30.11.2023
Im Dorf Tasselmante entzaubern Frauen die Solarenergie – Teil II
Die Spiegel des Solarkraftwerkskomplexes Noor. Foto: Richard Allaway, flickr.
Die Spiegel des Solarkraftwerkskomplexes Noor. Foto: Richard Allaway, flickr.

Im Süden Marokkos wurde 2016 einer der heute weltweit größten Solarkraftwerkskomplexe in Betrieb genommen. Im Teil II der Reportage aus Tasselmante hinterfragt die Autorin die Konzepte der „Entwicklung“ und der „grünen“ Energiegewinnung.

Dieser Text ist im französischen Original in dem Sammelwerk „Justice climatique, urgences sociales“ bei En toutes lettres in Casablanca erschienen. Dies ist Teil II der Übersetzung. Hier geht es zu Teil I.

Im Dorf Tasselmante leben vor allem ältere Menschen und Kinder. Die gesamte Region ist von der Landflucht junger Erwachsener betroffen. Ist es ein mangelndes Gefühl von Zugehörigkeit, das sie dazu bringt, die Dörfer zu verlassen? Das Gegenteil sei der Fall, erklärt Rabhas Schwester Rachida: „Wir sind hier geboren, genauso wie unsere Eltern und Großeltern. Das ist unsere Identität. Aber unser Land wurde uns weggenommen.“ Die Landflucht ist vor allem auf fehlende Schul- und Arbeitsplätze und damit verbundene Zukunftsperspektiven für die junge Bevölkerung zurückzuführen. Das Solarprojekt versprach, sie als Arbeitskräfte anzustellen, aber daraus ist nichts geworden. Also verließen sie das Dorf.

„Im Projekt wurde uns versprochen, dass wir als Arbeitskräfte daran teilhaben werden. Die Verantwortlichen von MASEN haben ihre Versprechen nur kurzzeitig gehalten. Einige Männer aus dem Dorf wurden für die Bauarbeiten angeheuert. Ihre befristeten Verträge sind ausgelaufen, als das Kraftwerk in Betrieb genommen wurde. Die Bauarbeiter:innen wurden dann durch Techniker:innen und Ingenieur:innen mit Hochschulabschluss ersetzt. 2009 wurde übrigens an der Fakultät Ouarzazate ein Studiengang für erneuerbare Energien eingerichtet, um junge Menschen aus der Region auszubilden und in das Projekt einzubinden. Im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Absolvent:innen, aber nicht alle von ihnen erhielten einen Arbeitsplatz im Solarkraftwerk. Also haben sie die Region verlassen.“ So erklärt es Imane am Telefon. Sie ist Elektrikerin und arbeitet mit einem Team von Solarinstallateur:innen in Casablanca. Sie ist stolz, in einem von Männern dominierten Beruf Karriere zu machen. Ihren Lebensmittelpunkt weit weg von ihrer Mutter Fatna zu haben, fällt ihr allerdings schwer.

Die Verbundenheit mit der Heimat bleibt

Das Projekt sollte ursprünglich von einer lokalen und nachhaltigen Bau- und Landschaftsplanungspolitik begleitet werden. Diese Programme konnten jedoch insbesondere die jungen Menschen aber auch die Gesamtbevölkerung nicht davon abzuhalten, aus der Region wegzuziehen. Auch Rachida ist nach Ouarzazate gezogen. Sie arbeitet für ihren Ehemann in dessen Geschäft. Sie verkauft Kosmetikprodukte wie Rosenwasser, ätherische Öle und handgemachte Seife in Bioqualität. Um ihren Angehörigen die Einkäufe bis ins Douar zu bringen, ist Rachida von ihrem Mann abhängig, da er als einziger ein Auto besitzt und es kaum öffentliche Verkehrsmittel gibt.

Bevor sie tatsächlich wegzog, konnte Rachida sich nicht vorstellen, woanders zu leben als im Dorf. Ihre Heimat war in Tasselmante, ihre Verbundenheit galt ihrem Douar und seiner Natur. Als sie mit sechzehn Jahren heiratete, hatte sie allerdings wenig zu sagen. Sie respektierte den Willen ihres Vaters und folgte ihrem Mann.

„Meine Schwiegermutter hat mich adoptiert. Sie hat mir beigebracht, wie man Geschäfte macht. Sie kommt ursprünglich aus der Stadt der Rosen, Kelaât Magouna, und war eine Fachfrau in der Herstellung von Kosmetikartikeln. All das hat sie mir beigebracht und heute unterstütze ich meinen Mann bei seiner Arbeit, so wie sie ihren Mann unterstützt hat.“ Rachida hat keine Zeit, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen, denn ihr Ehemann hupt beständig. Schnell nimmt sie noch einen Schluck vom erfrischenden Tee, den Fatna zubereitet hat, greift eine Hand voll Mandeln und läuft hinaus.

Entwicklungsvorhaben ohne Einbeziehen der Bewohner:innen

Rachida wurde von ihrem Vaterfreigegeben“ und dann ihrem Ehemann anvertraut[1]. Sie ist zwar Händlerin geworden, aber ist bei Weitem nicht unabhängig. Alles, was sie durch ihre Schwiegermutter erlernt hat, stellt sie in den Dienst ihres Mannes. Sie teilt ihre Lebensrealität mit vielen anderen Frauen, die Teppiche weben oder Biokosmetika herstellen und so besonders nachhaltigen und umweltfreundlichen Tätigkeiten nachgehen. Häufig bleibt ihnen trotz ihrer Aktivitäten die Selbstständigkeit und Emanzipation verwehrt.

Die Summe, die das Nationale Amt für Strom und Trinkwasser (Office national de l’électricité et de l’eau potable, ONEE) für den Kauf der Grundstücke ans marokkanische Innenministerium zahlte, wurde in einen Entwicklungsfonds investiert. Davon sollten Projekte von und für die Lokalbevölkerung finanziert werden, unter anderem solche, die durch Frauen umgesetzt werden. So hieß es jedenfalls auf der Website des Projekts und in öffentlichen Dokumenten[2].

Die Realität sieht anders aus. Das Projekt behandelt die Lokalbevölkerung wie passive Teilnehmer:innen eines Entwicklungsprogramms und nicht wie mündige Akteur:innen, die Ansprüche auf ihr Land haben. Die Forscher:innen Roberto Cantoni und Karen Rignall stellen fest, dass Konflikte zwischen der Lokalbevölkerung und den zuständigen Ministerien hinsichtlich des Einsatzes der Entwicklungsfonds entstanden sind[3]. Das Solarprojekt wurde nicht den Bedarfen der Lokalbevölkerung angepasst. Auch die für die lokale Entwicklung vorgesehenen Maßnahmen wurden nicht in Absprache mit den Bewohner:innen umgesetzt. „Wenn das Unternehmen nach meiner Meinung gefragt hätte, hätte ich ihnen eine Viehzuchtgenossenschaft in Tasselmante vorgeschlagen, gerade weil sich unsere Ländereien sehr für die Viehzucht eignen.“ Sie denkt neben Viehzucht auch an Landwirtschaft, Handwerk und Handel, die allesamt den Gegebenheiten der Region entsprechen.

Fatna erinnert sich, dass ihre Tochter einige Unterlagen zum Projekt aufbewahrt hat. Unter diesen Dokumenten befinden sich Kopien der Versammlungsprotokolle und Übereinkünfte im Verkauf der kollektiven Ländereien. Fatna glaubt, dass Imane diese Unterlagen behält, um die fehlende Absprache mit der Lokalbevölkerung anzuprangern. Sie verachtet diejenigen, die die Verkaufsverträge unterzeichnet haben. Fatna lässt die Dokumente schnell wieder verschwinden. Ihr ist nicht klar, dass diese Dokumente öffentlich zugänglich sind. Sie werden von den Beteiligten herumgereicht, gerade um nachzuweisen, dass das Projekt lupenrein ist. Alle Unterzeichner und Teilnehmer sind Männer, ausnahmslos. Die Vertreter von MASEN, von ONEE, der SG-Bank, der Agentur des Wasserbeckens H.S.M.D., der staatlichen Verwaltung für Liegenschaften, Infrastruktur und Transport, das Katasteramt und die Dorfvertreter – ausschließlich Männer!

„Grüne“ Technologien als Risikofaktoren für das Dorf

Noor Ouarzarzate I und II sind Kraftwerke mit konzentrierender Solarthermie (CSP), die durch zylindrisch-parabolische Spiegel betrieben werden. Noor Ouarzazate III hingegen ist ein solarthermisches Kraftwerk mit CSP-Technologie und Solarturm, während Noor Ouarzazate IV ein Kraftwerk mit Photovoltaik-Technologie (PV) ist. Imane hinterfragt all diese Technologien kritisch, die MASEN ausgewählt hat. Laut der jungen Elektrotechnikerin passen die Versprechungen und die Umsetzung des Solarprojekts nicht zusammen, weder auf sozialer, psychologischer, wirtschaftlicher noch auf technischer Ebene.

Imane beschreibt die verbauten Technologien sehr genau: „Die CSP-Struktur nutzt gewölbte Spiegel, um das Sonnenlicht auf eine Röhre zu bündeln, die mit einer Wärmeträgerflüssigkeit aus synthetischem Öl gefüllt ist. Eine Flüssigkeit aus geschmolzenen Salzen sammelt die Wärmeenergie und transportiert sie zum Kraftwerksblock, wo sie zunächst in Wasserdampf und anschließend durch eine Turbine in Elektrizität umgewandelt wird. Nach demselben Prinzip funktioniert der Solarturm, der einen Kollektor mit Richtspiegeln trägt, die sich der Sonne nach ausrichten. Wie bei den zylindrisch-parabolischen Spiegeln transportiert die Flüssigkeit die Energie zum Kraftwerk. Beim PV-System ermöglicht der Photovoltaik-Effekt die Umwandlung von Sonnenstrahlung in Elektrizität in einem lichtempfindlichen Halbleitermaterial. Dieses besteht überwiegend aus Silizium und absorbiert den Lichtstrom der Sonnenstrahlung, um eine elektrische Spannungsdifferenz zwischen zwei Punkten des Materials und damit elektrischen Gleichstrom zu erzeugen.“

Imane warnt vor den Risiken der Verwendung dieser Technologien, insbesondere aufgrund ihrer giftigen Inhaltsstoffe: „Der in Parabolrinnenkraftwerken verwendete Wärmeträger ist synthetisches Öl. Bis zu 17.000 Tonnen synthetisches Öl werden für den Ouarzazate-Komplex benötigt. Innerhalb der Kreisläufe führen Öllecks an den Verbindungsstücken der Leitungen stellenweise zu Bodenverschmutzung.“ Dieses Risiko wurde auch in der Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudie (ESIA) der Afrikanischen Entwicklungsbankgruppe aus dem Jahr 2014 hervorgehoben. Und das ist längst noch nicht alles!

Imane erklärt, dass die Stromerzeugung nur tagsüber bei klarem, wolkenlosem Wetter stattfinden kann und dass zur Steigerung der Produktivität eine Wärmespeicherung erforderlich ist. Hierfür werden tagsüber die geschmolzenen Salze erhitzt, um dann am Ende des Tages mit der Wärmeenergie die Generatoren weiter laufen zu lassen.

Die geschmolzenen Salze sind eine Mischung aus 60 Prozent Natriumnitrat (NaNO3) und 40 Prozent Kaliumnitrat (KNO3). „Bis zu 140.000 Tonnen an geschmolzenen Salzen sind für den Ouarzazate-Komplex nötig“, erklärt Imane. Sie ergänzt: „Das Kraftwerk benötigt auch fossile Brennstoffe: ungefähr 19 Tonnen Diesel pro Tag bei einer Kapazität von 500 Megawatt (MW), um das geschmolzene Salz auf hoher Temperatur flüssig zu halten. Aber auch, um die Temperatur des Öls über seiner minimalen Betriebstemperatur zu halten und um nachts die Pumpen zu betreiben, mit denen das Öl durch die Kreisläufe fließt.“

Das Gleiche gilt für die PV-Technologie, deren verschlissene Solarzellen giftig sind. Diese bestehen aus kristallinem Silizium. Eine einzelne Solarzelle muss etwa fünf Jahre lang in Betrieb sein, um die Energie zu kompensieren, die für ihre Herstellung aufgewendet wurde. Dabei ist zu beachten, dass die Herstellung von Silizium-Panels alles andere als umweltfreundlich ist. Zudem nutzen sich die Panels mit der Zeit ab, wodurch sie weniger leistungsfähig und vor allem giftiger werden. Die durch Photovoltaik erzeugte Energie kann nur gespeichert werden, indem man entweder Bewegungsspeicher in mechanischer Form oder Batterien verwendet.“ Kurz gesagt stützt sich saubere Energie auf fossile Energie und gefährliche chemische Inhaltsstoffe.

Greenwashing, vorbei an den lokalen Bedarfen

Rabha ist vor allem über die Wassermengen besorgt, die das Projekt für die Bewässerung der Bahnen, die Sanitäranlagen, die häufige Reinigung der gekrümmten Spiegel und das Kühlwasser verbraucht. Imanes Sorgen hingegen gehen deutlich weiter: „Ich lebe in der ständigen Angst, dass man mich anruft und mir mitteilt, dass es eine Explosion gegeben hat. Dass im Douar ein Brand ausgebrochen ist. Dass meine Familie gestorben ist. Die eingesetzten Technologien befinden sich noch in der Entwicklungsphase und sind nicht wirklich ausgereift, vor allem die CSP-Systeme. Es besteht wegen der Verwendung von Gas, Hochdruckdampf und synthetischem Öl für hohe Temperaturen eine ständige Brand- und Explosionsgefahr. Ich lebe auch in der Angst, dass meine Mutter mich anruft und mir mitteilt, dass sie Krebs hat, da die Böden verschmutzt sein könnten. Das Regenwasser und der See des Mansour Eddahbi-Staudamms könnten wegen der Verwendung von synthetischem Öl und fossilen Brennstoffen verunreinigt sein.“

Imanes Ängste verdeutlichen die Kluft, die sich zwischen den Versprechungen und der Umsetzung des Projekts aufgetan hat. Diese Kluft spiegelt sich auf vielen Ebenen wider: in den schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Dorfbewohner:innen, auf die natürlichen Ressourcen, auf die Sicherheit der Wasserversorgung, in der Schädigung von Flora und Fauna und in der fortschreitenden Wüstenbildung. Durch dieses Ausmaß stellt sich die Frage, ob es sich nicht letztendlich um ein reines Greenwashing-Projekt handelt.

 


[1] Grundsätzlich ist in Marokko die Heirat von Minderjährigen gesetzlich verboten. Allerdings sieht der Artikel 20 des Familiengesetzbuchs eine Ausnahmeregelung vor, durch die ein Richter die Heirat von Minderjährigen mit der Einwilligung der Kindeseltern beziehungsweise des oder der gesetzlichen Vertreter:in erlauben kann. Diese Ausnahme wird indes zur Regel, wie der Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) mit 26.000 Eheschließungen mit Minderjährigen für das Jahr 2018 verdeutlicht.

[2] zum Beispiel im Weltbank Rapport PAD 1007

[3] Unable to control those funds directly, conflicts arose between rural communities about which projects should be given priority and between project beneficiaries and the line ministries overseeing the local development initiatives.” Cantoni, Roberto und Rignall, Karen, Kingdom of the Sun”.

Oumaima Jmad ist Doktorandin am Forschungslabor für sozio-anthropologische Differenzierung und soziale Identitäten (LADSIS) der Universität Hassan II in Casablanca. Als feministische Aktivistin engagiert sie sich bei der marokkanischen Vereinigung für Frauenrechte (AMDF) in Projekten zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur...
Redigiert von Regina Gennrich, Clara Taxis
Übersetzt von Pauline Fischer, Philipp Wagner