Dieser Syrer sendet eine klare Botschaft der Unterstützung an die bewaffnete Opposition in Syrien: „An die Freie Armee: Unsere Herzen sind Kasernen für euch."
Ob dem militarisierten Assad-Regime wirklich mit Gegengewalt beizukommen ist, wird innerhalb der syrischen Opposition heftig diskutiert. Ziviler und gewaltsamer Widerstand in Abgrenzung und Symbiose, analysiert von Ansar Jasim.
Fasst man die Formen des Widerstandes der letzten zwei Jahre in Syrien zusammen, ergibt sich ungefähr folgendes Bild: Die Revolution, die sich von der Stadt Daraa im Süden Syriens schnell in den Rest des Landes ausbreitete, verlief zunächst überwiegend friedlich. Überwiegend heißt vor allem, dass Gewalt nicht als Lösung der politischen Forderungen gesehen wurde. Es gab Ausnahmen, wie den Brandanschlag auf das lokale Gerichtsgebäude in Daraa, doch Gewaltlosigkeit war die Parole der überwiegenden Mehrheit der Demonstranten und Aktivisten.
Die Gewaltlosigkeit endete mit der Spaltung der Armee
Berichten zufolge endete die Gewaltlosigkeit der Widerstandsbewegung, als nach fast fünf Monaten eine Gruppe von Offizieren, die sich zuvor vom staatlichen Militär abgespalten hatte, die Freie Syrische Armee (FSA) gründete. Nach dieser Lesart ist mit dem Strategiewechsel die Zahl der Opfer gestiegen, während die Zahl friedlicher Demonstrationen abgenommen hat. Dieses Credo der bewaffneten Opposition betrachtet Gewalt als unausweichlich: Wenn eine friedliche Bewegung mit Gewalt konfrontiert wird, muss sie, um sich selbst zu schützen, Gegengewalt adaptieren. Im Falle Syriens ignoriert diese Gleichung gleich zwei Phänomene: Zum einen den empirischen Erfolg, den gewaltlose Kampagnen historisch verzeichnen, zum anderen den inner-syrischen Diskurs um Gewalt und wie ihr am besten zu begegnen sei.
Gewaltlosigkeit als effektivste Strategie
Historisch gibt es viele bekannte Beispiele, in denen autoritäre Regime durch Kampagnen, die als überwiegend gewaltlos bezeichnet werden können, gestürzt wurden. Zwischen gewaltvollen und gewaltlosen Bewegungen zu differenzieren, ist oft eine starke Vereinfachung der Realität, da historisch beide Formen oft parallel existiert haben. Nichtsdestotrotz gelten die Bewegungen, die zum Sturz des Shahs im Iran oder zur Abschaffung der Apartheid geführt haben, als erfolgreiche, gewaltlose Kampagnen. In beiden Fällen hat eine Mischung aus zivilem Ungehorsam, Streiks und Demonstrationen ein Regime, das mit (Militär-)Gewalt reagierte, stürzen können.
Entscheidend im Iran und anderswo, war es, mittels Gewaltlosigkeit Loyalitätsverschiebungen in den Rängen des Regimes zu veranlassen, insbesondere im Militär und Sicherheitsapparat. Chenoweth und Stephan haben in ihrem 2011 erschienen Buch Why civil resistance works empirisch zeigen können, dass gewaltlose Bewegungen historisch erfolgreicher waren als Bewegungen, die Gewalt gegen ihre Unterdrücker anwandten. In ihrem Buch machen sie auch deutlich, dass Gewaltlosigkeit eine Strategie ist. Sie entspringt nicht moralischer Überlegenheit, sondern einem rationalem Kalkül dessen, was durch Gewaltlosigkeit erreicht werden kann.
Wie bewerten die Syrer Gewalt und Gegengewalt?
Dies wirft Fragen danach auf, wie das Thema Gewaltlosigkeit heute in Syrien gesehen wird. Besteht die Opposition zum syrischen Regime tatsächlich nur aus bewaffneten Kämpfern und politisch zerstrittenen Vertretern im Ausland? Was ist aus den Aktivisten geworden, die sich ursprünglich der Gewaltlosigkeit verschrieben? Tatsächlich herrscht trotz der medialen Überpräsenz der FSA relative Uneinigkeit in der syrischen Opposition darüber, wie der Regimegewalt und der bitteren Realität der Gegengewalt durch die FSA begegnet werden soll.
Die „alte Opposition“ um Haytham Manna, Yassin al-Haj Saleh und zunächst auch Michel Kilo, lehnt eine Bewaffnung der Opposition kategorisch ab, auch wenn sie vorgeblich als Verteidigung dienen soll. Ihre Argumentation liest sich wie in Anlehnung an das Handbuch von Gene Sharp, der als eine Ikone und wohl stärkster theoretischer Vertreter strategischer Gewaltlosigkeit gilt. Dem Statement zufolge haben Gewalt und Gegengewalt eine inhärente Dynamik, die nicht zu kontrollieren ist. Gegengewalt beinhaltet eben auch den „anderen“ zu töten, und mündet oft in blindes Gemetzel und schließlich Bürgerkrieg.
Auch Gegengewalt ist unberechenbar
Yassin al-Haj Saleh, der, obwohl er die Gewalt des Regimes am eigenen Leib zu spüren bekam als er 16 Jahre in Syrien u.a. im berüchtigten Tadmur Gefängnis einsaß, stellt sich gegen eine Militarisierung der revolutionären Kräfte in Syrien. Die Revolution sollte Freiheit und Gleichheit bringen, und eine Bewaffnung der Opposition – selbst wenn sie zum Sturz des Regimes führen würde – verletze diese Grundsätze. Eine Bewaffnung der Opposition setze physische Barrieren, die Personengruppen wie Kinder, Alte und Frauen tendenziell zurückdrängten. Die Konsequenz: eine Dominanz der Oppositionsbewegung durch eine junge, männliche Überpräsenz.
Eine weitere Befürchtung, die vor allem Haytham Manna, Vorsitzende des National Coordination Committee for the Forces of Democratic Change, betont, ist in der Kampfszene von Syrien bereits Wirklichkeit geworden: solange die syrische Oppositionsbewegung friedlich und somit demokratisch agierte, war es nahezu unmöglich für radikale Kräfte, den Diskurs zu beeinflussen, geschweige denn von der Straße akzeptiert zu werden. Die Bewaffnung der Opposition jedoch, machte das Einsickern von Kräften möglich, die zwar den Sturz des Regimes erstreben, nicht aber die Ziele der Revolution wie Freiheit und Gleichheit teilen. Ein bekannter Fall ist die der al-Qaida nahestehende Nusra Front, die den Kampf in Syrien als Teil eines globalen Jihad ansieht und sich damit deutlich gegen die konfessionelle Vielfalt Syriens stellt. Auch wenn sich viele FSA Kämpfern inzwischen von ihr distanzieren, so ist sie doch Teil der bewaffneten Realität in Syrien geworden. Mannas Angst ist damit wahrscheinlich nicht unberechtigt: „Wenn die Syrische [Regime-]Armee al-Nusra angreift, dann wird sie nicht als der Unterdrücker einer Volksbewegung gesehen, sondern als Garant der Einheit der vielfältigen syrischen Gesellschaft.“
Diskriminatorische Gewalt: gezielte Attacken befördern den Konfessionalismus
Auf den ersten Blick wirkt es, als würde das syrische Regime wahllos Städte zerstören. Angesichts der überwältigenden Gewalt, die vom Regime angewandt wird, gerät leicht aus dem Blick, wie kalkuliert und strategisch das Regime seinen Gewaltapparat einsetzt. Berichten von Aktivisten zufolge, verschont das Regime bestimmte, überwiegend von konfessionellen Minderheiten bewohnte Gebiete mit Luftangriffe. Zwei Überlegungen stecken dahinter: Auf der einen Seite möchte sich das Regime als Schutzmacht der syrischen Minderheiten profilieren. Auf der anderen Seite versucht man, einen konfessionellen Diskurs zu schaffen. Wenn das Regime konfessionelle Identitäten stärkt, so die Idee, schwächt sie die Opposition, die ihrerseits für ein Syrien für alle Syrer, unabhängig von ihrer konfessionellen Herkunft, wirbt. Die Verfechter von Gewaltlosigkeit fürchten nun, dass, wenn die Opposition auf diese Art von diskriminatorischer Gewalt reagiert und etwa Aktionen von Gegengewalt nur in nicht von Sunniten bewohnten Gegenden durchführt, ein konfessioneller Bürgerkrieg entbrennt.
Zivile Aktivisten-Netzwerke: FSA wir lieben euch
Im Zuge der ersten Demonstrationen im März 2011 bildete sich ein Netzwerk von Aktivisten. Was auf kommunaler Ebene begann, hat sich inzwischen landesweit etabliert: Etwa die Hälfte aller Aktivistengruppen sind Syrien-weit durch Netzwerke wie das Local Coordination Committees of Syria (LCC) und der Syrian Revolution General Commission (SRGC) organisiert. Diese Gruppen sind nicht nur für das Organisieren von Demonstrationen und Aktionen zivilen und kreativen Ungehorsams zuständig, sondern übernehmen inzwischen auch verstärkt staatliche Verwaltungsaufgaben oder Notfallhilfe in besonders von Gewalt getroffenen Gebieten. In einem Statement von August 2011 hat das LCC die Bewaffnung der friedlichen Bewegung noch als „politisch, national und ethisch unakzeptierbar“ abgelehnt. In der Begründung hieß es, dass die Revolution ein demokratisches System anstrebe, „die Methode mit welcher das Regime gestürzt werde, ist ein Indikator dafür, wie Syrien in einer post-Regime Phase sein wird. Wenn wir bei unseren gewaltlosen Demonstrationen bleiben, […] ist die Möglichkeit für Demokratie in unserem Land viel größer.“
Ende 2012, nach über einem Jahr des bewaffneten Kampfes durch Oppositionskräfte, lesen sich die Statements der LCC schon anders. Deutlich wird, dass, anders als Haytham Manna, der sich der Realität der Bewaffnung der Opposition zu entziehen scheint und keine Lösung bietet, wie mit ihr umzugehen ist, die LCC nach einem Weg suchen muss, friedlichen Widerstand und oppositionelle Gegengewalt in Einklang zu bringen.
In einem Verhaltenskodex (Code of Conduct) für Soldaten der Opposition von August 2012 heißt es, man möchte „die moralische und politische Ethik von militärischen Aktionen herausstellen”. Der Kodex sieht als oberste Verantwortung der Soldaten die Verteidigung der syrischen Revolutionäre und die Fortsetzung der Revolution (Art. 1). In den weiteren Artikeln geht es vor allem um das Versprechen, die Menschenrechte zu achten (Art. 2, 3, 4), sowie nach dem Regimesturz die Waffen wieder abzugeben (Art. 10). Der Soldat erklärt sich damit einverstanden, sich vor einem Komitee für die Verletzung dieser Regeln zu verantworten (Art. 11). Dass eine Instanz, die sich als Teil des zivilen Widerstands versteht, einen Verhaltenskodex für eine bewaffnete Gruppierung erstellt, zeigt, wie unübersichtlich die Trennlinien geworden sind. Das Dokument soll den Eindruck erwecken, dass es eine klare Trennung zwischen zivilem und bewaffnetem Widerstand gibt. Tatsächlich aber ist die Situation weitaus komplizierter.
Eine klare Trennung zwischen gewaltsamem und zivilem Widerstand scheint nicht mehr möglich
In einem Aufruf heißt es etwa: „Das syrische Volk steht hinter euch, Syrien liebt euch und ist voller Anerkennung dafür, dass ihr das wichtigste, was ihr habt, nämlich Euer Leben, dafür riskiert, dass andere in einem besseren Syrien in Würde und Sicherheit leben können.“ Somit muss der Verhaltenskodex vielmehr als die Niederschrift der symbiotischen Beziehung zwischen bewaffnetem und zivilem Widerstand gelesen werden. In vielen Gegenden Syriens hat die FSA bereits zivile Aufgaben übernommen und versorgt die Bevölkerung. In Aleppo etwa verteilt sie Brot. In anderen Fällen macht nur der bewaffnete Schutz der FSA den Aufbau ziviler Alternativstrukturen möglich. In Idlib zum Beispiel hat die FSA wiederholt versucht, Regimesoldaten zu vertreiben. Nur so konnten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Bewohner Ende Dezember 2012 die ersten freien Wahlen zum Stadtrat in ihrer Geschichte abhalten konnten. Natürlich ist die FSA auf Unterstützung aus der Bevölkerung angewiesen. Ziviler und bewaffneter Widerstand sind somit in einer organischen Beziehung: einer funktioniert nicht ohne den anderen.
Das heißt aber eben auch, dass eine Analyse der Opposition in Syrien, sich nicht auf die Parteien, die in militärische Aktionen verstrickt sind, reduzieren darf. Ebenso wenig darf eine solche Analyse verkennen, wie vielfältig Opposition in Syrien aussieht. Gewaltloser Widerstand in Syrien, so lautet die paradoxe Quintessenz, basiert inzwischen auf einer Symbiose aus bewaffnetem und unbewaffnetem Widerstand.
Auch wenn viele ausländische Kommentatoren dies heute als Gefahr sehen, könnte diese symbiotische Beziehung die Voraussetzung für einen friedlichen und gewaltlosen Übergang im post-Assad Syrien werden. Gerade für die zukünftige gesellschaftliche Integration der bewaffneten Kämpfer, die inzwischen überwiegend einen zivilen und keinen militärischen Hintergrund haben, ist eine Voraussetzung für ihre Entwaffnung oder Eingliederung in eine nationale Armee. Die bewaffneten Kräfte agieren eben nicht losgelöst von anderen gesellschaftlichen Kräften, sondern für sie.
Titelfoto: FreedomHouse/flickr.com