11.12.2022
Rezension: Das rebellische Spiel
Fußball ist schon lange mehr als nur Sport, nämlich hoch politisch. Grafik: Eva Hochreuther
Fußball ist schon lange mehr als nur Sport, nämlich hoch politisch. Grafik: Eva Hochreuther

Der Sammelband „Das rebellische Spiel“ zeigt Fußball in Westasien und Nordafrika zwischen politischer Instrumentalisierung, Korruption und Rebellion.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zur Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Im Dossier blicken wir auf die politischen und gesellschaftlichen Berührungspunkte zwischen WANA und dem Ballsport. Alle Artikel des Dossiers sind hier zu lesen.

Selten haben Vergabe und Austragungsort eines internationalen Sportturniers im Vorfeld so viel Kritik auf sich gezogen wie die diesjährige Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Der ehemalige deutsche Nationalspieler Toni Kroos urteilte im Frühling 2021, Katar sei kein Fußball-Land im eigentlichen Sinne. Er halte die Vergabe des Turniers an den Golfstaat für falsch. Amnesty International verurteilte die geplante WM bereits 2013 und prangerte die Lage der Arbeitsmigrant:innen im Land an. Weltweit wurden in den vergangenen Jahren – zumeist von Fan-Initiativen – verschiedene Versuche gestartet, das internationale Turnier zu boykottieren: „#BoycottQatar22“.

Hauptkritikpunkte an der WM sind neben dem korrupten und undurchsichtigen Vergabeverfahren der FIFA (Fédération Internationale de Football Association), vor allem die katastrophale Menschenrechtssituation im Land. Insbesondere die desolaten Arbeitsbedingungen und mangelnden Rechte von Arbeitsmigrant:innen aus asiatischen und afrikanischen Staaten stehen international in der Kritik. Mit dem in Katar praktizierten Kafala-System verletzen die Kataris unzählige Menschenrechte. So werden die ausländischen Arbeiter:innen wie Sklav:innen gehalten und büßen ihre Bewegungsfreiheit ein. Ihre Arbeitsbedingungen sind desaströs. Viele der Migrant:innen arbeiten im Bau-Sektor, unzählige von ihnen sind beim Ausbau der Infrastruktur für die diesjährige WM unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Und als wögen diese Vorwürfe nicht schwer genug, sind auch die klimatischen Bedingungen des Wüstenstaats ungeeignet für die Austragung einer Fußball-Weltmeisterschaft – sowohl für die Sportler als auch für die Umwelt. Fangemeinschaften monieren außerdem die mangelnde Fußballkultur der Golfmonarchie.

Die WM ist politisch

Wie es dennoch zur Austragung des internationalen Turniers am Golf kommen konnte, erklären die Autor:innen des Sammelbands „Das rebellische Spiel: Die Macht des Fußballs im Nahen Osten und die Katar-WM“ (Werkstatt-Verlag, 2022), nachdrücklich und informativ. Herausgegeben haben den Band der Historiker René Wildangel und der Politikwissenschaftler Jan Busse. In verschiedenen Kapiteln zeichnen die Autor:innen die korrupten Hintergründe der Vergabe und der skandalöse Umgang der FIFA mit Whistleblower:innen nach und erklären die Situation der Arbeitsmigrant:innen im Land. Auch ergründen sie die katarische Motivation, sich als Austragungsort zu bewerben. Die Beiträge des Sammelbands lassen dabei nur einen Schluss zu: Dass entgegen der oft proklamierten Trennung von Sport und Politik alles an dieser Weltmeisterschaft – vom Vergabeprozess bis zum Austragungsort – politisch ist.

Besonders erkenntnisreich sind gleich mehrere Kapitel des Buches. Sie beschäftigen sich mit den Hintergründen der katarischen Motivation als Gastgeberland. Anschaulich wird dargestellt, wie der kleine Golfstaat aus geostrategischen Überlegungen und der anhaltenden Rivalität zu seinen Nachbarstaaten, insbesondere den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), versucht, sich als „Fußball-Nation“ zu etablieren. So argumentieren beispielsweise Cincia Bianco und Sebastian Sons, dass die internationale Aufmerksamkeit im Zuge der Katar-WM dem Golfstaat als eine Art internationaler Schutzgarant diene. Die Autor:innen legen dar, warum die konkurrierenden VAE und die große Golfmacht Saudi Arabien letztlich die WM-Strategie Katars mittrugen: Auch diese Staaten hofften, etwas „Fußball-Glanz“ abzugreifen und im Zuge des Wettbewerbs Tourist:innen im eigenen Land empfangen zu können. Nicht nur Katar, sondern auch die anderen Golfmonarchien versuchten laut Bianco und Sons, wachsende ökonomische Unsicherheiten und finanzielle Belastungen für Staatsbürger:innen sowie zunehmende gesellschaftliche Konfliktlinien mit sportlichem Patriotismus zu kaschieren: Fußball als patriotischer Klebstoff. Aber auch innenpolitische Gründe spielten eine Rolle.

Kicken in WANA: Zwischen Sportswashing…

Die Katar-WM macht nur einen Teil des Sammelbands aus. In weiteren Beiträgen und anekdotischen Kurzbeiträgen, passenderweise als „Einwürfe“ betitelt, wird die Bedeutung des Fußballs für die gesamte WANA-Region aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die politische Dimension des Ballspiels zieht sich als roter Faden durch die Kapitel. Egal ob es um die Etablierung von Frauenfußball in den Golfmonarchien oder Libanon geht, um den Kampf der ägyptischen Ultras gegen das Sisi-Regime, um Fangesänge in Algerien oder die Stadionverbote für fußballbegeisterte Frauen in Iran – alle Autor:innen thematisieren mindestens implizit die Spannungen zwischen den Versuchen, politische Einflussnahme auf das Spiel auszuüben und gegen die unterdrückerischen Herrschaftsstrukturen der WANA-Staaten zu rebellieren. In ihren Beiträgen arbeiten sie heraus, wie die verbrecherischen Machthaber:innen und korrupten Regime in der Region versuchen, sich mit inszenierten Fußballmärchen Legitimität zu verschaffen. So entspringe am Golf die Methode des Sportswashings, also der Versuch, mithilfe von großen Sportereignissen im Land die eigene Reputation zu verbessern. Nicht nur dort ist die Methode beliebt. Ronny Blaschke beschreibt, wie der damalige Anführer der Terrorgruppe, Abu Bakr al-Baghdadi, sein Kalifat ausrufen ließ. Neben einem Koranzitierwettbewerb gab es auch ein Fußballspiel.

Moritz Baumstieger gelingt mit seinem Portrait des ehemaligen Nationaltrainers Syriens Bernd Stange ein besonders eindrückliches Beispiel für Sportswashing. Das Assad-Regime verpflichtete 2018 den Deutschen Stange als Trainer, um international wie national dem syrischen Regime mehr Legitimität zu verschaffen. Baumstieger zitiert in seinem Beitrag Assads obersten Sportfunktionär mit den Worten: „Dass wir in der Lage waren, einen Deutschen zu engagieren, zeigt: Syrien gewinnt, Syrien ist wieder sicher.“ Stange, der nach dem syrischen Vorrundenaus des Asien Cups Anfang 2019 wieder vom Regime entlassen wurde, sah laut Baumstieger die Anstellung seiner Person nicht als problematisch an: Er sei halt Trainer, kein Politiker.

…machtpolitischer Klüngelei…

Viele Beiträge des Sammelbands verweisen auf die Klientelpolitik und familiäre Klüngelei, die den Sport in der Region prägen. Busse und Wildangel beleuchten die Grausamkeiten von Udai Hussain, Sohn von Saddam Hussein und ehemaliger Vorsitzender des irakischen Fußballverbands. Während der Herrschaft seines Vaters ließ er die irakischen Spieler bei Misserfolgen foltern. Der kurze und wenig erfolgreiche Ausflug von Saadi al-Gaddafi, Sohn von Muammar, in die italienische Profiliga Serie A führen Busse und Wilangel als weiteres Beispiel an. Als Präsident und Spieler von Al-Ahly SC aus Tripolis entschied er, dass lediglich sein Name von den Fußball-Kommentatoren genannt werden durfte. Brisant ist die Rolle Silvio Berlusconis. Dieser setzte sich dafür ein, dass Saadi in Italien spielen konnte. Wohl in der Hoffnung so die libysch-italienischen Beziehungen zu verbessern und leichteren Zugang zum libyschen Öl- und Gasreichtum zu erhalten. Hier gelangen die Autoren erneut zur ernüchternden Erkenntnis: Um den Sport als solchen geht es auch bei Fußball in WANA meist nur vordergründig.

… und Rebellion von unten.

Gleichzeitig verweisen viele Verfasser:innen auf die emanzipatorische Kraft des Sports und seine Bedeutung für den Widerstand gegen vorherrschende Unterdrückungsmechanismen.

Steffen Hagemann zeigt im Kapitel über Fußball in Jerusalem, wie sich die Fußballvereine der Stadt seit der britischen Mandatszeit entwickelten und beschreibt, wie die unterschiedlichen zionistischen Visionen und Visionärsträger:innen die jüdisch-israelischen Vereine Hapoel Jerusalem und Beitar Jerusalem geprägt haben. Hagemann geht auch auf die schwierige Position fußballbegeisterter Palästinenser:innen ein. So spielten diese in Israel oftmals in jüdisch-israelischen Vereinen und sogar in der Nationalmannschaft. Dort feierten sie mit Stolz die Erfolge arabischer Mannschaften in der Liga. Die selektive Einbindung arabischer Spieler:innen stärke zwar das liberale Image Israels, ändere aber wenig am marginalen Status und der strukturellen Diskriminierung der Palästinenser:innen im Land, schlussfolgert er. 

Philip Malzahn zeichnet den Kampf der ägyptischen Ultras um Emanzipation in den verschiedenen ägyptischen Regimen von Nasser bis Sisi nach. Während sich die ägyptischen Ultras offiziell nach wie vor als unpolitisch verstünden, schafften die von ihnen geprägten Räume in Stadien Möglichkeiten für freie, politische Gespräche, auf die das Regime keinen Zugriff hat.

Die Kämpfe der Frauen in WANA um einen Zugang zum Ballsport und in die Stadien sind das Thema der Beiträge von Anna Reuss und Christoph Becker. Sie thematisieren die Kämpfe um fußballerische Gleichberechtigung in den Golfmonarchien und Iran. Beide Beiträge stellen Mut und Engagement der Frauen ebenso eindrücklich dar wie die patriarchalen Widerstände, mit denen sie zu kämpfen haben.

Entscheidend ist nicht nur auf dem Platz

René Wildangel und Jan Busse ist mit den ausgewählten Beiträgen ein vielfältiges und eindrucksvolles Porträt der Geschichte und Politik von Fußball in WANA gelungen. „Das rebellische Spiel“ liefert nicht nur interessierten Wissenschaftler:innen Anstöße für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema. So finden sich Artikel zur Analyse der Stabilität und Legitimität von staatlicher Herrschaft in der Region, den Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit auf den Sport, oder die Frage nach antikolonialen Praktiken des Widerstands. Auch Fußballbegeisterte, die sich bisher wenig oder gar nicht mit der Region befasst haben, können viel mitnehmen. Verflechtungen des Sports mit Macht und Politik sind schließlich global vorzufinden, ebenso wie die Widerstände der Ultras gegen eine zunehmende Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Sports. In diesem Sinne kann das Buch zur internationalen Solidarität anregen und dazu beitragen, sich stärker mit den Fankulturen in WANA zu befassen.

Fußball sei ein Forum im eigentlichen Sinne des Wortes, schreibt Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Vorwort des Sammelbands. Das dies für die WANA-Region zutrifft, zeigt „Das rebellische Spiel“ auf beachtliche Weise: Wie unter einem Brennglas wird die Bedeutung des Ballspiels für die Region beobachtet. Das Buch zeichnet nach, wie Einfluss und Wirkweise immer wieder neu ausgehandelt werden. Das Spiel wird instrumentalisiert und korrumpiert, bietet aber gleichzeitig eine große emanzipatorische Kraft, die sich allzu oft den vorherrschenden, unterdrückerischen Strukturen entzieht. Weit über die Katar-WM hinaus gilt deshalb das Gegenteil des oft zitierten Mantras von Alfred Preißler „Grau is´ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is´ auf‘m Platz“: Beim Fußball in WANA geht es also um so viel mehr.

 

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Eva Hochreuther, Claire DT