einer Bank erzählte sie ihm ihre Lebensgeschichte: „Er war der Erste, der mir zuhörte“. 

Sie entdeckt durch Ali das Theater und findet Gefallen daran. Sie und die anderen Künstler:innen lernen sich kennen, werden wie eine Familie und teilen viele Emotionen miteinander. Dennoch arbeitet Zena nach wie vor als Haushaltshilfe. Erst nachdem ihre Mister and Madame, wie die Haushaltshilfen ihre Vorgesetzten häufig nennen, zu einer Aufführung in Beirut kamen, hätten sie Zena tatsächlich als Mensch gesehen, erzählt sie.

Die Erstaufführung von When I Saw The Sea erfreute jedoch nicht alle Zuschauer:innen. Einige kritisierten, Chahrour würde die libanesische Gesellschaft vor internationalem Publikum schlecht darstellen. Der Fokus liege falsch, er solle auf der gewaltvollen kolonialen Vergangenheit, und nicht auf dem gegenwärtigen Kafala-System liegen. Ali habe ihnen damals entgegnet, dass diese Leute erst einmal vor ihrer eigenen Tür aufräumen sollten – er kritisiere schließlich nur die tatsächlichen Zustände. Außerdem sei die Performance keine Darstellung eines rein libanesischen Problems: Überall auf der Welt gebe es ausgegrenzte und entrechtete Menschen, die als Andere betrachtet und in diesem System arbeiten würden. 

Theater ist keine Wohltätigkeitsorganisation

Petra Poelzl und Ali sprechen auf Englisch. Er übersetzt für Zena, die ihre Fragen auf Arabisch beantwortet. Zena erzählt, dass sie nach den Aufführungen vermutlich wieder als Haushaltshilfe arbeiten wird – ihre Haupteinkommensquelle im Libanon. Gibt es zwischen Ali, dem international renommierten Performance-Choreografen und Zena, die durch dieses Projekt zum ersten Mal mit dem Theater in Kontakt kam – und vermutlich nicht in der schillernden Welt der Künste verweilen wird – ein Machtgefälle? In dem Interview, das dis:orient mit Ali geführt hat, antwortet er, dass er intensiv daran arbeite, keine Hierarchien entstehen zu lassen. Die Erstellung der Choreografie sei ein kollaborativer Prozess gewesen, er gebe nichts vor und sei nur für das Schaffen einer angenehmen Atmosphäre verantwortlich.

Er stellt aber dennoch klar, dass das Theater keine Wohltätigkeitsorganisation sei. Es gebe Verträge, die den Zeitraum der offiziellen Zusammenarbeit klar festlegen. Auch sei es ihm wichtig, Zena nicht als Opfer anzusehen, denn das sei sie nicht mehr: Sie habe einen libanesischen Pass, ihre Kinder hätten Zugang zu guter Bildung. Sie habe hart dafür gekämpft und würde sich auch selbst nicht als Opfer fühlen. Auf die Frage, was er mit der Performance erreichen wolle, antwortet Ali mit Bezug auf den veränderten Blick von Zenas Vorgesetzten, dass die Künstler:innen-Truppe einiges stimulieren könne. 

Eine Frage bleibt: Kann die jahrzehntelange Geschichte von Entmenschlichung und die darauffolgende, lang erarbeitete Emanzipation für die Zusammenarbeit in den Hintergrund gestellt werden, während sie im Zentrum der Performance steht? Denn das schafft die Performance brillant: Sie stellt die Geschichten der Arbeitsmigrant:innen ins Zentrum und führt damit dem Publikum die Ungerechtigkeit und Menschenfeindlichkeit des Kafala-Systems sowie aller unterdrückenden Systeme schonungslos vor Augen.

 

 

 

 

Sören Lembke studiert Soziologie und Islamwissenschaften und war aktiv in der Gruppe „Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen" – kurz KIARA. Er interessiert sich für arabische Ideengeschichte und post- und dekoloniale Ansätze in der Islamwissenschaft.
Wanda studierte in an der Universität Zürich, der Freien Universität Berlin und der Boğaziçi Üniversitesi Islamwissenschaft, im Master mit Schwerpunkt Islam in Europa. Sie hat ausserdem länger in Ägypten und im Libanon gelebt. Heute lebt sie in Zürich und arbeitet im Campaigning. Sie ist seit 2023 bei dis:orient und wirkt momentan vor allem beim...
Redigiert von Claire DT, Martje Abelmann