15.08.2018
„Euer Schweigen schützt euch nicht” - Vom gescheiterten Versuch, unsichtbar zu sein oder: Warum der NSU-Komplex auch etwas mit der iranischen Community zu tun hat
"Kein Schlussstrich"-Demonstration am 14.07.18 in Hamburg, Foto von Rasande Tyskar, https://flic.kr/p/26nWaw7, (CC BY-NC 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/
"Kein Schlussstrich"-Demonstration am 14.07.18 in Hamburg, Foto von Rasande Tyskar, https://flic.kr/p/26nWaw7, (CC BY-NC 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Die Debatte um Rassismus orientiert sich zumeist am white gaze”, also dem stark eingeschränkten Blick der Mehrheitsgesellschaft und lässt kaum Raum für Community-spezifische Diskussionen. Dabei könnte eine nuancierte und intersektionale Debatte dazu beitragen, strukturellen Rassismus und Klassismus umfassender zu verstehen. Dadurch könnte das Teile-und-Herrsche System durchbrochen werden, das in „Model Minorities” und „Problemmigrant*innen” unterscheidet und damit Solidarität untergräbt. Bahareh Sharifi zeigt am Beispiel der iranischen Community, warum sozialer Erfolg nicht Rassismus aufhebt.

Die Diskussionen zu Rassismus in den vergangenen Wochen und das im NSU-Prozess verkündete Urteil haben vor allem eines deutlich gemacht: Es gibt kaum Interesse, rassistische und rechte Strukturen nachhaltig aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken. Denn das würde auch bedeuten, endlich strukturellen und institutionellem Rassismus als solchen zu benennen und Maßnahmen dagegen zu ergreifen, um damit das Grundrecht auf Gleichbehandlung und körperliche Unversehrtheit auch für diejenigen einzulösen, die in diesem Land von Rassismus betroffen sind.

Stattdessen sind von Rassismus betroffene Communities auf ihr eigenes Engagement und die Solidarität untereinander angewiesen. Die gesellschaftlichen Zustände als gegeben hinnehmen, keine Forderungen stellen, sich ruhig und unauffällig verhalten, so lautet die Erfolg versprechende Integrationsformel, die seit Jahrzehnten im Umlauf ist. Aber Schweigen, so schreibt die afroamerikanische Autorin Audre Lorde, ist keine Option in einer Gesellschaftsordnung, in der die wirkmächtige Zuschreibung von minorisierten Menschen als „anders“ dazu führt, dass Menschen ausgeschlossen werden und Gewalt erfahren.

Zahlreiche Informationen im und über den NSU-Prozess haben wir nur durch die unermüdliche Unnachgiebigkeit der Angehörigen und ihres Umfelds herausgefunden, die seit über einem Jahrzehnt Informationen sammeln und Aufklärung fordern. In ihrer Funktion als Nebenkläger*innen haben sie wesentliche Informationen zu Tage gebracht.

Bereits 2006, fünf Jahre vor dem offiziellen Bekanntwerden der Existenz des NSU, als die Behörden zumindest nach außen hin jeglichen Zusammenhang mit rassistischer Gewalt ausschlossen, haben die Hinterbliebenen den Zusammenhang zwischen den Morden hergestellt, die rassistischen Motive entlarvt und Aufdeckung gefordert, um weitere Opfer zu verhindern: Unbeachtet von der medialen Öffentlichkeit gingen am 6. Mai 2006 mehrere tausend Menschen zumeist aus der türkischen beziehungsweise kurdischen Community in Kassel auf die Straße. 

Die Demonstration wurde von Familien der Opfer organisiert. Sie forderten, es dürfe „kein 10. Opfer” geben. Ein wesentlicher Bestandteil des Protests war ihr kollektives Bewusstsein, dass sich der Angriff gegen die gesamte Community richtete. Jahrzehntelang hatte die Mehrheitsgesellschaft türkische Migrant*innen in einem rassistischen Diskurs enthumanisiert. Eine Gesinnung, die sich jetzt in einer organisierten Mordserie manifestiert hatte. Diese Einsicht verdeutlichte eine geteilte Selbstwahrnehmung der verschiedenen Communities: Rassismuserfahrungen waren ein integraler Bestandteil ihrer Lebensrealität als Minderheiten in Deutschland.

Dieses Selbstverständnis trifft aber nicht auf alle von Rassismus betroffenen Communities zu. Bei der Rekonstruktion der Mordserie blieb nämlich unter anderem ein Fall unberücksichtigt, der zwar auch in den Hauptaktionszeitraum des NSU (2000-2006) fällt, aber erst nach dessen Bekanntwerden damit in Verbindung gebracht werden konnte. Am 19. Januar 2001 explodierte in einem Kölner Lebensmittelgeschäft eine Bombe, die die damals 19-jährige Tochter des Besitzers lebensgefährlich verletzte. Kurz vor Weihnachten hatte ein Unbekannter, vermutlich ein V-Mann, eine Christstollendose mit einem Sprengsatz im Laden deponiert, und verließ das Geschäft unter dem Vorwand, sein Geld vergessen zu haben. Erst als eben diese Christstollendose im Bekennervideo des NSU auftauchte, wurde der Zusammenhang deutlich.

Es fällt auf, dass es im Gegensatz zu den anderen Fällen zum Kölner Anschlag von 2001 kein größeres Echo gab. Dies hing vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich bei den Opfern um eine iranische Familie handelte. Wie in allen anderen Fällen gab es, trotz der Vermutung der Opferfamilie, keinerlei ernsthafte behördliche Ermittlungen hinsichtlich rassistischer Tatmotive. Es hätte einen größeren Widerhall in der eigenen Community gebraucht, um die Tat in einen größeren Kontext zu stellen, und Rassismus als strukturelle Erfahrung sichtbar zu machen. Warum hat es diesen nicht gegeben?

Sozialer Erfolg schützt nicht vor Rassismus

Ein möglicher Grund wäre, dass in einem gesellschaftlichen Klima, in dem es kaum Bewusstsein für die unterschiedliche Wirkmächtigkeit von Rassismus und Klassismus gibt, die Chance auf soziale Mobilität den Glauben weckt, rassistische Diskriminierung könne mit guter Leistung überwunden werden. „Doppelt so gut sein“ ist das verinnerlichte Credo mit dem minorisierte Gruppen sich selbst in ein System einfügen, das Forderungen an sie stellt, die es Anderen nicht stellt.

Und tatsächlich können Deutsch-Iraner*innen im Durchschnitt einen hohen sozialen Erfolg aufweisen. Laut einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus dem Jahr 2015 haben über 50 Prozent der in Deutschland lebenden (Deutsch-)Iraner*innen einen Hochschulabschluss. Der akademische Bildungsabschluss liegt damit prozentual sogar weit höher als in der Mehrheitsgesellschaft. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die erste Generation von Migrant*innen und Asylsuchenden nach der Revolution 1978/79 zumeist aus der Mittelschicht stammte; die Migrations- und Fluchtursache war häufig begründet in politischen Motiven. Trotz der Prekarisierung der ersten Generation durch das Asylsystem, etwa durch Aberkennung von Schul- und Hochschulabschlüssen, gelang es der zweiten Generation beziehungsweise der Generation als Kind Geflüchteter, eine erfolgreiche Bildungskarriere zu absolvieren.

Dabei haben sie von einem selektiven Bildungssystem profitiert, in dem neben finanziellem Kapital auch Bildungskapital soziale Mobilität ermöglicht. Obwohl auch sie von Rassismus betroffen waren, so waren die Effekte weniger gravierend als für andere Communities, die weniger anerkanntes Bildungskapital vorweisen konnten.

Die Anschläge des NSU sind jedoch ein erschütterndes Beispiel dafür, dass der soziale Erfolg weder vor Rassismus schützt noch vor rassistischer Gewalt. Die Täter*innen des Anschlags in Köln interessierten sich nicht dafür, dass das Opfer damals kurz vor dem Abitur stand und heute Ärztin ist. Es war auch kein Zufall, dass dieses Geschäft ausgewählt wurde: Den Täter*innen war bekannt, dass eine Familie mit Migrationsgeschichte das Geschäft betrieb. Von außen war dies nicht sichtbar, denn der Laden hatte am Eingang noch die Beschilderung des Vorgängers („Getränke Simon”) hängen. Alle Zeichen weisen darauf hin, dass der Anschlag sich gezielt gegen die Familie richtete und aus rassistischen Motiven verübt wurde, ohne Rücksicht auf individuelle soziale- und Bildungserfolge.

Die Rolle der Refugee-Proteste im Sommer der „Willkommenskultur“

Es ist Zeit anzuerkennen, dass der NSU-Komplex auch uns als iranische Community getroffen hat. Nur wenn wir uns mit anderen Communities verbünden und solidarisieren, können wir das Teile-und-Herrsche-System durchbrechen, das den sozialen Erfolg der einen gegen die Ausschlusserfahrungen der anderen ausspielt, anstatt nachhaltige Maßnahmen gegen Rassismus einzuleiten. Ein Beispiel dafür ist, wie es Selbstorganisationen Geflüchteter wie dem Refugee Protest March in den vergangenen Jahren gelang, Sichtbarkeit für ihre prekären Lebensbedingungen zu schaffen, für die es in der breiten Öffentlichkeit zuvor kaum ein Bewusstsein gab. Die Proteste waren ein solidarisches Bündnis von Asylsuchenden aus dem Globalen Süden, unter anderem aus Iran. Sie schlossen sich zusammen, nachdem ein iranischer Asylsuchender sich in einer Geflüchtetenunterkunft aus Verzweiflung das Leben genommen hatte.

Auch wenn wir heute mit einer verschärfteren Asylpolitik konfrontiert sind als je zuvor, so sind die Geflüchtetenproteste als Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung von Asylsuchenden anzusehen und der derzeitige Backlash sollte nicht deren Errungenschaften schmälern oder aus der Geschichte tilgen. Ohne die Proteste ab 2012 hätte es vermutlich keinen Sommer der sogenannten Willkommenskultur gegeben und keine neuen Förder- und Qualifizierungsprogramme, die Zugänge schaffen. Wie auch bei anderen sozialen Kämpfen existiert bisher kaum eine ausführliche Analyse der Erfolge der Refugee-Proteste.

Trotzdem lehrt uns die Geschichte, dass die Impulse zu strukturellen Veränderungen immer wieder von betroffenen Aktivist*innen und solidarischen Allianzen verschiedener Communities ausgehen. In diesem gesellschaftlichen Klima haben unterschiedliche, marginalisierte Communities verschiedene Möglichkeiten und Zugänge. Um zu erreichen, dass Rassismus als strukturelles Problem in der Gesellschaft anerkannt wird und wirksame Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist eine langfristige Zusammenarbeit, die auf Solidarität basiert und lautstark ihre Rechte einfordert, unverzichtbar und überlebensnotwendig. „Denn unser Schweigen schützt uns nicht”.

 

Bahareh Sharifi lebt in Berlin und ist kuratorisch an der Schnittstelle von Kunst, Antidiskriminierung und Empowerment tätig.

Artikel von Bahareh Sharifi
Redigiert von Daniel Walter, Schluwa Sama, Brandie Podlech