15.02.2023
Rezension: Netanjahus Autobiografie als Wahlprogramm
Symbolbild: Blick auf eine Häusersiedlung. Foto: Benjamin Recinos auf Unsplash
Symbolbild: Blick auf eine Häusersiedlung. Foto: Benjamin Recinos auf Unsplash

In „Bibi. My Story“ schreibt Benjamin Netanjahu über sich selbst, erzählt dabei aber mehr über die gegenwärtige israelische Regierung und deren rechtsnationale Agenda.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Am 1. November 2022 wurde Benjamin Netanjahu, weithin bekannt als Bibi, erneut in das Amt des israelischen Premierministers gewählt. Seine Autobiografie, die den Titel „Bibi. My Story“ trägt, sollte ursprünglich im November erscheinen. Nachdem allerdings die bisherige israelische Regierung ihre Mehrheit verlor und die Knesset Neuwahlen zu Anfang November bekanntgab, wurde das Erscheinungsdatum des Buches in den Oktober, also vor die Wahl verlegt. Das Buch ähnelt  einem Wahlprogramm, das die Ideologie Netanjahus darlegt und klar rechtsnationale Politik proklamiert.

Es wirkt, als greife es der politischen Realität voraus: Vor dem Hintergrund der Lektüre erscheint Netanjahus Entscheidung, eine Koalition mit den rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien einzugehen und die rechteste israelische Regierung aller Zeiten zu bilden, nur plausibel. Der Hauptzweck der Autobiografie scheint zu sein, Netanjahus Lebensweg unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Realität Israels darzustellen und Netanjahu selbst darin die passende Rolle zuzuschreiben.

Formal betrachtet erzählt das Buch Kapitel für Kapitel Netanjahus Biografie nach. Hier liefert das Werk kaum neue Erkenntnisse – Bibis politischer Lebensweg ist weitestgehend bekannt. Auch sein Privatleben, das von den Beziehungen zu Vater Benzion, einem einflussreichen konservativen Historiker, seinem Bruder Yoni, dem jung verstorbenen israelischen Nationalhelden und seiner dritten Ehefrau Sara geprägt ist, ist seit Jahren Gegenstand der öffentlichen Debatte und bereits bestehender Biografien.

Bibi’s Story“: ein politisches Narrativ

Bei der Beschreibung seiner politischen wie privaten Story geht es ihm nicht darum, über seine Herkunft aufzuklären, sondern um die Darstellung eines bestimmten Narrativs. Es ist genau diese Selbstpräsentation Bibis, die das Buch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage Israels – innenpolitisch wie in der Welt – so spannend macht.

Bibi beschreibt seinen Werdegang auf selbstbewussten 724 Seiten. Das Buch ist eingängig und humorvoll geschrieben – Netanjahu entpuppt sich als talentierter Witzeerzähler – und gleichzeitig absolut durchdrungen von Eigeninteresse und der Überzeugung, schon immer alles richtig gemacht zu haben. Eine prägnante Zusammenfassung seines Lebensweges liefert er selbst: „Als Soldat kämpfte ich, um Israel auf dem Schlachtfeld zu verteidigen. Als Diplomat wehrte ich Attacken in internationalen Arenen ab, die auf Israels Legitimität abzielten. Als Finanz- und Premierminister bemühte ich mich, Israels wirtschaftliche und politische Macht  gegenüber anderen Nationen zu vermehrfachen.  [übersetzt v.d. Redaktion] . Über die Zeit in der Opposition von 2021 bis 2022 macht er klar, dass sie nur eine Unterbrechung seiner eigentlichen Berufung war – israelischer Premierminister zu sein.

Das Werben um rechte Koalitionspartner und deren Wähler:innen

Durch das gesamte Werk hindurch zieht sich Netanjahus Bemühung, seine früheren Amtshandlungen zu erklären. Besonders ausführlich behandelt und rechtfertigt er Entscheidungen, die Kritik aus dem rechten politischen Lager nach sich zogen. Umfangreich beschreibt er beispielsweise die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit im Jahr 2011, der seit 2006 von der Hamas im Gazastreifen in Gefangenschaft gehalten wurde. Im Gegenzug ließ Israel damals mehr als tausend palästinensische Häftlinge frei, darunter namhafte Terrorist:innen. In Teilen der Gesellschaft und im eigenen Kabinett wurde Netanjahu damals vorgeworfen, sich den Forderungen der Hamas gebeugt zu haben.

Retrospektiv erklärt Bibi seine Entscheidung als strategisch: Mit der gesteigerten Popularität, die ihm die Freilassung einbrachte, habe er erhofft, härteres Vorgehen gegen den Iran sowohl im eigenen Sicherheitsapparat als auch vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama erwirken zu können, wie er an mehreren Stellen des Buches verdeutlicht. Bei der Lektüre wird nochmals deutlich: Um Shalit selbst ging es ihm kaum.

Ein anderer Versuch, die Kritik von rechts im Nachhinein zu entkräften, zeigt sich in Netanjahus Darstellungen zum „Jahrhundertdeal“ des US-Präsidenten Donald Trump. Dieser legte 2020 einen Friedensplan vor, der alle israelischen Bedingungen berücksichtigte, darunter ein ungeteiltes Jerusalem, die Hoheit über die Sicherheit im Westjordanland sowie die Legalisierung der – auch nach israelischem Recht – illegalen Siedlungen. Doch allein schon die Einwilligung Netanjahus, mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu verhandeln, zog massive Vorwürfe von nationalreligiösen Parteien nach sich: Er würde das biblische Land aufteilen wollen.

Geheime Vereinbarungen mit Trump

In „Bibi. My Story“ erzählt Netanjahu nun von einer inoffiziellen Vereinbarung mit Trump, von der er seine Einwilligung abhängig gemacht haben soll. Dabei sollen sich die beiden darauf verständigt haben, dass Netanjahu die israelische Souveränität auf das Territorium hätte ausweiten dürfen, das im Deal als zukünftig israelisch vorgesehen wurde. Ganze 30 Prozent der West Bank hätten demnach mit Billigung der USA annektiert werden sollen, und zwar unabhängig von Verhandlungen und ihrem Ausgang. Doch entweder ein Missverständnis oder der Einfluss „antiisraelischer“ Berater:innen auf Trump führten laut Bibi dazu, dass das Weiße Haus diese Vereinbarung doch nicht einhielt.

Hätte Netanjahu die Biografie nicht selbst verfasst, könnte man als Leser:in denken, dem Autor sei daran gelegen, Bibi als möglichst abgebrüht und radikal darzustellen. Dass Netanjahu ein solches Selbstbild wählt, macht umso deutlicher, wie aggressiv er meint auftreten zu müssen, um die Stimmung seiner möglichen Koalitionspartner und deren Wähler:innen rhetorisch einzufangen.

Palästinensische Araber:innen kommen im Buch nicht vor

Passend zur antiarabischen Stimmung des diesjährigen Wahlkampfs kommen israelische Araber:innen im Buch nicht vor. Auffällig ist die Leerstelle insbesondere deswegen, da Netanjahu alias Abu Yair (arabisch für „Vater von Yair“, ein Verweis auf seinen ältesten Sohn), wie er sich selbst nannte, sie noch im Wahlkampf des Jahres 2021 als Wähler:innen umwarb und eine Koalition mit der islamistischen arabischen Partei Ra'am anstrebte. Eineinhalb Jahre später verliert Netanjahu kein Wort mehr über seine ehemaligen Avancen und empört sich stattdessen über die sogenannte Koalition des Wandels, der Ra'am vom Juli 2021 bis November 2022 angehörte. Ra'am sei eine antizionistische Partei, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht aberkenne, so Bibi.

Verschiebungen im Israeldiskurs

Statt Enthüllungen über Netanjahus Vergangenheit zu liefern, eignet sich „Bibi. My story“ auch dafür, Verschiebungen aufzeigen, die international im Diskurs über Israel in den letzten Jahren beobachtet werden konnten. Für diese Verschiebungen ist nicht zuletzt Netanjahu selbst verantwortlich, wie er an mehreren Stellen des Buches stolz deutlich macht.

So greift Netanjahu beispielsweise die Abkehr von der im internationalen Kontext ehemals weitverbreiteten Annahme auf, dass Frieden in der WANA-Region nur über die friedliche Beilegung des Nahostkonflikts möglich sei. Netanjahu nennt dies die „centrality of the Palestinian issue“. Unaufhörlich habe er diese, insbesondere von den Europäer:innen lieb gewonnene Sichtweise, zu zerpflücken versucht,  beispielsweise gegenüber Angela Merkel. Mit den Abraham Abkommen des Jahres 2020 zwischen Israel und den Golfstaaten sowie der Normalisierung mit Mokkaro und dem Sudan sei es ihm gelungen, den ultimativen Beweis zu liefern: Niemand in der Region würde mehr auf die Lösung des Konflikts mit den Palästinenser:innen warten.

Eine andere aus seiner Sicht erfolgreiche Diskursverschiebung resultiert aus den von Netanjahu eingeführten Vorbedingungen für jede Art von Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde. Unter anderem müsse diese „Israel als jüdischen Staat“ anerkennen. Ironischerweise machte die Einführung dieser Vorbedingung von vornherein jegliche Verhandlungen unmöglich, wie Ron Dermer – heute Minister für strategische Angelegenheiten – zitiert wird. Die Bedingung zeigt zudem die voranschreitende Transformation eines ehemals territorialen Konflikts hin zu einem Konflikt über Religion und nationale Identitäten.  

Dekontextualisierung: ein beliebtes Stilmittel im Israel-Palästina-Konflikt

Ein weiteres, auch international beliebtes Stilmittel in der Auseinandersetzung um Narrative im Israel-Palästina-Konflikt, dessen sich auch Netanjahu bedient, ist Dekontextualisierung. So wirft Netanjahu der Palästinensischen Autonomiebehörde Rassismus vor, weil diese mit ihrer Ablehnung israelischer Siedlungen in der West Bank ein „judenfreies“ Territorium herstellen wolle. Dabei ignoriert er willentlich sowohl die Geschichte des Konflikts als auch das internationale Recht.

Netanjahus Autobiografie zeigt exemplarisch, wie sich durch zahlreiche öffentliche Auftritte und Interviews solche und vergleichbare Aussagen in der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig verankern und als Narrative etablieren lassen. Er beschreibt, wie er bereits als junger Mann erkannt habe, dass sich mit der Beeinflussung der öffentlichen Meinung und dem Druck, den sie ausüben kann, Politik machen lasse. Hasbara, also die Darstellung der israelischen Politik in der (internationalen) Öffentlichkeit, wird von seinen ersten Ämtern an zu einem der wichtigsten Instrumente seines politischen Handelns.

Freund und Feind

Netanjahu ist mittlerweile 73 Jahre alt und derzeit ältester Politiker der Knesset. Die Liste seiner Gegner:innen und ehemaliger Weggefährt:innen, die ihn enttäuscht haben, ist sehr lang. Er nutzt seine Autobiografie auch, um mit jedem und jeder von ihnen nochmals abzurechnen – namentlich. Bei Avigdor Lieberman, ehemals israelischer Verteidungsminister,  erinnert er an die Ermittlungsverfahren in dessen Umfeld wegen Veruntreuung von öffentlichen Geldern. Naftali Bennet, kurzzeitiger Ministerpräsident von 2021 bis 2022, nennt er einen Lügner, der nichts anderes sei als eine „empty pose“. Tzipi Livni, ehemalige israelische Außen- und Justizministerin, bezeichnet er als naiv. Yair Lapid, den derzeitigen Oppositionsführer und seinen aktuell wohl größten politischen Konkurrenten, verhöhnt er als Besserwisser.

Ausführlich behandelt Netanjahu seine persönliche Fehde mit der israelischen Justiz und den Medien, die von „den Linken“ besetzt seien, welche ihn auf parlamentarischem Wege nicht loswerden könnten. Ihr Versuch, ihn abzusetzen, sei die eigentliche Motivation hinter den drei laufenden Gerichtsverfahren gegen ihn sowie hinter der negativen Berichterstattung der israelischen Presse. Hier wird nochmal deutlich, wie sehr Netanjahu auch selbst hinter den aktuellen Reformen der neuen Regierung steht, die auf die Schwächung des Rechtsstaats abzielen und den öffentlichen Rundfunk privatisieren wollen. Unfreiwillig komisch ist an dieser Stelle sein Vergleich zwischen Lady Di und Sara Netanjahu, die angeblich einer ähnlichen medialen Hetze ausgesetzt sei, wie die britische Prinzessin ihrerzeit.

Bei Bibis klarer Aufteilung in Freund und Feind sticht im internationalen Raum seine offenkundige Sympathie für Wladimir Putin ins Auge. Das Buch erschien über ein halbes Jahr nach dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine. Der Krieg kommt aber an keiner Stelle vor. Erstaunlich ist, dass Putin in Netanjahus Erzählung ausgerechnet als ein Korrektiv zu Obama fungiert, zu dem Bibi zwar ein schwieriges Verhältnis hatte, der aber dennoch der Präsident des wichtigsten israelischen Verbündeten, der USA, war.

Ein politisches Programm, das dabei ist, umgesetzt zu werden

In den letzten Monaten seiner Amtszeit habe Obama noch eine Resolution zur israelischen Besatzung im UN-Sicherheitsrat vorbereitet, die sich aber nicht manifestiert hätte, so Bibi. Es soll ausgerechnet Putin gewesen sein, der sich auf direkte Bitte Netanjahus gegen die Resolution einsetzte und diese von der Agenda nahm. Gelesen als Wahlprogramm bedeutet das, dass die neue israelische Regierung unter Netanjahu auch weiterhin versuchen wird, eine konfrontative Positionierung gegen Russland zu vermeiden und sich Gesprächskanäle nach Moskau offenzuhalten.

Am Ende der Lektüre weiß man, dass man nicht am Ende der Geschichte von Benjamin Netanjahu angelagt ist. Ohne Zweifel ist Bibi ein wichtiger Staatsmann, der eine ganze Ära israelischer Politik geprägt hat und weiterhin prägt. Seine Biografie zeigt sein Denken auf und gibt Einsicht in seine politische Agenda. Diese Einsicht ist aufschlussreich und allen zu empfehlen, die sich mit der derzeitigen Politik und Gesellschaft Israels auseinandersetzen möchten. Dabei ist gleichzeitig klar, dass es sich bei Netanjahus Buch nicht um Memoiren handelt, sondern um ein extremes politisches Programm gegen die israelische Linke, die Medien, die Justiz, die Palästinenser:innen und israelischen Araber:innen. Dieses Programm wird gerade in Echtzeit umgesetzt.

Benjamin Netanjahu: Bibi. My Story, Threshold Editons, New York 2022, 724 Seiten, Englisch und Hebräisch.

 

 

 

 

Lidia Averbukh arbeitet seit Jahren zur israelischen Innen- und Außenpolitik sowie den deutsch-israelischen Beziehungen. 2021 wurde sie an der Bundesuniversität München über das israelische Rechtssystem promoviert.
Redigiert von Charlotte Wiemann, Jana Treffler