14.09.2023
Was ist schon neutral?
Die europäische Politik handelt beim Abaja-und Kamis-Verbot nach Werten der Gleichberechtigung und Freiheit und dabei befördern sie Diskriminierung und Unterdrückung anderer Kulturen. Grafik: Zaide Kutay.
Die europäische Politik handelt beim Abaja-und Kamis-Verbot nach Werten der Gleichberechtigung und Freiheit und dabei befördern sie Diskriminierung und Unterdrückung anderer Kulturen. Grafik: Zaide Kutay.

Abaja und Kamis sind an französischen Schulen neuerdings verboten. Die Kleiderordnung betrifft nur eine winzige Minderheit. Sie zeigt aber, wie der Rassismus Europa immer rückständiger und weltfremder werden lässt, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Eine Dynamik europäischer Politik, die es immer wieder schafft mich zu frustrieren, ist diese: dass Staaten und Gesellschaften ihre vermeintliche Fortschrittlichkeit und Moderne als Argument anführen, um rückwärtsgewandte, engstirnige und teilweise faschistische Politik durchzusetzen. Ich frage mich ernsthaft: Glauben sie wirklich, dass sie im Sinne angeblich europäischer Werte wie Freiheit und Gleichberechtigung handeln? Merken sie nicht, dass sie im Gegenteil die Unterdrückung und Diskriminierung befördern, die sie anderen Kulturen unterstellen?

Das jüngste Beispiel dafür ist das Verbot von Abaja und Kamis an Frankreichs Schulen, das seit dem neuen Schuljahr gilt. Die lockeren Gewänder, die vor allem in Westasien und Nordafrika getragen werden, sollen dem Bildungsminister zufolge religiöse – muslimische – Symbole sein. Und diese sind an Frankreichs Schulen schon seit 2004 im Namen der Neutralität verboten. Dass solche vermeintlichen Neutralitätsgesetze immer die Gleichen treffen, zeigt, dass es dabei um etwas ganz anderes als Neutralität geht: nämlich um die blinde Panik Europas gegenüber Muslim:innen und der Vorstellung, dass sie hier gleichberechtigt leben könnten.

Keine religiösen Kleidungsstücke 

Letzte Woche begann in Frankreich das neue Schuljahr nach den Sommerferien. Von etwa zwölf Millionen Schüler:innen erschienen etwa 298 mit Abaja oder Kamis. Noch weniger, nämlich nur 67, ließen sich von ihrer Kleidungswahl nicht abbringen und wurden daher nicht zum Unterricht vorgelassen. Kurz vor Schulbeginn hatte der neue Bildungsminister Gabriel Attal nämlich verkündet, dass die weibliche und männliche Version des lockeren Gewandes in der Schule nicht mehr getragen werden darf. Der Grund ist Frankreichs strenger Laizismus, der besagt, dass Staat und Religion voneinander getrennt bleiben müssen. Das geht sogar so weit, dass die religiöse Identität der Schüler:innen im Klassenraum nicht anhand der Kleidung erkennbar sein darf.

An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass die Abaja und das Kamis, auch wenn ihr Verbot vor allem Muslim:innen betrifft, keine religiösen Kleidungsstücke sind. So argumentierte auch der französische Rat der Muslim:innen, der in einem Eilverfahren vergeblich gegen das Verbot geklagt hatte. Den französischen Gesetzgeber:innen ist das aber egal: denn angeblich zeigen junge Mädchen damit, dass sie zu einer bestimmten religiösen Gruppe gehören. Es mag zwar sein, dass die Abaya ein praktisches Kleidungsstück für Personen ist, die aus religiösen Gründen wenig Haut zeigen möchten. Aber dann könnte man auch anfangen, über Baggy Jeans, Oversize Hoodies oder weite Kleider jeder Art zu diskutieren.

Auch mag es sein, dass manche Mädchen und Jungs durch ein Kleidungsstück aus der WANA-Region ihre kulturelle Identität zeigen wollen – andere tragen es aber einfach aus Gewohnheit. Es gibt Kleidungsstücke, die einen religiösen oder kulturellen Hintergrund haben, aber irgendwann aus Modegründen getragen werden. Und es gibt solche, bei denen es andersherum ist. Zu spekulieren, wer welches Kleidungsstück aus welcher Motivation trägt, kann nicht zielführend sein, zumal sich solche Spekulationen in der Regel nicht gegen eine kulturelle oder ethnische Mehrheit richten, deren Kleidungsstil als neutral angesehen wird. Ebenso gut ließe sich argumentieren, dass Birkenstocks religiöse Symbole sind, weil sie vor allem in Deutschland getragen werden, wo die Mehrheit christlich ist. Und auch Jesus trug Sandalen. Aber solche Verallgemeinerungen gelten natürlich immer nur für die Anderen.

Neutralität der Mehrheit

Ob in Frankreichs Klassenzimmern oder beim sogenannten „Neutralitätsgesetz“ in Berlin, das bis vor Kurzem das Kopftuch bei Lehrkräften, Polizei und Justiz verbot – inzwischen müsste doch jedem aufgefallen sein, dass die vermeintlich neutralen Vorgaben nicht alle gleichermaßen betreffen, ja, dass sie eigentlich fast nur Muslim:innen schaden. Auch jüdische Menschen, die Kippa tragen, sind teilweise betroffen, aber vor allem muslimische Frauen, die das Kopftuch nicht mal eben so an- und ablegen können, sondern der religiösen Überzeugung nach immer in der Öffentlichkeit tragen müssen.

Immerhin ist das Abaja- und Kamis-Verbot in dieser Hinsicht weniger schwerwiegend, denn wie gesagt sind die Kleidungsstücke keine religiösen Symbole. Umso mehr ist das Verbot aber ein weiterer Schlag ins Gesicht einer religiösen Minderheit, die in Frankreich und anderen Ländern Europas ohnehin signalisiert bekommt: Ihr dürft hier nur begrenzt existieren, jedenfalls nicht sichtbar.

Wen solche Neutralitätsgesetze jedenfalls nicht berühren, das sind die christlichen Bürger:innen Frankreichs oder Deutschlands, egal ob praktizierend oder bloß christlich sozialisiert. Bei ihnen gibt es keine Kleidungsvorschriften, und wer ein Kreuz um den Hals tragen möchte, der versteckt es problemlos unter dem Oberteil. Eine Mehrheit beschließt also, was aus ihrer Sicht neutral ist, und verbietet alles, was davon abweicht. Die Trennung von Staat und Religion bedeutet plötzlich eine Unterordnung aller Minderheiten unter eine vermeintlich neutrale Mehrheit.

Antimuslimische Emotionalisierung

Obwohl Emmanuel Macron das Abaja-Gesetz nach eigener Aussage auch nicht so wahnsinnig wichtig findet, verteidigt Frankreichs Präsident es im Interview mit dem YouTuber Hugo Travers. Den Laizismus bezeichnet Macron als „Element der Gerechtigkeit“ und argumentiert: „Laizismus bedeutet, dass wir nicht wissen wollen, woher die Kinder kommen und was sie denken.“ Eine komische Vorstellung, dass Menschen verstecken müssen, woher sie kommen; dass Gleichberechtigung Gleichschaltung bedeuten soll.

Wenn Macron das ernst meint, hätte ich eine bessere Idee, die wirklich komplette Neutralität garantiert: alle Schüler:innen sollen im Klassenzimmer ein bodenlanges schwarzes Gewand tragen, das nur die Augen frei lässt. So wird sichergestellt, dass Kinder und Jugendliche ihre Herkunft, Religion, Kultur, Geschlecht, Schönheit oder finanzielle Möglichkeiten nicht zur Schau stellen können und die Schule, wie Macron es wünscht, „ein neutraler Ort bleibt.“

Aber darum geht es der französischen Regierung natürlich nicht. Das zeigt die drastische Emotionalisierung, derer sich Macron im weiteren Verlauf des Interviews bedient. „Wir leben in unserer Gesellschaft auch mit einer Minderheit von Personen, die die Religion missbrauchen, um die Republik und den Laizismus herauszufordern“, behauptet er und spannt den Bogen vom Abaja-Verbot zur grausamen Ermordung des Lehrers Samuel Paty im Jahr 2020. Paty wurde von einem radikalen Islamisten auf offener Straße enthauptet, nachdem er Mohammed-Karikaturen als Material in seinem Unterricht genutzt hatte.

Die Tat ist schrecklich, aber sie hat rein gar nichts damit zu tun, dass manche Schüler:innen ein weites, langärmeliges Kleid tragen wollen. Macron bringt die beiden Themen trotzdem zusammen und suggeriert so: mit abweichender Kleidung fängt der muslimische Widerstand an und mit tödlicher Gewalt endet er. Die Absurdität dieses Arguments leuchtet ihm wohl selbst ein, denn er versucht es im Anschluss zu relativieren: „Ich stelle da keine Parallele her.“

Geleitet von Angst und Hass

Dass Muslim:innen in Europa im Jahr 2023 immer noch unter einen derartigen Generalverdacht gestellt werden, dass jede kulturreligiöse Handlung von rechten Medien und Politiker:innen als erster Schritt in Richtung Radikalismus dargestellt wird, ist eine so altmodische und so offensichtlich politisch motivierte Hetzkampagne, dass ich ehrlich erstaunt darüber bin, wie erfolgreich sie heute noch ist. Dass die anhaltende Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe auch den wenigen Extremist:innen unter ihnen in die Hände spielt, ist nichts Neues und aus verschiedensten Kontexten bekannt.

Die EU-Staaten präsentieren sich gerne als Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde. In ihrer krampfhaften Ablehnung des vermeintlich „Anderen“ werden sie aber immer mehr zu rückschrittlichen, weltfremden Staaten, die sich von Angst und Hass leiten lassen – die ihren Bürger:innen vorschreiben, was sie wo anziehen dürfen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich