22.06.2021
Zehn Jahre Libyenkonflikt – „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben“
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir

Youssef Sawani hat den Großteil seines Lebens libyscher Politik gewidmet. In diesem Interview spricht er über orientalistische Narrative, die Folgen der NATO-Intervention und die anstehende zweite Libyen-Friedenskonferenz in Berlin.

Die überregionale Hochschulgruppe KIARA (Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen) setzt sich kritisch mit Theorie und Forschung zu WANA auseinander und organisiert dafür die aktuelle Vortragsreihe „10 Jahre sogenannter Arabischer Frühling“. Im Rahmen einer Kooperation zwischen KIARA und dis:orient werden hier ausgewählte Beiträge zu den Veranstaltungen veröffentlicht.

Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seitdem im Februar 2011 in Libyen jene Proteste begannen, die schließlich zum Sturz des Langzeitmachthabers Muammar al-Gaddafi führten. Mit Unterstützung von NATO-Luftangriffen hatten bewaffnete Rebellen dessen vierzigjährige Herrschaft beendet. Doch siegreich war keine einheitliche Aufstandsbewegung, sondern ein unübersichtliches Gemenge aus Aktivist:innen, Milizen, Stammesverbänden und dschihadistischen Gruppen. So folgten jahrelange anarchische Zustände und ein Teufelskreis der Gewalt rivalisierender Gruppen im Land.

2014 etablierten sich schließlich zwei rivalisierende Regierungen: eine in der Hauptstadt Tripolis und eine im Osten des Landes. Der libyschen Einheitsregierung unter Premierminister Fayiz as-Sarradsch, die ihre Machtbasis in der Hauptstadt Tripolis hatte, stand General Haftars selbsterklärte libysche Nationalarmee (LNA) im Osten des Landes gegenüber. Im April 2019 begann Haftars LNA eine Militäroffensive auf Tripolis, die nach heftigen Kämpfen scheiterte. Seit Oktober 2020 gilt eine Waffenruhe, im März 2021 erhielt Libyen eine Übergangsregierung, die das Land dauerhaft aus der anhaltenden Krise führen soll.

Dr. Youssef Sawani hat all diese Entwicklungen genau verfolgt. Er ist libyscher Politikwissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt internationale Beziehungen und hat mehr als 25 Jahre am politikwissenschaftlichen Institut der Universität von Tripolis in Libyen gelehrt. Seit 2012 wohnt er in Beirut, wo er für das Centre for Arab and Unity Studies (CAUS) als Studienleiter sowie als Chefredakteur der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Contemporary Arab Affairs tätig ist. Im Interview spricht er über orientalistische Lesarten des libyschen Konflikts, die Folgen der NATO-Intervention von 2011 und die anstehende zweite Libyen-Friedenskonferenz in Berlin.

Seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011, herrscht in Libyen ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg. Ein gängiges Narrativ in der internationalen Berichterstattung ist, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um einen ethnischen Konflikt handelt. Auch halten Stammesfeindschaften immer wieder als Erklärungsansatz her. Was ist Ihre Einschätzung dazu?

Solche Narrative spiegeln den Orientalismus wider, mit dem Europa und „westliche Staaten“ auf den arabischen Raum blicken. In der langen Geschichte des Landes, das wir heute als Libyen kennen, hat es durchaus vereinzelte Fälle von Stammeskonflikten gegeben. Diese sind aber zu vernachlässigen. Im Großen und Ganzen hat es in Libyen keine ethnischen Konflikte gegeben. Es ist ein politischer Konflikt, bei dem es um Macht und Ressourcen geht. Libysche Stämme haben sich der Idee eines Nationalstaats nie entgegengestellt. Nur wenn die Zentralgewalt nicht zum Wohle des Landes agiert hat, haben sie sich gegen diese erhoben – etwa unter osmanischer Herrschaft.

Ein anderes typisch orientalistisches Narrativ ist, die Länder Westasiens und Nordafrikas (WANA) als „chaotisch“ zu beschreiben. Aber ist „Chaos“ nicht eine durchaus treffende Bezeichnung für das, was in Libyen in den vergangenen zehn Jahren passiert ist?

Die Situation war ganz bestimmt chaotisch und ist es noch immer. Es gibt keine zentrale Regierung, die das gesamte libysche Territorium tatsächlich beherrscht. Auch die jüngst entstandene libysche Einheitsregierung, die Teil des von den Vereinten Nationen unterstützten Friedensprozesses ist, hat die Rechtshoheit nur theoretisch inne. Weder Armee noch Sicherheitskräfte sind vereint. Das Land ist politisch gespalten, staatliche Institutionen sind fragmentiert. Die Menschenwürde wird gebietsübergreifend verletzt, auch die von Geflüchteten und Migrant:innen. Tagtäglich beobachten wir schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Ereignisse, die zeigen, dass Libyen weiterhin Zyklen des Bürgerkriegs erlebt.

Aber ich denke um das Chaos selbst geht es gar nicht. Vielmehr sollten wir uns fragen, wie diese Situation entstanden ist und wer die Verantwortung dafür trägt: Warum in aller Welt fiel der sogenannten internationalen Gemeinschaft 2011 kein anderer Ansatz zur Friedensstiftung ein als eine militärische Intervention? Die Mitglieder der Militärkoalition waren darauf fixiert, Gaddafi loszuwerden. An die potenziell verheerenden Folgen einer Intervention wurde kein Gedanke verschwendet.

Im Rahmen der KIARA-Vortragsreihe „10 Jahre sogenannter Arabischer Frühling“ sagten Sie jüngst, die Militärintervention habe den libyschen Aufstand „diskreditiert“.

Die sogenannte internationale Gemeinschaft hätte den Aufstand unterstützen können: Sie hätte Gaddafi unter Druck setzen können, Reformen zu akzeptieren oder gar zurückzutreten und demokratische Wahlen abzuhalten. Stattdessen wurde der bis dahin friedliche Aufstand durch Luftangriffe militarisiert. Ohne die Militärintervention hätten sich voraussichtlich noch viel mehr Libyer:innen gegen das Gaddafi-Regime erhoben. Dass es sich um eine ausländische Militärintervention handelte, konnte sich Gaddafi jedoch zunutze machen, indem er die Intervention als imperialistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libyens darstellte. Sehr große Teile der libyschen Bevölkerung hatten anschließend eine – gelinde gesagt – zögerliche Haltung zur Intervention oder lehnten diese klar ab.

Diese Haltung ist nicht sehr überraschend, wenn man Libyens lange Geschichte kolonialer Ausbeutung bedenkt. Wie relevant ist die libysche Kolonialerfahrung für die heutige Zeit?

Die italienische Kolonialmacht verübte in Libyen zwischen 1929 und 1934 einen Genozid. Tausende Libyer:innen haben dabei ihr Leben verloren. Sie wurden getötet oder erlagen in Konzentrationslagern Hunger und Krankheiten. Diese brutale Kolonialerfahrung im Anschluss an die osmanische Herrschaft hatte zur Folge, dass die Bildung eines libyschen Staates verzögert wurde. Als das Osmanische Reich Libyen aufgab, hätte ein unabhängiger Staat entstehen können. Aber stattdessen wurde Libyen von 1912 bis 1943 von Italien kolonisiert und anschließend von französischen und britischen Streitkräften besetzt, die das Land in drei Verwaltungszonen teilten. Erst im Jahr 1951 erreichte ein wiedervereintes Libyen die Unabhängigkeit.

Die Kolonialzeit hat Libyens Entwicklung stark verzögert. Auch wenn unter italienischer Besatzung etwa einige Infrastrukturprojekte realisiert wurden, waren derartige Entwicklungsprojekte auf die Küstenregionen beschränkt. Was aber noch viel wichtiger ist: Der Hass mit dem die Italiener:innen der libyschen Bevölkerung begegnet sind – die Konzentrationslager, die Tötungen, die Ausbeutung und andere faschistische Strategien – das hatte nachhaltige psychologische Effekte.

Wie meinen Sie das?

In der libyschen Bevölkerung wurden xenophobe Einstellungen weit verbreitet. Auch wenn Libyer:innen heute durchaus empfänglicher für Ausländer:innen sind, bleibt ein gewisses Misstrauen Teil der libyschen Kultur. Das gilt besonders, wenn ausländische Kräfte in inneren libyschen Angelegenheiten mitmischen. Aus genau dem Grund hat die Militärintervention 2011 so eine bedeutsame Rolle dabei gespielt, die libysche Gesellschaft zu spalten: in jene, die kooperierten und die Intervention befürworteten, um Gaddafi abzusetzen und jene, die dem Aufstand fernblieben, weil es eine Intervention ausländischer Mächte war.

Das hatte nachhaltige Auswirkungen. Denn als das Gaddafi-Regime im Spätsommer 2011 schließlich fiel und die Revolution erfolgreich war, bestand diese Konfliktlinie weiter. Zwar ist die heutige Fragmentierung in verschiedenste politische Lager weitaus komplexer als die Spaltung zwischen jenen, die Gaddafi unterstützten und jenen, die sich mit dem Aufstand solidarisierten. Dennoch ist diese ursprüngliche Spaltung der libyschen Gesellschaft einer der Gründe für die anhaltende Konfliktsituation.

Der Politikwissenschaftler Youssef Sawani ist Experte für libysche Politik. Foto: Privat

Die im Oktober 2020 unter UN-Vermittlung vereinbarte Waffenruhe zwischen den Konfliktparteien hält bislang an. Durch die Bildung der sogenannten Einheitsregierung im März 2021 hat Libyen seit August 2014 erstmals wieder eine geeinte Regierung. Wie hoffnungsvoll stimmen Sie diese Entwicklungen?

Ich hatte gehofft, dass der Waffenstillstand und die Bildung der Einheitsregierung zumindest dafür sorgen können, dass der Konflikt nicht weiter gewaltsam ausgetragen wird. Bis jetzt hat sich dieser Wunsch erfüllt. Der Premierminister der Einheitsregierung, Abdelhamid Dabeiba, hat mehrfach garantiert, dass Libyer:innen untereinander keinen Krieg mehr führen werden. Ich habe dennoch die Sorge, dass die Kämpfe von neuem beginnen könnten.

Warum?

Weil die politische Lage in vielerlei Hinsicht festgefahren ist. Die neue Einheitsregierung ist offenbar nicht dazu in der Lage, die politischen Institutionen wirklich zu vereinen. Zum Beispiel benötigt die Einheitsregierung für ihren Etat noch immer die Zustimmungen des Abgeordnetenhauses. Es scheint den verschiedenen politischen Institutionen an einer gemeinsamen Stoßrichtung und gemeinsamen Zielen zu fehlen.

Von wohl noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass es noch keinerlei Fortschritte bezüglich der Anwesenheit ausländischer Kämpfer auf libyschem Territorium gegeben hat, die eine der beiden Konfliktparteien militärisch unterstützen – ganz gleich, ob es sich um türkische Soldaten handelt oder um syrische, russische, sudanesische oder tschadische Söldner. Diese ausländischen Kräfte – dazu zählen auch italienische Soldat:innen, die unter dem Deckmantel eines Militärkrankenhauses in Misrata stationiert sind – sind weiterhin vor Ort, wahrscheinlich haben sie ihre Präsenz sogar gefestigt.

Außerdem stellt die Spaltung der Militärapparate im Osten und Westen des Landes noch immer eine große Kluft dar.  Fataler Weise hat sich gezeigt, dass die libysche Einheitsregierung nicht dazu im Stande scheint, die Milizen unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese Milizen verhalten sich genauso wie in den vergangenen Jahren: Sie wenden Gewalt gegeneinander oder gegen die Bevölkerung an. Sie wollen klar machen, dass sie unabhängig von der neuen Übergangsregierung agieren. Das jüngste Beispiel dafür ist, dass die Milizen aus Misrata sich geweigert haben, die Küstenstraße, die den Osten und den Westen des Landes miteinander verbindet, wieder zu eröffnen – entgegen der Pläne der Einheitsregierung und der sogenannten 5+5 Militärkommission [Anm. d. Red.: ein im Oktober 2020 geschaffenes Gremium mit jeweils fünf Mitgliedern der beiden libyschen Konfliktparteien].

Ich verspüre also Hoffnung inmitten der Frustration. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es keinen Krieg mehr geben wird. Aber ich sehe auch, dass beide Konfliktparteien weiterhin von ihren ausländischen Unterstützer:innen Rückendeckung bekommen und für neue Kämpfe gewappnet sind.

Bei der ersten Berliner Friedenskonferenz, die im Januar 2020 stattfand, einigten sich die Teilnehmer:innen darauf, ausländische Einmischung in den Libyenkonflikt zu unterlassen und das vom UN-Sicherheitsrat verhängte Waffenembargo zu respektieren. Doch beide Beschlüsse wurden im Nachgang der Konferenz offen missachtet. Für den 23. Juni ist nun eine Folgekonferenz in Berlin geplant. Erhoffen Sie sich davon bessere Ergebnisse?

Ich gehe stark davon aus, dass die zweite Berlin-Konferenz erfolgreicher sein wird. Das hat zwei Gründe: Erstens, scheinen die beiden libyschen Hauptkonfliktparteien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass Gewaltanwendung den Konflikt nur in die Länge ziehen wird. Keines der beiden Lager wird als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen und das ganze Land beherrschen können. Zweitens, scheinen auch die ausländischen Mächte eingesehen zu haben, dass sie ihre eigenen Interessen weniger kostspielig realisieren können, wenn sie politische Mittel anwenden statt eine libysche Konfliktpartei militärisch zu unterstützen. Damit gibt es mittlerweile ein weitgehendes Einvernehmen, dass ein Verhandlungskompromiss unter Beteiligung ausländischer Akteure den Schlüssel zur Lösung des libyschen Konflikts darstellt.

Seit Jahren verbreiten rivalisierende Milizen in Libyen Angst und Schrecken. Wie kann in einem Land, das ein Jahrzehnt lang von Milizen terrorisiert wurde, ein dauerhafter Frieden erreicht werden? Schließlich sind die Urheber von Verbrechen wie Folter, Mord und Kriegsverbrechen für ihre Grausamkeiten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Mit Sicherheit kann es in Libyen einen dauerhaften Frieden nur unter der Voraussetzung geben, dass die Urheber all der Verbrechen, die sich seit 2011 ereignet haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Nach Gerechtigkeit in diesem Sinne zu streben, hat allerdings auch seine Kehrseite, weil es die gesellschaftliche Spaltung wahrscheinlich noch weiter verschärfen würde. Daher muss zunächst eine nationale Versöhnung stattfinden. Die libysche Bevölkerung wird zusammenkommen und sich gemeinsam darauf einigen müssen, in was für einem Staat sie zukünftig leben wollen. Dafür brauchen wir eine inklusive nationale Friedenskonferenz, bei der Vergebung an oberster Stelle steht.

Wenn Libyer:innen und vor allem die politische Führung des Übergansprozesses sich nicht auf so eine Vision einigen können, ist es unwahrscheinlich, dass das Projekt des staatlichen Wiederaufbaus gelingen kann. Denn Staatsbildung ist kein rein technischer Prozess, bei dem es lediglich um die Errichtung öffentlicher Institutionen geht. Nur wenn die Staatsbildung bei der Frage der Versöhnung ihren Ausgangspunkt nimmt, kann die nationale Einheit wiederhergestellt werden.

 

 

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Johanna Luther