30.11.2023
Im Dorf Tasselmante entzaubern Frauen die Solarenergie – Teil I
Auf dem Weg nach Tasselmante. Foto: Oumaima Jmad
Auf dem Weg nach Tasselmante. Foto: Oumaima Jmad

Im Süden Marokkos wurde 2016 einer der weltweit größten Solarkraftwerkskomplexe in Betrieb genommen. Der erste Teil dieser Reportage zeigt, wie das Kraftwerk das Leben der Bewohner:innen im benachbarten Dorf Tasselmante prägt.

Dieser Text ist im französischen Original in dem Sammelwerk „Justice climatique, urgences sociales“ bei En toutes lettres in Casablanca erschienen. Dies ist Teil I der Übersetzung.

Ein Landesteil des sonnen- und windverwöhnten Landes Marokko ist in Vergessenheit geraten. Dort liegt, fernab der großen Zentren, wenige Kilometer von Ouarzazate entfernt, Tasselmante. Das Dorf lebt vom Glauben an eine bessere Zukunft, in der es wieder sichtbar wird. Der Solarkraftkomplex Noor-Ouarzazate versprach der marginalisierten Dorfbevölkerung Entwicklung und Fortschritt. Das Projekt wurde in unmittelbarer Nähe des Dorfes im Rahmen der Energiestrategie Marokkos angesiedelt und soll den Anteil der erneuerbaren Energien an der nationalen Stromversorgung erhöhen.

Um das marokkanische Solarprogramm umzusetzen, wurde im Oktober 2010 mit staatlicher Unterstützung ein privatwirtschaftliches Unternehmen gegründet: die marokkanische Agentur für Solarenergie (Agence marocaine pour l’énergie solaire, MASEN). Die Umsetzung des Projekts begann 2010 und dauert an, doch wie steht es mit der lokalen Entwicklung? Wie hat das Projekt das Leben der Frauen im Douar[1] geprägt?

Die Antwort kennen die Dorfbewohnerinnen Rabha, Fatna, Rachida und Mama. Die Landschaft zwischen Ouarzazate und Tasselmante könnte aus einem Hollywoodfilm stammen, wäre da nicht dieser verstörende Kontrast: auf der Ostseite nackter Boden, kein Baum, der Schatten spenden könnte, die perfekte Westernkulisse; auf der Westseite die gigantische Solaranlage, geschützt durch Stacheldraht und bewacht von Sicherheitsleuten, ein Anblick, der an das unzugängliche Atomkraftwerk in der deutschen Serie Dark erinnert.

Ankommen im Dorf Tasselmante

Das Dorf selbst scheint von einem Geheimnis umgeben zu sein: Mit seinen wenigen bescheidenen Häusern und vereinzelten Palmen wirkt es wie eine Geisterstadt. Weder Mensch noch Tier sind zu sehen. Und dabei zählt die Kommune, zu der das Dorf gehört, 8.448 Einwohner:innen, davon 4.459 Frauen, wenn man der nationalen Volkszählung von 2014 Glauben schenkt.

Eines der Gebäude sticht besonders hervor. Hier haben unterschiedliche Vereine ihren Sitz, die sich um Belange von Frauen, Jugend, Kultur und Entwicklung kümmern. Sicherlich finden wir an diesem Ort Antworten auf das Rätsel um das Dorf. Wir brauchen nur noch eine:n Ansprechpartner:in. In diesem Moment taucht Rabha auf, eine Frau um die Vierzig. Sie kommt von der Arbeit auf dem Feld, beladen wie ein Esel. Sie ist außer Puste, begrüßt uns aber dennoch herzlich mit einem unermüdlichen Lächeln: „Merhba! Merhba! Merhba! …“

Ihr Haus befindet sich in unmittelbarer Nähe des Vereinsgebäudes. Vier Kinder, drei Mädchen und ein Junge, kommen uns lächelnd entgegen, dann auch ihr Ehemann. Rabha ist die einzige Person in der Familie, die trotz der glühenden Hitze und der eisigen Kälte auf den weit entfernten Feldern arbeitet. Die herzliche Gastfreundschaft stillt den ersten Durst, oder zumindest fast. Rabha bringt einen Tonkrug mit frischem Wasser, es ist aber kaum trinkbar. „Dieses Wasser trinken wir im Dorf. Wir boykottieren Mineralwasser aus Flaschen“, erklärt sie sarkastisch. Sie lacht und bedeckt gleichzeitig ihren Mund mit ihrem Schleier, damit man ihre abgenutzten Zähne nicht sieht.

Wasser ist „Blaues Gold“ und ein rares Gut

In dieser trockenen Region ist Wasser ein sehr kostbares und schützenswertes Gut. Das „blaue Gold“ wird angebetet und ist dennoch knapp. Der Mansour Eddahbi-Staudamm ist circa zehn Kilometer entfernt und wurde für die Versorgung der lokalen Bevölkerung errichtet. Heute dient er eigentlich nur noch dem Solarkraftwerk, meint Rabha: „Der Staudamm soll uns Wasser und Strom liefern, aber jeden Lichtstrahl, jeden Tropfen Wasser sollen wir bezahlen.“

Nach einer angespannten Stille fährt sie fort: „Neben dem Staudamm wurde eine Pumpstation gebaut. Dem Kraftwerk mangelt es nie an Wasser, das zu Wasserdampf und dann zu Strom umgewandelt wird. Es fehlt auch nie an Wasser, um die Solarspiegel des Kraftwerks und die Büroräume der Angestellten vor Sauberkeit strahlen zu lassen. Uns aber fehlt es an Wasser.“ Rabhas Äußerungen und das Wasser hinterlassen einen bitteren Geschmack. Die hollywoodartige Landschaft verwandelt sich in eine Fata Morgana mit ihren ausgetrockneten Böden, während das Kraftwerk, der Golfplatz und die Hotels nur so glänzen.

Wirtschaftliches Wachstum für wen?

Rabha ist Analphabetin und hat noch nie einen Fuß in das Kraftwerk gesetzt, aber sie kennt sich bestens mit seiner Funktionsweise aus. Ihre vier Nachbarinnen im Dorf arbeiten dort als Reinigungskräfte und erzählen ihr, was im Kraftwerk vor sich geht. Lediglich diese vier Frauen aus dem Dorf wurden im Rahmen des Kraftwerkprojekts angestellt – die anderen kümmern sich weiter um ihre eigenen Haushalte. Letztlich handelt es sich bei den Reinigungsjobs um eine Ausweitung ihrer Haushaltstätigkeiten, denn auch hier leisten die Frauen einer Art von Care-Arbeit.

Das Solarprojekt hatte ursprünglich versprochen „wirtschaftliches Wachstum und Einkommen zu schaffen, um den Frauen den Zugang zu Arbeit und eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu ermöglichen“[2]. In der Praxis hat dies dazu geführt, dass die Vereinsräume immer weniger genutzt wurden. Rabha erinnert sich verbittert an die Eröffnung des Vereins und an die Zeiten, als die Frauen sich dort trafen, um Teppiche zu weben.

Fatna hat Zugang zu den Räumlichkeiten, um sie von Zeit zu Zeit durchzulüften. Sie versteckt den Schlüssel in ihrem BH und gibt ihn Rabha heimlich für einen Besuch der Vereinsräume. Sie vertraut Rabha und besteht darauf, dass sie anschließend auf einen Tee und Mandeln vorbeikommt. Heutzutage befinden sich in den Vereinsräumen nur noch alte Kochtöpfe, Reifen und verschiedene Ersatzteile.

Die Räumlichkeiten sind zu einem Lager umfunktioniert worden. Es gibt nicht viel zu sehen und der Ort wirkt wenig einladend. Der rechtliche Status des Ortes ist zudem noch nicht abschließend geklärt. Handelt es sich um einen Verein oder doch um eine Genossenschaft? Weder Fatna noch Rabha wissen es genau, denn für sie zählt nur das Teppichweben. „Fatna webt gute Teppiche, schön anzusehen und bio“ betont Rabha. In der Tat sind unter den Teppichen in den Räumlichkeiten einige Kunstwerke.

Strukturelle Barrieren stehen der Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit im Weg

Was genau ist geschehen? Das Zentrum der Teppichweberinnen hatte seine goldene Zeit im Jahr 2016. Damals wurde auch das Solarkraftwerk durch König Mohammed VI eröffnet. In dieser Zeit gab es zahlreiche Initiativen, um die Lebens- und Einkommenssituation der Dorfbewohner:innen zu verbessern. Allerdings verschlechterte sich die Situation danach durch Schwierigkeiten in der Verwaltung, der Finanzierung und im Vertrieb.

Während die Frauen die Teppiche herstellten, waren die Männer für den Verkauf zuständig. Diese hatten neben dem Vertrieb der Teppiche allerdings noch andere berufliche Verpflichtungen und waren nicht im Verein engagiert. Eine weitere Schwierigkeit bestand im Zugang zu den Teppichmärkten. Nach einem Jahr standen keine Mittel mehr zur Verfügung, um die Rohware für die Teppiche zu erwerben, sodass die Männer nicht mehr auf den Märkten verkaufen konnten. Die Männer wendeten sich ab, und die Frauen haben seither unterschiedliche Wege eingeschlagen.

„Alles, was wir geerbt und bewahrt haben, verlieren wir: unseren Grund und Boden, unsere Teppiche und unsere Worte. Unser Erbe besteht nicht aus Unterwerfung und passivem Gehorsam. Als wir vom Bau des Kraftwerks auf unserem Land erfahren haben, haben wir protestiert, aber man hat uns zurechtgewiesen. Seit 2010 haben wir protestiert, während der Bewegung des 20. Februar 2011 und während des gesamten Bauprozesses von 2013 bis 2016. Aber alles wurde getan, um uns zum Schweigen zu bringen: Gleichgültigkeit, Druck, und vor allem falsche Versprechungen!“ empört sich Rabha.

„Weder die Frauen noch das Land stehen einfach zur Verfügung!“

Die Bewohner:innen des Douar verdienen ihren Lebensunterhalt mit kollektiver Land- und Viehwirtschaft. Im Jahr 2012 kaufte der marokkanische Staat der Dorfgemeinschaft circa 3.000 Hektar Land für einen Dirham pro Quadratmeter ab und verkaufte es im Anschluss an ein Privatunternehmen für die Errichtung des Solarkraftwerks weiter[3]. Die Bewohner:innen haben dieses Vorgehen stark kritisiert: Die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen werden in den Vordergrund gestellt, während die Bewohner:innen ihr kulturelles Erbe und ihr Land verlieren. „Die Verantwortlichen auf kommunaler Ebene haben zugestimmt, aber wir Frauen waren damit nicht einverstanden“, betont Rabha. Sie verfällt wieder in ein vielsagendes Schweigen und verleiht so ihrem Gefühl der Ungerechtigkeit Ausdruck.

Rabha hat einen Teil ihrer Offenherzigkeit eingebüßt. Ein unangenehmes Gefühl schnürt ihr die Kehle zu: „Ich denke vor allem an die Zukunft meiner Töchter. Das beschäftigt mich am meisten. Die Schule befindet sich im Zentrum der Gemeinde. Der Bus holt sie morgens um sieben Uhr ab und bringt sie abends um sieben Uhr wieder zurück. In Zukunft werden sie für die weiterführende Schule nach Ouarzazate gehen müssen. Das Internat kann jedoch nicht alle Mädchen aus dem Douar aufnehmen. Aber in eine andere Stadt kann ich sie auch nicht schicken und gleichzeitig wäre es von Grund auf falsch, sie vom weiteren Schulbesuch abzuhalten. Ich möchte nicht, dass sie weggehen, aber ich möchte auch nicht, dass sie so werden wie ich. Was soll bloß aus ihnen werden?”

 


[1] Marokkanisch-Arabisch für Dorf

[2] MASEN, Rapport Développement Local, 2018, S. 66.

[3] Siehe MASEN, Plan d’acquisition de terrain pour l’adduction d’eau brute (PAT Wateresia), 2014, S. 13; Banque mondiale, Rapport PAD1007, Document d’évaluation de projet sur un prêt par la BIRD d’un montant de 234,5 millions d’euros et 80 millions de dollars (équivalent à 400 millions de dollars) et un prêt du fonds pour les technologies propres d’un montant de 119 millions de dollars en faveur de l’agence marocaine pour l’énergie solaire avec la garantie du royaume du Maroc pour le projet de centrales solaires à concentration de Noor-Ouarzazate, 4 septembre 2014, S. 38; Cantoni, R. et Rignall, K., «Kingdom of the Sun: a critical, multiscalar analysis of Morocco’s solar energy strategy», in Energy Research and Social Science, Vol. 51, Mai 2019, S. 20-31.

 

 

Oumaima Jmad ist Doktorandin am Forschungslabor für sozio-anthropologische Differenzierung und soziale Identitäten (LADSIS) der Universität Hassan II in Casablanca. Als feministische Aktivistin engagiert sie sich bei der marokkanischen Vereinigung für Frauenrechte (AMDF) in Projekten zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur...
Redigiert von Regina Gennrich, Clara Taxis
Übersetzt von Pauline Fischer, Philipp Wagner