30.05.2022
Wem gehört der Grund und Boden?
„Tunesien mangelt es nicht an Boden, Wasser oder Ressourcen, um seine Bevölkerung zu ernähren.“ Foto: Martha Ninova
„Tunesien mangelt es nicht an Boden, Wasser oder Ressourcen, um seine Bevölkerung zu ernähren.“ Foto: Martha Ninova

Wem gehört eigentlich das Land? Und wer darf es bewirtschaften? Elf Jahre nach der Revolution sind diese Fragen in Tunesien weiter umkämpft. Kleine Kollektive wehren sich gegen koloniales Landrecht und Monokultur.

Von Lagsab, einem kleinen Dorf im Herzen Tunesiens, hat man einen wunderschönen Blick über die vielen Hügel, die meisten von ihnen mit Olivenbäumen bepflanzt. Lassad Dschuini zeigt die Ländereien, knapp hundert Hektar Erde. Sie werden seit drei Jahren nicht mehr vom Staat, sondern von einem Privatinvestor bewirtschaftet. Das Recht dazu hatte dieser zu einem Spottpreis vom Staat erworben.

Dschuini bezeichnet sich selbst als „Bauer ohne Land“: „Die 26 Landwirt:innen, die früher dort angestellt waren, hat er alle entlassen – obwohl er gesetzlich verpflichtet ist, Angestellte zu haben.“ Aus dem Unrechtsgefühl entwickelte sich eine Protestbewegung und das Kollektiv der Kleinbäuerinnen und -bauern organisierte sich. Ihnen geht es um die Zurückaneignung des Grund und Bodens, der sie umgibt, und damit um nichts weniger als den Slogan der Revolution von 2011: Arbeit, Freiheit, Würde.

Koloniale Kontinuitäten

Dass die Bewohner:innen Lagsabs das Land nicht autonom verwalten können, geht auf die Kolonialzeit zurück. Die Geschichte des Dorfes steht dabei stellvertretend für viele andere – nicht nur in Tunesien sondern dem ganzen Maghreb. Die französische Kolonialmacht enteignete kleine Bauern und Bäuerinnen zugunsten von Siedler:innen und strukturierte den Boden zu riesigen Monokulturplantagen um. Ziel war es, Produkte für den französischen und europäischen Markt anzubauen.

Die Folgen zeigen sich bis heute: Tunesien ist einer der weltweit größten Exporteure für Olivenöl, muss aber mehr als die Hälfte des konsumierten Getreides importieren. Die Abhängigkeit von Importen macht das Land anfällig für Preisschwankungen und Krisen des globalen Marktes. So sind durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine beispielsweise die Getreideimporte aus beiden Ländern eingebrochen und Länder wie Tunesien erleben nur wenige Wochen darauf einen ernsthaften Versorgungsengpass.

Der Kolonialismus endete in Tunesien formal 1956. Doch die darauf folgende post-koloniale Politik hat es nicht geschafft durch Landwirtschaftsreformen mit der Abhängigkeit vom globalen Lebensmittelmarkt zu brechen. Unter Druck internationaler Finanzinstitutionen und Investor:innen wurde in den 1980er-Jahren durch verschiedene Strukturanpassungsprogramme die Landwirtschaft immer neoliberaler ausgerichtet.

Die Liberalisierung unterwirft den Boden und seine Erträge den Spekulationen privater Investor:innen, die das Land als Geldanlage und nicht als Ernährungsgrundlage betrachten. Lassad Dschuini spricht von einer „neuen Form der Kolonialisierung“. Wobei sich diese am selben Ziel orientiert wie die erste Kolonialisierung: dem Ausverkauf des tunesischen Landes an Investor:innen und dessen Nutzbarmachung für den globalen Markt.

Monokultur und Enteignung

Seit Beginn der Kolonialisierung 1881 bis hin zum Sturz des Diktators Ben Ali im Jahr 2011 hatten alle agrarpolitischen Maßnahmen das Hauptziel, die Agrarflächen in Händen von Großgrundbesitzer:innen und Investor:innen zu konzentrieren und kleine Bauernfamilien schrittweise zu vertreiben.

In Zahlen sieht das so aus, dass Anfang der 2000er-Jahre mehr als die Hälfte der Landwirt:innen unter fünf Hektar Land besaßen und insgesamt nur elf Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche. Gleichzeitig verfügten ein Prozent der Eigentümer:innen über mehr als hundert Hektar pro Person und halten damit insgesamt 22 Prozent der Agrarflächen in ihren Händen.

Welche Auswirkungen hat diese so ungleiche Verteilung? Das grundlegende Interesse der Großgrundbesitzer:innen ist Gewinnmaximierung. Die auf den Ländereien angewendeten Produktionsmethoden steigern zwar kurzfristig den Ertrag, dafür werden jedoch gravierende Umweltschäden in Kauf genommen: Wasserressourcen werden extrem erschöpft, der Boden verseucht und am Ende ungesunde Lebensmittel produziert.

Blick auf Lagsab. Foto: Martha Ninova

2010 entzündete sich der Protest

Am meisten Geld lässt sich mit zum Export bestimmten Monokulturen gewinnen, die auf Nutzung von Hybrid-Samen und chemischen Dünger angewiesen sind. Tunesien produziert auf dem Großteil der Fläche Olivenöl für den europäischen Markt. In Tunesiens Bevölkerung gibt es durch diese Agrarpolitik immer mehr Bauern und Bäuerinnen ohne Land, die gezwungen werden in die Städte abzuwandern und dort nach Arbeit zu suchen.

Dieser Zusammenhang steht auch hinter der tragischen Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, der sich 2010 in Brand setzte und als unmittelbarer Auslöser der tunesischen Massenproteste, einige sagen sogar des „Arabischen Frühlings“, gilt. Bouazizi sah sich gezwungen, im Supermarkt Gemüse zu kaufen und es dann auf dem Markt weiter zu verkaufen, nachdem sein Onkel sein Land in einer Zwangsversteigerung an einen Investor verlor.

Bouazizi hatte auf den Ländereien gelegentlich gearbeitet, nach der Zwangsversteigerung wurde ihm der Zugang verboten. Das Ausnutzen der Zwangslage der Kleinbäuerinnen und –bauern kann demnach als einer der Auslöser der tunesischen Revolution gesehen werden.

Die autonome Oase

Seit Bouazizis Tod hat sich, wie der Streit in Lagsab zeigt, nicht viel geändert. Doch ein paar Vorbilder und Erfolgsgeschichten gibt es. Zum einen gibt es die Oase von Jemna, deren seit der Revolution autonome Verwaltung im März 2022 vom Staat anerkannt wurde. Ursprünglich wurde die Oase mit einer Fläche von 300 Hektar in Kolonialgut umgewandelt und nach der Unabhängigkeit zu Staatseigentum erklärt.

Seit 2011 beanspruchen die Bewohner:innen Jemnas die Oase für sich und verwalten sie durch die von ihnen gegründete „Vereinigung zum Schutz der Oase von Jemna“, Association de sauvegarde des Oasis de Jemna. Sie hat den Anspruch, eine soziale und solidarische Wirtschaft zu betreiben und so werden die Gewinne aus den Ernten in gemeinnützige Projekte investiert: Es gibt mittlerweile eine Sporthalle und einen Krankentransport in die Hauptstadt.

Auch dem Kollektiv der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Lagsab schwebt so etwas vor. Dschuini verweist auch auf internationale Vorbilder: „Schau dir mal an, was die landlosen Bauern und Bäuerinnen in den 1990er-Jahren in Brasilien der Liberalisierung des Agrarmarktes entgegengesetzt haben. So ähnlich wollen auch wir unsere Felder autonom bewirtschaften, nicht mehr nur als schlecht bezahlte Arbeitnehmer:innen.“

Nationales Interesse?

Das Kollektiv plant zurzeit einen Sit-in-Protest, obwohl acht von ihnen bei der letzten solchen Aktion eine Woche im Gewahrsam genommen wurden. „Ein Beamter rief mich an und meinte, ich könne beim Staat für 400 Dinar arbeiten, wenn ich leise sei“, erzählt Lassad Dschuini.

„Natürlich habe ich abgelehnt. Wir wollen, dass die Gesetze geändert werden.“ Will das auch die Regierung? Präsident Kais Saied, der das Land seit Juli 2021 per Dekret regiert, hat seine Unterstützung bekundet. Um die Bauern und Bäuerinnen in ihrem Kampf um Autonomie zu unterstützen, müsste er sich aber unter anderem gegen die Interessen der Großinvestor:innen und denen Europas durchsetzen.

Seit mehreren Jahren verhandelt Tunesien mit der EU bezüglich des Freihandelsabkommen ALECA. Die europäischen Länder haben ein Interesse an der Öffnung des tunesischen Agrar- und Lebensmittelmarktes. Diese Öffnung würde die Abhängigkeit Tunesiens von internationalen Finanzinstituten jedoch endgültig besiegeln, da das Land viel stärker als bisher den Preisschwankungen des globalen Lebensmittelmarktes ausgesetzt wäre.

Die kurzsichtige Politik Europas

„Sollten unsere Entscheidungen mal nicht mehr mit unseren westlichen ‚Freund:innen‘ übereinstimmen, bleiben uns nur noch unsere Finger zu essen“, schreibt Habib Ayeb auf seinem Blog. Er verweist dabei auf Embargos gegen Iran oder Irak nach politischen Spannungen. Der Geograph, der 2017 ein Forum zur Lebensmittelsouveränität ins Leben rief, ist überzeugt, dass es „Tunesien nicht an Boden, Wasser oder Ressourcen mangelt, um seine Bevölkerung zu ernähren.“

Europa sitzt durch seine Wirtschaftsmacht gegenüber Tunesien am längeren Hebel. Um die tunesisch Verhandlungsposition zu stärken fordert Ayeb, den Agrarsektor der Sphäre kapitalistischer Investitionen zu entziehen. Er schlägt der tunesischen Regierung eine Agrarreform vor, die Höchstgrenzen für landwirtschaftlichen Besitz festlegt und spekulative Investitionen im Lebensmittelsektor verbietet.

Abgesehen vom unmittelbaren Interesse der Großgrundbesitzer:innen und ein paar europäischer Großkonzerne wie Bayer müsste es aber auch von europäischem Interesse sein, die nordafrikanische Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten.

Eine Agrarpolitik, die natürliche Ressourcen wie Wasser und Land vor allem dazu einsetzt, die Bevölkerung zu ernähren, verhindert Migration und wirkt dem Klimawandel entgegen. Wie Bauer Dschuini argumentiert: „Es geht nicht einfach darum, Arbeit zu haben. Es geht um die autonome Bestellung des Bodens durch uns als Landwirt:innen.“

 

 

Martha lebt seit 2021 zwischen Tunis und Casablanca und berichtet unglaublich gerne darüber. Angefangen für dis:orient zu schreiben hat sie 2022, um zur deutschsprachigen Berichterstattung über Nordafrika mit postkolonialen und feministischen Ansätzen beizutragen. Hauptberuflich, sowieso inhaltlich, beschäftigt sie sich mit sozialen Bewegungen,...
Redigiert von Rebecca Spittel, Clara Taxis