11.09.2021
„Die Annahme, die Taliban würden sich ändern, ist Wunschdenken“
Die regionalen und globalen Auswirkungen des 11. September. Illustration: Maryna Natkhir
Die regionalen und globalen Auswirkungen des 11. September. Illustration: Maryna Natkhir

Anlässlich des 20. Jahrestages des 11. September sprach dis:orient mit Masood Raja, US-pakistanischer Professor für Postkoloniale Studien, über den (neuen) Krieg gegen den Terror, die Taliban und die Zukunft Afghanistans.

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Prof. Raja, heute ist der zwanzigste Jahrestag der Anschläge des 11. September –einem der folgenreichsten Ereignisse in der modernen Geschichte. Was bleibt für Sie nach 20 Jahren Anti-Terror-Krieg in Afghanistan?

Ich war an diesem Tag in den USA. Es war vermutlich einer der schrecklichsten Tage in der US-amerikanischen Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg: Mehr als 3000 Menschen starben und wenn man an diesem Tag mit meinem Aussehen durch die Straßen gelaufen ist, fühlte man sich verantwortlich gemacht für das, was passiert ist. Auf der anderen Seite – und das kommt in der Berichterstattung, insbesondere im islamischen Teil der Welt, nicht vor – hatte ich 60 Nachrichten von amerikanischen Freund:innen auf meinem Anrufbeantworter, die sich danach erkundigten, ob es mir gut ging. Sie waren besorgt, da ich in einem konservativen Bundesstaat nachts durch die Straßen lief. Das hat mich beeindruckt. Es ist der Teil der Geschichte, den wir nicht erzählen. Wir kennen die Hassverbrechen in den USA, das aber hat mich etwas über meine Freund:innen und die Amerikaner:innen im Alltag gelehrt – weit entfernt von der großen Politik.

Auf der anderen Seite der Welt hingegen mussten Afghan:innen die Konsequenzen des 11. September tragen. Präsident Bush musste demonstrativ etwas unternehmen und so marschierte er in Afghanistan ein. Die Konsequenz waren weitere zwanzig Jahre Krieg.

In diesen zwanzig Jahren haben wir trotz der Gewalt und der Korruption im Land auch eine positive Entwicklung gesehen: In der Zeit des westlichen Engagements konnten zivile Strukturen wieder aufgebaut und neu etabliert werden. In diesen Tagen protestieren Frauen in Kabul und Herat gegen die Taliban. Der Grund ist, dass, Frauen – so unvollkommen es auch gewesen sein mag – in dieser Zeit wieder die Möglichkeit hatten, an der Öffentlichkeit teilzuhaben und von Bildung und Arbeit zu profitieren. Sie konnten sich wieder mit der eigenen Vergangenheit Afghanistans verbinden – denken wir zurück an die frühen 60er-Jahre als Kabul eine progressive und moderne Stadt war. Es ist eine große Tragödie, dass wir diese neuerstarkte Zivilgesellschaft nun vielleicht verlieren werden. Das ist der Verlust der Menschen in Afghanistan.

Wie ist die Stimmung in den USA nach zwanzig Jahren Krieg und dem aktuellen Rückzug der Truppen?

Es gab keinerlei Druck auf Präsident Biden, die Truppen zu einem bestimmten Termin abzuziehen. Weder die Republikaner:innen noch die Mehrheit der Bevölkerung drängten ihn dazu. Es war nicht wie zu Zeiten des Vietnamkriegs, es gab keine allgemeine politische Forderung nach einem Rückzug. Die Entscheidung war zwar von der vorherigen Regierung getroffen worden, aber sie hätte besser ausgeführt werden können, zum Beispiel durch Friedenstruppen und ein Übereinkommen mit den Taliban. Stattdessen sind sie einfach abgezogen und werfen nun den Afghan:innen vor, sich nicht selbst verteidigt zu haben, wobei sie völlig ignorieren, dass die Regierung und die militärische Führung vollkommen korrupt waren. Was ich außerdem beobachte, ist eine gewisse Traurigkeit bei den Amerikaner:innen aufgrund der Situation in Afghanistan.

Gleichwohl scheint der „Krieg gegen den Terror“ nicht vorbei zu sein, vielmehr bilden sich neue Allianzen. Ende 2019 und Anfang 2020 gab es zwei große Offensiven gegen den afghanischen Ableger des Islamischen Staates (IS), bei dem die Taliban, Regierungstruppen und US-Streitkräfte kooperierten. Ist es das, was in Zukunft vom „Krieg gegen den Terror“ bleibt?

Das Vorgehen der Vereinigten Staaten in der Welt steht immer in Zusammenhang mit ihren nationalen Interessen. Offiziellen Statements nach zu urteilen, werden sie der Taliban wohl eine gewisse Legitimität zusprechen, um den neuen IS-Ableger in der Region im Zaum zu halten. Dabei lassen sie die afghanische Bevölkerung weiter im Regen stehen.

Das Problem amerikanischer Außenpolitik ist, dass sie mit dem Ziel, einen Feind zu kontrollieren, oftmals anderen brutalen Regimen zur Macht verhelfen. Solange sie denken, es dient ihren nationalen Interessen, haben sie keine Skrupel, auch mit brutalen Diktatoren zusammenzuarbeiten. Nach zwanzig Jahren Krieg wäre es jedoch eine echte Schande, wenn die USA die Taliban anerkennen würden.

Die Berichte über die dramatische Lage afghanischer Zivilist:innen nach der Machtübernahme der Taliban sind schnell realpolitischen Rationalisierungsversuchen gewichen – in der Hoffnung, die Taliban hätten sich geändert. Die Regierungen verschiedener Länder treten nun offen für Verhandlungen und sogar für Hilfszahlungen an die Taliban ein. Was bedeutet diese internationale Akzeptanz der Taliban mit Blick auf die vergangen zwanzig Jahre?

Die Frage ist: Was akzeptieren westliche und regionale Mächte, wie die USA, Pakistan und die Türkei, wenn sie die Taliban anerkennen? Sie akzeptieren, dass eine bewaffnete Gruppe ein Land erobert, die Regierung und die geltende Verfassung absetzt und sich selbst zur legitimen Landesvertretung erklären kann. Kein einziges westliches Land würde es je zulassen, dass eine Invasionsarmee kommen und sie erobern kann, und dann einfach sagen: „Lasst uns hingehen und mit ihnen verhandeln".

Außerdem entbehrt die Annahme, die Taliban hätten sich geändert, jeglicher empirischer Grundlage. Ich bin ein liberaler Wissenschaftler und glaube daran, dass Menschen sich ändern können. Aber am Ende des Tages müssen wir überlegen, inwieweit sich die Taliban überhaupt ändern können. Jedes Mal, wenn sich die Taliban in eine gemäßigtere Richtung bewegen, wandern ihre eigenen Anhänger:innen zu radikaleren Terrorgruppen ab. Sie müssen ihre Legitimität gegenüber ihren Fußsoldaten sicherstellen. Ich glaube nicht, dass die Taliban sich ändern und ein demokratisches System etablieren werden. Das ist gegen ihre grundlegende Indoktrination. Die Annahme, die Taliban würden sich ändern, ist Wunschdenken. Ich fordere die internationalen Politiker:innen dazu auf, nach Kabul und Herat zu gehen und die Frauen vor Ort nach ihrer Einschätzung zu fragen.

Was ist der Grund für dieses Wunschdenken? Warum würden internationale Politiker:innen die Taliban akzeptieren?

Tatsächlich kümmert es die USA nicht, ob Afghanistan eine Demokratie wird oder nicht. Was sie wollen, ist ein stabiles Afghanistan, aus dem keine dschihadistische Gruppe die USA angreifen wird. Das ist das amerikanische Interesse.

Das bringt uns zurück zu dem, was wir zur neuen Koalition gegen den afghanischen Ableger des Islamischen Staates gesagt haben. Bereits jetzt hat sich ein neues Narrativ in den USA etabliert: In Afghanistan gibt es eine schreckliche Terrororganisation namens ISKP (Islamischer Staat der Provinz Khorasan), diese haben den Flughafen bombardiert und die Taliban mögen sie auch nicht. Nun ist die US-amerikanische Logik, den Islamischen Staat durch die Taliban zu verdrängen. Es geht nicht um die afghanische Bevölkerung. Es geht um ein stabiles Afghanistan, das die USA nicht bedroht.

Wenn wir uns hingegen regionale Mächte wie die Türkei anschauen, liegt die Sache anders. Verhandlungen mit der Taliban verhelfen Präsident Erdoğan zu mehr Einfluss. Er kann der internationalen Gemeinschaft einen Zugang zu den Taliban verkaufen und gewinnt so politisches Prestige.

Gilt das auch für Pakistan?

Pakistan hat grundsätzlich ein anderes geopolitisches Interesse. Der pakistanische Grund für die Unterstützung der Taliban ist eng verbunden mit Indien, das in den letzten zwanzig Jahren um die drei Milliarden Dollar in Afghanistan investiert hat. Sie haben Krankenhäuser und Schulen gebaut. Aber aus pakistanischer Sicht hat Indien Afghanistan auch genutzt, um bestimmte Terrorgruppen zu unterstützen, die gegen Pakistan kämpfen. Die afghanische Regierung zu stürzen bedeutete von einem pakistanischen Standpunkt aus, Indien den Zugang zu Afghanistan abzuschneiden. Da Indien Afghanistan nun nicht mehr zu seinem eigenen Vorteil nutzen kann, ist die aktuelle Situation ein riesiger Erfolg für Pakistan.

Pakistans Rolle bei der Etablierung und dem Erfolg der Taliban ist seit deren Entstehung ein offenes Geheimnis. Letzte Woche kursierten in den sozialen Medien Bilder von Faiz Hamed, dem Chef des pakistanischen Geheimdiensts ISI, bei einem Besuch in Kabul. Ex-Pentagon-Mitarbeiter Michael Rubin sah in diesem Besuch einen Beweis, dass die Taliban lediglich eine „Marionette des ISI“ und Schöpfung Pakistans seien. Was denken Sie darüber?

Die erste Frage, die sich hier stellt, ist: Warum besucht der Chef des pakistanischen Geheimdienstes Afghanistan und nicht der Außenminister oder ein anderer gewählter Offizieller? Die Antwort ist, dass Pakistan der Welt erklärt, sie hätten Zugang zu den Taliban und dass Verhandlungen über sie laufen werden. Das stärkt Pakistans internationale Position. Die regionalen Mächte kokettieren mit ihrer Verhandlungsmacht und ihrem Zugang zum afghanischen Regime. Nichts davon entspricht jedoch den Bedürfnissen der Afghan:innen.

Ich erwarte von Pakistan, dass sie sich die langfristigen Konsequenzen dieser Einmischung vor Augen führen. Es ist heutzutage schwer, eine:n Afghan:in in der Diaspora zu finden, der:die etwas Gutes über Pakistan zu sagen hat. Und das, obwohl Pakistan Millionen afghanische Geflüchtete aufgenommen hat. Immer mehr Afghan:innen haben den Eindruck, dass Pakistan sich zu stark in afghanische Angelegenheiten einmischt. Pakistan rechtfertigt dies hingegen mit den eigenen nationalen Interessen. Jetzt, wo die Taliban an der Macht sind, werden die Afghan:innen in Pakistan diejenige Macht sehen, die die Unterdrückung und die zunehmende Gewalt ermöglicht haben. Diese Mauer des Hasses in der Region zu sehen, ist traurig.

Um auf die amerikanische Strategie zurückzukommen: Da die USA Afghanistan ohne einen angemessenen Übergang verlassen haben und ihrer Verantwortung gegenüber der Bevölkerung nicht gerecht geworden sind, was könnte nun für die Zivilgesellschaft getan werden?

Teil der amerikanischen Verantwortung war es, sicherzustellen, dass die Personen, denen sie zur Macht verhelfen, von ihrer eigenen Bevölkerung zur Verantwortung gezogen werden können. Stattdessen haben sich diese aber mit Millionen von Dollar aus dem Staub gemacht.

Ich denke, die Verantwortung sollte nun in Richtung eines neuen Afghanistans gelenkt werden, das sich in den letzten zwanzig Jahren herausgebildet hat. Die Frage ist, auf welcher Seite werden die USA stehen? Werden sie die Afghan:innen darin unterstützen, sich etwas Freiheit zu erkämpfen und möglichst viel diplomatischen Druck zu machen, oder werden sie die Taliban einfach als legitime Führung anerkennen und durch sie versuchen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen? Ich würde mir eher wünschen, dass die USA ihre wirtschaftliche Macht nutzen, um eine Normalisierung der Taliban-Präsenz zu verhindern, zivile Strukturen zu stärken und eine inklusivere Übergangsregierung zu fördern.

Die Existenz dieser neuen afghanischen Zivilgesellschaft wird von internationalen Medien oft bestritten. Stattdessen wird behauptet, es gebe in Afghanistan gar keine Zivilgesellschaft und das Land sei nur eine Arena für ausländische Interessen.

Derartige Narrative reduzieren Afghanistan auf einen anti-demokratischen Ort ohne nationale und regionale Identität. Dabei hat Afghanistan im Vergleich zu Indien, Pakistan oder Bangladesch als Nation eine längere Geschichte. Es war immer eine multiethnische Nation. Fast alle ethnischen Gruppen Afghanistans haben traditionellerweise Stammesräte. Das System der jirga (traditionelle Versammlung der lokalen Oberhäuptern) stammt aus Afghanistan. Bei Streitigkeiten über Land oder bei kriegerischen Auseinandersetzungen kommen die Ältesten der beteiligten Parteien zusammen und sprechen miteinander. Es mag männlich dominiert sein, aber es ist ein historisch etabliertes gesellschaftliches System zur Konfliktlösung. Weil Afghanistan heute politisch schwach und wirtschaftlich benachteiligt ist, meinen manche, sie könnten sich einmischen. Dabei gibt es nichts, was es dem Land unmöglich machen würde, eine moderne Demokratie zu werden.

Die vermeintliche Frage, ob Demokratie in Afghanistan möglich sei, wird nun erneut diskutiert, da Teile der Regierung geflohen sind und die Streitkräfte kampflos kapituliert haben. Es wird sogar behauptet, dass die Afghan:innen die Demokratie nicht wollten. So urteilte der Wiener Professor Ebrahim Afsah, die Afghan:innen hätten keine grundsätzlich andere Weltsicht als die Taliban und sähen sich in keiner (demokratischen) Interessengemeinschaft mit ihren westlichen „Helfer:innen".

Auch hier handelt es sich um eine stark essentialistische Sichtweise, die die Komplexität der Konflikte sowie die religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten in Afghanistan ausblendet. Zum Beispiel ist nicht jede Person in Afghanistan ein:e sunnitische:r Muslim:a. Und nicht jede:r Sunnit:in schließt sich ihren militanten Ideen an. Wenn die Taliban zum Beispiel in Herat einmarschieren, betreten sie nicht nur ein Gebiet, das einer anderen islamischen Strömung angehört, sondern in ihren Augen auch ein Gebiet von Ungläubigen und Feinden.

Diejenigen, die davon ausgehen, dass Afghan:innen ihre Weltanschauung nur auf religiöse Aspekte gründen, ignorieren die Tatsache, dass Afghanistan in der Moderne existiert. Sie nehmen an, dass Menschen in Afghanistan irgendwo im Europa des 16. Jahrhunderts leben. Solche Aussagen entmenschlichen die afghanische Bevölkerung und besagen im Grunde, dass sie nicht in der Lage ist, modern zu sein.

Noch problematischer sind die Schlussfolgerungen, die sich aus solchen Äußerungen über Afghan:innen ergeben: Eine mögliche Schlussfolgerung lautet, dass wir gar nicht erst in Afghanistan investieren sollten, da sich sowieso nichts ändern wird. Gleichzeitig ist eine solche Darstellung der Rückständigkeit die Grundlage für den westlichen Drang zu „helfen“. Ursprünglich setzt der Begriff „helfen“ voraus, dass es sich um eine altruistische Handlung handelt, unabhängig von den Erwartungen, die man an den anderen stellt. Im Falle Afghanistans würde ich den „Helfer:innen“ jedoch vorwerfen, dass sie die Komplexität der afghanischen Realität nicht verstehen und stattdessen die afghanische Zivilbevölkerung für die derzeitige Katastrophe verantwortlich machen.

Dies ist ein Land, in dem seit 1979 Krieg herrscht. Wenn einige von ihnen immer noch für ihre eigenen Rechte und die Rechte anderer kämpfen, zeugt das von der großen Stärke dieser Menschen. Trotz der 40 Jahre Krieg finden sie immer noch Zeit, freundlich und großzügig zueinander zu sein. In Pakistan sind wir mit Geflüchteten aus Afghanistan aufgewachsen. Eine Sache werden Sie bei Afghan:innen nie sehen: Sie strecken niemals ihre Hand aus oder bitten um Geld. Sie bitten um Arbeit.

Das afghanische Volk scheint zwischen den machtpolitischen Ambitionen regionaler Akteure einerseits und dem Menschenrechtsengagement und dem westlichen Krieg gegen den Terror andererseits gefangen zu sein. Wird die afghanische Gesellschaft jemals die Chance bekommen, selbst zu entscheiden?

Afghanistan ist und bleibt ein multiethnischer Staat. Die Menschen werden ihre regionalen Identitäten behalten, aber was in den letzten 20 Jahren Wirklichkeit geworden ist, ist die Anerkennung dieser Multiethnizität. Die Menschen, die in Kabul, Herat und Dschalalabad protestierten, trugen zum Beispiel keinen Koran oder eine paschtunische Flagge. Sie trugen die säkulare afghanische Flagge. Dies ist ein Zeichen, dass die jungen Menschen an die Flagge Afghanistans glauben und nicht an die Flagge einer politischen Partei oder einer Region. Das ist ein wichtiges Signal der jungen Menschen und der Menschen in den städtischen Zentren, die diese lebendige, bürgerliche Vorstellung von Afghanistan entwickelt haben. Ich glaube, dass dieses Gefühl in Zukunft noch stärker sein wird.

 

 

 

Eyshan ist studierte Friedens- und Konfliktforscherin mit Fokus auf die islamische Rechtsprechung, Orientalismus und Postkolonialismus in Westasien. Beruflich ist sie beratend im Bereich politische Bildung, Kultur und Film tätig.
Redigiert von Johanna Luther, Magdalena Süß, Clara Taxis
Übersetzt von Johanna Luther, Clara Taxis