14.04.2021
Das Trauma von Köln
Kölner Hauptbahnhof. Quelle: 'locus delicti' bilderkombinat berlin (https://www.flickr.com/photos/crystjan/26607858772/) Lizenz: (CC BY-SA 2.0) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/
Kölner Hauptbahnhof. Quelle: 'locus delicti' bilderkombinat berlin (https://www.flickr.com/photos/crystjan/26607858772/) Lizenz: (CC BY-SA 2.0) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Die Silvesternacht 2015 erlebten viele Marokkaner:innen in Deutschland als Wendepunkt. Denn die damaligen Ereignisse hatten fatale Auswirkungen auf den Ruf der marokkanischen Community im Land.

Dieser Text ist Teil des Kooperations-Dossiers dis:tance - von Marokko, Deutschland und dem Dazwischen. Herausgegeben von En toutes lettres und dis:orient, finanziell unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa).

Der Jahreswechsel 2015/2016 war in Deutschland von Gewalt und Kriminalität überschattet. In dieser Nacht wurden im öffentlichen Raum der Stadt Köln mehrere Dutzend Frauen Opfer von Diebstählen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung. Die Erklärung der Behörden, die Täter seien vor allem junge Männer aus Nord-Afrika, wurde von der extremen Rechten begeistert aufgenommen, zuhauf verbreitet und ausgeschlachtet.

Entgegen den öffentlichen Erzählungen waren unter den hunderten Verdächtigen und Festgenommenen jedoch nur eine Minderheit Geflüchtete oder Asylsuchende. „Die Täter hinter diesen schrecklichen Verbrechen kommen zum allergrößten Teil ursprünglich nicht aus Deutschland, aber leben hier“, kommentiere ein Influencer namens Rachid.

Kaum thematisiert wurde in Deutschland die Reaktion der marokkanischen Presse. Diese verurteilte die Täter aufs Schärfste und forderte deren Bestrafung. Eine ganze Reihe von Artikeln der unabhängigen Nachrichten-Seite Yabiladi berichtete geradeheraus: „In der Nacht des 31. Dezember haben junge Marokkaner und Algerier in Köln hunderte Frauen angegriffen. Der Polizei wurden Taschendiebstähle, sexuelle Übergriffe und eine Vergewaltigung gemeldet.“

Die Presse verfolgte auch die Fahndung nach den Tatverdächtigen, Festnahmen und anschließende Gerichtsprozesse. Doch auch den Sorgen der marokkanischen Community in Deutschland wurde hier Rechnung getragen. So thematisierte Yabiladi die drastischen Verschärfungen der Polizeikontrollen, mit denen sich Marokkaner:innen in Deutschland alsbald konfrontiert sahen.

Ergebnis: In den folgenden Monaten bekam die gesamte marokkanische Community die schwerwiegenden Folgen der Kölner Silvesternacht zu spüren. Besonders hart traf es jedoch Marokkaner:innen, die in Illegalität oder als Asylsuchende in Deutschland lebten. Tausende von ihnen waren über dieselben Migrationsrouten ins Land gekommen wie auch syrische Geflüchtete.

Nun wurden sie Opfer einer regelrechten Verleumdungskampagne. Zunehmend war die Rede von bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und Marokko, die sie zur unfreiwilligen Rückkehr zwingen sollten.

Die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern wurden ausführlich in den deutschen und marokkanischen Medien debattiert. So zum Beispiel die königliche Entsendung des damaligen marokkanischen Innenministers, Mohamed Hassad, der über die Rückführung abgelehnter marokkanischer Asylbewerber:innen verhandeln sollte.

„Ich will nur, dass uns Marokko in Ruhe lässt.“

Rasch wurden Stimmen junger Marokkaner:innen laut, die dagegen protestierten, dass sich der marokkanische Staat in ihre Angelegenheiten einmischte. Zahlreiche junge Asylsuchende und Illegalisierte verbreiteten Videobotschaften im Internet, insbesondere auf Youtube. Darin forderten sie den marokkanischen Staat und den König des Landes auf, nicht auf das deutsche Ansinnen einzugehen.

Wir bitten den marokkanischen Staat um nichts. Ich bin 33 und habe noch nie in meinem Leben arbeiten können. Ich will nur, dass sie uns in Frieden lassen. Ich liebe mein Land, aber ich möchte meine Zukunft hier gestalten.“, wiederholt einer der jungen Leute in einem der Videos.

Ich bin 250 km zu Fuß gegangen. Auf diesem Weg sind junge Marokkaner:innen gestorben, vor allem in Mazedonien. Nach all den Opfern, die ich gebracht habe, werde ich nicht nach Marokko zurückgehen. Ich will nur, dass uns Marokko in Ruhe lässt. Wir wollen nicht wieder abgeschoben werden.“  Und sie alle betonen immer wieder: „Wir sind gegen Belästigung und gegen Rassismus.

In den ersten Wochen des Jahres 2016 tauchten immer mehr dieser Video-Botschaften in den sozialen Medien auf. Ihre Urheber:innen empörten sich über das Verhalten des Königs und der marokkanischen Behörden und forderten diese auf, sich aus ihren Angelegenheiten herauszuhalten. Die Aufnahmen erinnern an andere Videos, die junge Marokkaner:innen nach einem gelungenen Grenzübertritt aus Spanien oder Italien posten.

Das Jahr 2016 brachte eine Menge Sorgen für Marokkaner:innen, die Zuflucht in Deutschland gefunden hatten und nun hofften hier zu leben. In Marokko war die Rede von Telefonaten zwischen dem König und der Bundeskanzlerin, in denen es um die Rücknahme von abgelehnten marokkanischen Asylbewerber:innen ging.

Und während immer neue Protestvideos entstanden, stellte sich heraus, dass die darin geäußerten Befürchtungen inzwischen Realität geworden waren: Marokko wurde, wie auch Algerien und Tunesien, vom Bundestag zu einem „sicheren Herunftsstaat“ erklärt. Allein das Veto des Bundesrates verhindert bis heute die Umsetzung dieser neuen Regelung. Die Folge wäre, dass Marokkaner:innen in Deutschland praktisch keine Chance mehr auf einen Asyl- oder Geflüchtetenstatus hätten.

Einer der wichtigsten marokkanischen Youtuber in Deutschland, Aymane Vagabond, hat mehrere Videos zum Thema Asyl veröffentlicht. „2020 ist nicht 2015: Vorher gab es lange Warteschlangen und deshalb hatte man mehr Zeit, eine Lösung zu finden. Jetzt entscheiden sie innerhalb von zwei Wochen über dein Schicksal und geben dir eine Ablehnung. Argumente, wie zu einer sexuellen Minderheit zu gehören, oder verfolgt zu werden, weil man bei der Polisario[1] ist, ziehen nicht mehr“, sagt Aymane in einem seiner Videos.

Andere Blogger raten Asylsuchenden zu alternativen Strategien: „Auch wenn 95 Prozent der Anträge abgelehnt werden, dauert die Bearbeitung zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. In dieser Zeit bekommst du pro Monat 420 Euro und kannst dich frei bewegen, ohne illegal zu sein. Du kannst die Sprache lernen, arbeiten, dich beruflich weiterbilden, ein Bankkonto aufmachen. Du kannst auch Halbzeit arbeiten und eine Ausbildung machen. Wenn du Arbeit findest, kannst du einen Aufenthaltstitel bekommen. Du kannst von dieser wertvollen Zeit profitieren. Mach was draus...“

Solche Ratschläge sind nicht immer richtig, insbesondere wenn es um den Zusammenhang von Arbeit und Aufenthaltstitel geht. Dennoch erhalten sie eine Menge Klicks, was zeigt, wie groß das Interesse an Lösungen für aufenthaltsrechtliche Probleme und an einem sicheren Aufenthaltsstatus ist.

_____

[1]Die Frente Polisario ist eine militärische und politische Befreiungsbewegung, die für die Unabhängigkeit des Gebiets der Westsahara von Marokko kämpft. Zu den Hintergründen des Konflikts.

 

Hicham Houdaïfa ist seit 1996 als Journalist tätig. Er ist Mitbegründer von EnToutesLettres (www.etlettres.com), einem auf Essays spezialisierten Verlag, wo er die Serie "Enquêtes" leitet. Er ist Buchautor und außerdem Mitbegründer des Openchabab Programms (www.openchabab.com). Dieses Ausbildungsprogramm ist auf junge Journalist:innen und auf...
Redigiert von Clara Taxis, Anna-Theresa Bachmann
Übersetzt von Regina Prade