30.11.2021
„Von Vielem in der afghanischen Geschichte wissen wir nichts“
„Kabul Kinderheim“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der in einem sowjetischen Waisenhaus in Afghanistan aufwächst. Credit: Virginie Surdej
„Kabul Kinderheim“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der in einem sowjetischen Waisenhaus in Afghanistan aufwächst. Credit: Virginie Surdej

Der Film „Kabul Kinderheim“ fängt mit einzigartiger Nähe die 80er- und 90er-Jahre in Afghanistan ein - sein Plot könnte jedoch kaum aktueller sein. Zum Kinostart in Deutschland hat dis:orient mit Regisseurin Shahrbanoo Sadat gesprochen.

Shahrbanoo, wie kam es dazu, dass du mit „Kabul Kinderheim“ einen Film über die Geschichte Afghanistans produziert hast?

Nicht nur Menschen außerhalb Afghanistans, sondern auch Afghan:innen selbst, wissen kaum etwas über afghanische Geschichte – auch meine Generation beispielsweise, die in den 90er-Jahren geboren wurde. Die Nachrichten, gerade die Medien des globalen Nordens, zeichnen häufig ein einseitiges Bild und wir Afghan:innen haben kaum Zugang zu Erzählungen aus afghanischer Sicht. Die Menschen sprechen nicht darüber, sie achten auf das, was sie sagen und teilen ihre Erfahrungen nicht. Es ist wirklich schwer, Personen zu finden, die über ihre eigenen Erlebnisse im seit Jahrzehnten andauernden afghanischen Krieg sprechen möchten.

Als ich dann Anwars [Verfasser der Tagebücher, auf denen Shahrbanoo Sadats Filmreihe basiert, Anm. d. Red.] Geschichte über seine Zeit im sowjetischen Waisenhaus in den 1980ern las, war ich sehr bewegt. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas lesen durfte, das so persönlich und gleichzeitig so schön und politisch geschrieben war. Mein Drehbuch habe ich auf der Grundlage seiner Erinnerungen an diese Zeit verfasst.

Woher kam dein Drang, hier mehr erfahren zu wollen?

Ich wurde in Iran als Geflüchtete geboren und fühlte mich dort nicht zugehörig. Gleichzeitig wusste ich nichts über Afghanistan und damit auch nicht, wo ich mich zuhause fühlen soll. Ich habe mich dafür geschämt, Afghanin zu sein, denn es gab und gibt große Vorurteile gegenüber Afghan:innen im Iran. Meine Eltern haben dort mehr als 14 Jahre verbracht und nie das Gefühl erleben dürfen, willkommen zu sein. Als ich elf Jahre alt war, zogen meine Eltern mit uns zurück nach Afghanistan, aber ich kannte dieses Afghanistan nicht. All die Menschen, all die ehemaligen Schutzsuchenden, die nach Afghanistan zurückkehren, lassen sich in Kabul oder anderen großen Städten nieder. Meine Eltern brachten uns hingegen in ein winziges Dorf im Nirgendwo.

Dort bin ich mit Jungen aufgewachsen. Das mag in anderen Ländern etwas ganz Normales sein, aber in Afghanistan ist das ungewöhnlich, fast unmöglich. Überall, wo Mädchen und Jungen aufeinandertreffen könnten, werden sie getrennt. In dem Dorf, in dem wir nach unserer Rückkehr nach Afghanistan lebten, gab es keine Schule. Nach drei Jahren konnte ich meine Eltern überzeugen, die nächstgelegene Schule besuchen zu dürfen. Dabei handelte es sich um eine Jungenschule, sie lag in einem anderen Tal, und das bedeutete eine tägliche, dreistündige Wanderung über Berge – hin und zurück. Ich war das erste und bin, glaube ich, bis jetzt, das einzige Mädchen, das in dieser Jungenschule unterrichtet wurde. Selbst in Kabul war ich die einzige Frau, die Filmwissenschaften studierte. Auch als Erwachsene, in meinem ersten Job bei einer großen TV-Show im Fernsehen, musste ich mich ständig damit auseinandersetzen und mich immer an diesen von Männern dominierten Orten durchschlagen.

Wie hat sich deine Rückkehr als Kind nach Afghanistan auf dich ausgewirkt? Findet sich davon etwas in „Kabul Kinderheim“?

Es hat lange gedauert, bis ich mich als Afghanin fühlte. Erst als ich nach Kabul zog, studierte und Anwar traf, bin ich in Afghanistan angekommen. Es war eine Zeit, in der ich anfing, mich mit anderen auszutauschen und zu verstehen, dass es Teile der afghanischen Geschichte gibt, von denen wir nichts wissen. Wir wissen gar nichts. Deswegen lag es mir so am Herzen, seine Geschichte mit anderen zu teilen, weil Anwar so ehrlich über seine Vergangenheit und über die Geschichte Afghanistans spricht. Ihm geht es nicht um Politik, sondern um seine Kindheit in einem sowjetischen Waisenhaus. Das hat mich persönlich sehr bewegt, denn als ich den Film präsentierte und damit zu Festivals an verschiedenste Orte reiste, dachten einige Leute, es sei ein Propagandafilm, weil ich Russland teilweise in einem guten Licht portraitiert habe. Aber darum ging es nicht, genau das ist es, was mir an dem Film gefällt: Es ist dieser persönliche Ansatz eines kleinen Jungen in einem russischen Waisenhaus, der keine Meinung zur Politik hat.

Welchen Zusammenhang siehst du zwischen dieser Zeit und heute?

 Ich habe viele Ähnlichkeiten zwischen seiner Zeit und meiner gefunden, auch wenn ich bloß versuchen kann mir vorzustellen, was in den letzten drei Monaten, seit meiner Ausreise aus Afghanistan, passiert ist und was diese Woche passieren wird. Ich weiß, dass viele Menschen in Afghanistan, wenn sie über Kabul in den 80er-Jahren sprechen, immer diese gewisse Nostalgie in ihren Stimmen tragen, über das Leben in einer glücklichen Stadt, in einem normalen Land.

Dann, Anfang der 90er-Jahre, endete alles mit den Mudjahedin, mit vier Jahren Zerstörung und Bürgerkrieg und schließlich der ersten Machtübernahme der Taliban 1996. Ersetze ich nun die USA mit der Sowjetunion und die Mudjahedin durch die Taliban, bleibt die Situation für die Zivilbevölkerung heute dieselbe. Wir, die Afghan:innen, leben ein oder zwei Jahrzehnte in relativer Ruhe, bis etwas Dramatisches passiert und alles verändert, wir gehen in die Dunkelheit und wieder zurück ins Licht, es ist ein nicht enden wollender Kreislauf.

Denkst du, dieser Kreislauf lässt sich durchbrechen?

Es wäre wichtig, dass wir besseren Zugang zu vertrauenswürdigen Quellen über unsere eigene Geschichte erhalten, damit wir daraus lernen können. Ich war selbst vor Ort, als die Taliban in Kabul einmarschierten, in diesen Momenten musste ich an Anwar denken. Dieses Gefühl, um sein Leben zu rennen oder ihm hinterherzulaufen - das haben so viele vor mir bereits spüren müssen. Ich habe das Gewicht dieser Tage wirklich gespürt, ich habe gesehen, dass ich in diesem historischen Moment lebe, dass hier gerade etwas Großes und Gewaltiges passiert. Als Filmemacherin habe ich es sehr geschätzt, dass ich dabei sein konnte, als Mensch hatte ich natürlich große Angst. Ich hatte Angst um meine Freund:innen, um meine Familie, um die Menschen, die ich liebe, noch mehr aber war ich überrascht, dass das, was 1992 passiert ist, jetzt wieder passiert, und dass es auch in den nächsten 20 oder 30 Jahren erneut passieren kann.

Du musstest aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 selbst fliehen und lebst seither in Deutschland. Wie fühlt es sich an, aktuell nicht mehr in Afghanistan wohnen zu können?

Meine Meinung hierzu schwankt mit jeder Sekunde. Wenn ich Videos sehe und betroffen bin von den Dingen, die vor sich gehen, wenn ich die Hoffnung verliere, dann schäme ich mich dafür, dass ich nicht in Afghanistan bin, während andere Leute vor Ort demonstrieren. In hoffnungsvolleren Momenten denke ich mir: Die Straßen in Kabul sind nicht der Ort, an dem ich gut kämpfen kann, mein Ort ist das Kino. Momentan spüre ich allerdings vor allem eine schwere Überwältigung, denn ein Teil meiner Familie lebt noch in Afghanistan, einige meiner Freund:innen, meine Katzen. Sie alle sind in Afghanistan und ich kommuniziere jeden Tag mit ihnen, ich bin also 24 Stunden am Tag mit Afghanistan verbunden. Für mich ist es erst einmal ein Kampf, den Platz zu finden, an dem ich stehen sollte, den Ort, an dem ich am nützlichsten bin. Vielleicht kann ich einen Weg finden, den Kampf in den Straßen mit meiner Filmarbeit zu verbinden.

Dein Film benutzt für Bollywood typische Elemente, wie zum Beispiel Traumszenen mit musikalischer Untermalung und Augenkontakt mit den Zuschauer: innen. Was ist deine Beziehung zu diesem Genre?

Bis zu meiner Arbeit an „Kabul Kinderheim“ war ich kein großer Fan von Bollywood-Filmen. An einem Punkt habe ich jedoch gespürt, dass diesem Projekt etwas fehlte und mir daraufhin sehr viele Bollywood Filme angeschaut. Das hat mir geholfen zu verstehen, warum Anwar als Kind so eine Liebe zu diesem Genre entwickelt hat. Er verkaufte Karten für Bollywood-Filme auf dem Schwarzmarkt vor den Kinos Kabuls und beschrieb in seinen Tagebüchern mit Begeisterung die Action- und Gesangsszenen.

Wenn man sich Bollywood-Filme ansieht, stellt die Hauptfigur häufig ein Waisenkind dar, welches auf der Straße lebt und niemanden hat. Und plötzlich, drei Jahre später, wird das Kind der:die Held:in des Filmes, das Macht, Geld, eine Familie und Zuneigung hat. In Afghanistan lieben die Menschen Bollywood. Es gibt ihnen die Möglichkeit, für drei Stunden in einem dunklen Raum in eine Geschichte abzutauchen, die absolut nichts mit ihrem wirklichen Leben zu tun hat. Dank des Bollywoodkinos sprechen viele Menschen auch fließend Urdu und dann gehen sie nach Indien und brauchen keine Übersetzung – Indien ist wie eine zweite Heimat.

Die afghanische Liebe zu Bollywood hat auch eine politische Dimension. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich glaube, unsere Liebe zu Bollywood, zur indischen Kultur, trägt Mitschuld an dem Konflikt zwischen Pakistan und Indien. Die pakistanische Regierung fühlt sich durch diese Freundschaft bedroht und möchte, dass Afghanistan eine Regierung hat, die Indien nicht zu nahesteht. Hier drückt sich die politische Macht des Kinos aus.

Wirst du Anwars Erlebnisse filmisch weitererzählen?

Ja, ich möchte seine Geschichte weitererzählen. Da Anwars Aufzeichnungen mehr als 800 Seiten umfassen, werde ich sie in insgesamt fünf Filmen verarbeiten. „Kabul Kinderheim“ stellt den zweiten Teil dar. Vor einigen Jahren habe ich mit der Arbeit am dritten Teil begonnen: eine romantische Komödie über zwei Menschen, die sich treffen und, wie das eben so passiert, verlieben.

Ich wollte einen Film über das alltägliche Leben in Kabul in den letzten 20 Jahren produzieren, das war schon immer mein Wunsch. Kabul ist in vielerlei Hinsicht eine verrückte Stadt, denn neben den Kriegen und dem Terror war sie trotz allem auch in dieser Zeit sehr lebendig und eben auch aufbrausend und bunt. Natürlich war Afghanistan auch damals eines der korruptesten Länder der Welt, aber beispielsweise hatten Frauen in diesen Jahren die Möglichkeit zu studieren, zu arbeiten, in den Medien aufzutreten. Verabredungen und Nachtleben in Kabul, die Art von Leben, welches auch ich lebte, das sind die Themen, mit denen ich mich in den letzten zwei Jahren beschäftigt habe. Das sind die Filme, die ich produzieren möchte.

Welche Geschichten möchtest du verfilmen?

Ich will afghanische Filme produzieren. Das Problem ist, dass die Filmindustrie für Filme über den Alltag afghanischer Bürger:innen nicht existiert, weil es den Markt hierfür noch nicht gibt. Außerdem möchte ich das Bild unseres Landes des internationalen Publikums korrigieren, ich will Afghanistan so darstellen, wie es wirklich war und ist. Aber die einzigen Geschichten aus Afghanistan, die sich verkaufen, sind Kriegsgeschichten oder Geschichten über Traumata, dabei gibt es so viele Geschichten, die die Kultur und das Leben feiern.

Es war wirklich interessant, als ich vor zwei Jahren mit meinen Produzent:innen zum ersten Mal darüber sprach, eine romantische Komödie drehen zu wollen, bekamen wir von einigen Personen die Rückmeldung, dass man keine Komödie über Afghanistan drehen könne. Ich antwortete: Doch, ich will eine Komödie erzählen, weil ich das Gefühl habe, dass mein Leben eine Komödie ist. Es ist doch nicht so, als ob es keine Menschen gibt, die ihr Leben in Afghanistan lebenswert finden.

Ich habe die letzten 20 Jahre in Afghanistan gelebt, und ich hatte nie das Gefühl, dass ich unglücklich bin. Wäre ich es gewesen, hätte ich Afghanistan in den letzten zehn Jahren verlassen können. Aber das war nicht meine Absicht, das war nicht meine Entscheidung, ich mochte mein Leben in Afghanistan, weil es jeden Tag eine Herausforderung war. Oft fand ich mich in sehr unterhaltsamen Situationen wieder, in denen ich versuchte, mich zu erklären, oder mir etwas beizubringen, was mir nicht erlaubt war. Es gibt doch stets die Tragödie und die Komödie in allem, man kann das nicht voneinander trennen. Und selbst wenn etwas unfassbar Trauriges passiert, kann man darin noch komische Momente entdecken.

Ich möchte Menschen etwas über Afghanistan beibringen, ohne dabei die Fakten zu ignorieren, und trotz allem das Bild vermitteln, dass Afghanistan wie jedes andere Land dieser Welt ist und dass es dort auch Menschen gibt, die lieben, lachen und ausgehen können, die ein normales Leben führen. In Hollywood-Filmen ist Krieg etwas Episches, das die Menschen davon abhält, ihren Alltag weiterzuführen, aber in Afghanistan ist er nach 42 Jahren nicht mehr episch, sondern bloß Teil der Routine. Warum sollten wir immer noch Kriegsfilme produzieren und so tun, als ob der Krieg etwas Wichtiges wäre? Krieg ist nicht wichtig und ich glaube, das hat eine ganz eigene Komik in sich, dass wir uns an wirklich hässliche Dinge gewöhnen können und versuchen, uns anzupassen und weiterzumachen. Deswegen will ich Komödien erzählen, Liebesgeschichten aufnehmen, ich möchte ein anderes Afghanistan zeigen.

Warum ist es gerade jetzt wichtig, solche Geschichten zu erzählen?

Vor allem aktuell sind alle, mit denen ich spreche, verzweifelt und gebrochen. Wenn das Kino etwas gibt, dann sollte es Hoffnung und Fantasie sein, oder? Wir sollten nicht aufgeben, und ich glaube nicht, dass die Taliban Afghanistan für immer halten können. Als mein Vater sein Haus in Zentralafghanistan kaufte, konnte er es nicht genießen. Er musste Afghanistan verlassen, weil der Krieg begann, und in den Iran auswandern. Er wollte einen Monat bleiben, schließlich verbrachte er 14 Jahre dort. Aber er kam zurück! Was auch immer passiert: Auch ich habe meine Wohnung in Kabul, ich habe sie letztes Jahr gekauft und bin erst vor sechs Monaten eingezogen. Ich halte die Schlüssel noch immer in der Hand. Also ja, es wird eine Zeit geben, in der ich zurückkehre, und bis dahin möchte ich aus der Ferne unsere Geschichten weitererzählen.

Kabul Kinderheim" läuft seit dem 4. November 2021 in den deutschen Kinos. In der letzten Novemberwoche wird er beispielsweise im Wolf Kino Berlin gezeigt.

 

Sophie Romy studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Von Herbst 2019 bis Herbst 2022 leitete sie das Nerv-Magazin für studentisches Sein. Ihre Texte erschienen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Seit Oktober 2022 ist sie Hospitantin beim ZEIT Wissen Magazin.
Redigiert von Maximilian Menges, Johanna Luther