28.04.2023
Das Abhängigkeits-aus
Sollte Kais Saied den Deal mit dem IWF tatsächlich verhindern wollen und können, müsste er Alternativen finden, wie das Land dem Bankrott entgehen kann. Grafik: Zaide Kutay
Sollte Kais Saied den Deal mit dem IWF tatsächlich verhindern wollen und können, müsste er Alternativen finden, wie das Land dem Bankrott entgehen kann. Grafik: Zaide Kutay

Der tunesische Präsident tut gut daran, einen weiteren IWF-Kredit abzulehnen. Doch solange er die politische Mitbestimmung im Land weiter abbaut, wird er die Wirtschaftskrise nicht lösen, glaubt Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Die knapp zweijährige Amtszeit des tunesischen Präsidenten Kais Saied hat bisher kaum positive Nachrichten hervorgebracht: Er hat das Parlament entmachtet, oppositionelle Journalisten und Politiker festnehmen lassen und gegen Migrant:innen aus Subsahara-Afrika gehetzt, um von den wirtschaftlichen Problemen im Land abzulenken. Er regiert per Dekret und hat Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen gegen sich aufgebracht. Mit seiner jüngsten Entscheidung, den Sparmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds eine Absage zu erteilen, hat Saied aber ausnahmsweise etwas richtig gemacht. Anfang April verkündete der 65-jährige Jurist, dass „Vorschriften von außen“, die zu mehr Armut im Land führen würden, inakzeptabel seien. Sein Land stünde „nicht zum Verkauf“, so Saied. Sollte der geplante Zwei-Milliarden-Euro-Deal mit dem IWF nicht zustande kommen, müsse Tunesien sich auf sich selbst verlassen, fügte er hinzu.

Tatsächlich wäre die Abkehr vom IWF eine wichtige Grundlage für die politische Selbstbestimmung der tunesischen Bevölkerung. Denn die Jahre seit der Revolution 2011 waren zwar von größerer Meinungsfreiheit und der Demokratisierung des politischen Prozesses gekennzeichnet: Neue Parteien wurden gegründet, Wahlen fanden auf regionaler und nationaler Ebene statt. Für die gemeinsame, kompromissbereite Aushandlung einer neuen, demokratischen Verfassung erhielten die beteiligten Gruppen 2015 sogar den Friedensnobelpreis. Doch schon 2013 musste sich Tunesien Geld vom IWF leihen – und unterwarf damit große Bereiche seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik dem für seine radikalen Sparmaßnahmen bekannten Geldgeber. Nun klingt es so, als wolle Saied dieser politischen Einflussnahme von außen ein Ende setzen – ein unverzichtbarer Schritt für den demokratischen Wandel in Tunesien. Einen wirklichen Unterschied wird Saied damit aber nur machen, wenn er auch politische Mitbestimmung von innen zulässt.

EU befürchtet „Migrantenströme“

Die wirtschaftliche Lage in Tunesien wird seit Jahren immer schlimmer, nicht zuletzt infolge der Coronapandemie und des Kriegs in der Ukraine, von der Tunesien mehr als die Hälfte seiner Getreideimporte bezieht. Eine wachsende Inflationsrate von inzwischen mehr als zehn Prozent konfrontiert die Bevölkerung mit ständig steigenden Preisen. Gleichzeitig fehlen immer wieder Grundnahrungsmittel wie Milch, Butter, Zucker oder Reis in den Regalen. Seit Kurzem wird aufgrund einer Dürre auch noch das Wasser knapp. Landwirt:innen befürchten einen dramatischen Rückgang der Ernte in diesem Jahr. In Europa und den USA befürchtet man schon den Staatsbankrott Tunesiens. Die größte Sorge ist dabei natürlich nicht das Wohlergehen der tunesischen Bevölkerung, sondern wie gewohnt die „Migrantenströme“, die dann laut EU-Außenbeauftragtem Josep Borrell  nach Europa kämen.

Doch IWF-Kredite bieten nur scheinbar einen Ausweg aus der Krise. Zwar versorgen sie Staaten in der größten Not mit Finanzspritzen, zwingen ihnen dafür aber harte Sparmaßnahmen auf, die die Bevölkerung in Armut und den Staat in eine Schuldenspirale stürzen. Seit der Revolution hat der IWF Tunesien drei Kredite gewährt und im Gegenzug dazu verpflichtet, staatliche Subventionen für Grundnahrungsmittel und die Landwirtschaft zurückzuschrauben, den Markt zu Ungunsten der lokalen Produktion für ausländische Investor:innen zu öffnen und die Währung abzuwerten. Positive Ergebnisse sind nicht erkennbar: Zehn Jahre nach dem ersten IWF-Kredit ist die wirtschaftliche Lage in Tunesien schlechter denn je – auch wenn es dafür natürlich eine Vielzahl an Gründen gibt.

Zudem erinnern sich viele Tunesier:innen an das Chaos und die Gewalt, die Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre entstanden, als die Regierung ebenfalls auf Drängen der Weltbank und des IWF die Subventionen für Brot und andere Grundnahrungsmittel kürzte. Daraufhin kam es zu weitreichenden Unruhen, sowohl friedlichen Protesten als auch Randalen, denen die staatlichen Sicherheitskräfte mit tödlicher Gewalt begegneten.

IWF baut soziale Sicherheit ab

Auch um den aktuellen Kredit zu erhalten, hätte die Regierung unter anderem Subventionen auf Grundnahrungsmittel und Kraftstoffe streichen sollen. Im Juni 2022 hatte die einflussreiche tunesische Gewerkschaft UGTT bereits in einem landesweiten Streik gegen die Verhandlungen der Regierung mit dem IWF protestiert. Zurecht, denn eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2022 zeigt, dass die Maßnahmen des IWF soziale Sicherheitsnetze in Ländern wie Tunesien abbauen. Der IWF befürwortet zum Beispiel gezielte Zahlungen an armutsbetroffene Gruppen der Bevölkerung anstatt allgemeiner Subventionen für Nahrungsmittel. In Ländern mit einem großen informellen Wirtschaftssektor könnten bedürftige Gruppen jedoch nicht effektiv erfasst werden, sodass eine gezielte staatliche Unterstützung nicht dort ankäme, wo sie benötigt wird.

Auch wenn sich Tunesien seit 2011 in eine bessere Richtung entwickelt hat als andere Staaten mit politischen Umbrüchen in der Region, so war die wirtschaftliche Einflussnahme von außen ein Hindernis für wirkliche Demokratisierung. Der Kampf für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, politische Pluralität und gegen Polizeigewalt waren wichtige Faktoren der arabischen Revolutionen, aber mindestens genauso wichtig war die Forderung nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Wie eine Gesellschaft ihr Zusammenleben wirtschaftlich organisieren möchte, wer wieviel besitzen soll, welche sozialen Sicherheitsnetze der Staat bietet, welchen Einfluss private Investor:innen, zumal ausländische, haben dürfen, all das sind grundlegende Fragen, die eine Gesellschaft gemeinsam entscheiden muss. Wenn diese Entscheidungen ihr aber von Anfang an entzogen werden, kann dann von Demokratie die Rede sein?

Genauso wenig kann natürlich von Demokratie die Rede sein, wenn diese Entscheidungen zwar im Land selbst, aber ohne Beteiligung der Bevölkerung getroffen werden. Sollte Kais Saied den Deal mit dem IWF tatsächlich verhindern wollen und können, müsste er Alternativen finden, wie das Land dem Bankrott entgehen kann. Denkbar wären zum Beispiel eine Reform des Steuersystems oder eine Umstrukturierung der Landwirtschaft, um unabhängiger von Importen zu werden. Eines aber steht fest: Wo auch immer die Lösung für Tunesiens Wirtschaftskrise liegt, Kais Saied wird sie nicht im Alleingang finden. Er muss aufhören, Kritiker:innen einzusperren und ein immer autoritäreres Ein-Mann-Regime zu etablieren. Die wirtschaftspolitische Selbstbestimmung des Landes zu unterstützen ist an sich ein guter Schritt. Doch solange damit nicht eine weitreichende Mitbestimmung von innen einhergeht, ist Saieds Ablehnung des IWFs nicht viel mehr als ein politisches Manöver.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich