25.09.2023
Zwischen Papieren und Grenzzäunen
Im Schatten der Betonpfeiler der Kirche Notre Dame de Lourdes finden regelmäßig Sprechstunden für migrantische Personen statt. Foto: Pauline Fischer.
Im Schatten der Betonpfeiler der Kirche Notre Dame de Lourdes finden regelmäßig Sprechstunden für migrantische Personen statt. Foto: Pauline Fischer.

Vor zehn Jahren kündigte Mohammed VI, der König Marokkos, eine radikal neue und humane Migrationspolitik an. Was ist aus der ambitionierten Agenda einer sozial- und aufenthaltsrechtlichen Kehrtwende geworden? Pauline Fischer zieht Bilanz.

Es ist ein heißer und lauter Freitagnachmittag im Juni 2023, als ich den Hinterhof der Kirche Notre Dame de Lourdes in Casablanca, der größten und wirtschaftlich wichtigsten Stadt Marokkos, betrete. Heute findet hier die offene Sprechstunde einer internationalen Organisation statt, die Menschen mit medizinischen und materiellen Bedarfen empfängt. Versorgt werden sie nach Kriterien der Schutzbedürftigkeit, denn für alle Anfragen reichen die Mittel der Organisation, die vor allem aus EU-Geldern stammen, nicht.

Ich treffe hier Amadou*, einen Freund, der bereits seit mehreren Monaten für die Organisation arbeitet. Zuvor hatte er jahrelang für einen karitativen, konfessionellen Akteur in der humanitären Hilfe gearbeitet – bis die EU-Gelder gestrichen wurden und das gesamte Riesenprojekt mit all seinen Strukturen und Mitarbeiter:innen in Rabat, Casablanca und weiteren Standorten im ganzen Land eingestampft wurde.

Im Innenhof der Kirche, abseits des lautstarken Verkehrs am gegenüberliegenden Place de l‘Europe, sehe ich junge und mittelalte Frauen Schlange stehen. Einige von ihnen tragen Babys auf dem Arm oder sind von Kleinkindern begleitet. Dazwischen junge Männer und Jugendliche, die vermutlich noch Kinder sind, und einige Männer mittleren Alters. Um nicht indiskret zu sein, setze ich mich etwas weiter entfernt auf einen Stuhl und warte auf Amadou.

Trotzdem bekomme ich mit, wie nach und nach die Belange vorgetragen werden: Ärztliche Rezepte werden über den Beratungstisch gereicht und Medikamentenpackungen hervorgekramt. Einige Fragen können beantwortet werden, aber viele bleiben in der Luft hängen, im Tumult der großen Stadt: Wie können die Kinder eingeschult werden? Wie komme ich an einen Aufenthaltstitel? Woher bekomme ich die Geburtsurkunde für mein Baby und das Geld, um die Schulden in der Geburtsklinik zu begleichen? In den mehr als zwei Jahren meiner Abwesenheit haben sich die Problemlagen der Menschen kaum verändert.

September 2013: Eine neue Migrationspolitik für Marokko

Nicht alle Menschen, die aus unterschiedlichsten Ländern und mit ebenso unterschiedlichen Vorhaben nach Marokko gekommen sind, müssen sich diese Fragen stellen – andersherum sind die Fragen aber auch vielen Marokkaner:innen nicht unbekannt. Die neue Migrationspolitik versprach jedoch, die Situation genau dieser Menschen, der „Sans-Papiers“ [Menschen ohne Aufenthaltstitel, Anm. d. Red.], zu verbessern.

Am 10. September 2013 sorgte die Verkündung einer neuen migrationspolitischen Ausrichtung auf nationaler als auch internationaler Bühne für Überraschung. Sie folgte der Veröffentlichung eines kritischen Berichts des nationalen marokkanischen Menschenrechtsorgans, dem Conseil National des Droits de l’Homme (CNDH), mit Forderungen nach einer humanen Migrationspolitik. Der Bericht war eine Reaktion auf die umfassende Kritik von marokkanischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen, die in Form von sogenannten „Schattenberichten“ das Kontrollorgan der Vereinten Nationen zur Wanderarbeiter-Konvention[1]  über die mangelhafte Umsetzung ihrer Rechtsgarantien informiert hatten.

Im Rahmen der Migrationsstrategie, welche 2014 durch die Regierung formalisiert wurde, sorgten zwei Regularisierungskampagnen in 2014 und 2017 als Pionier und Vorreiter des späteren deutschen Chancenaufenthaltsrechts in Marokko dafür, dass zahlreiche Menschen, die sich zuvor undokumentiert in Marokko aufhielten, keine Angst mehr vor Identitätskontrollen haben mussten. Auch die Einschulung für migrantische Kinder und Jugendliche wurde entbürokratisiert, der Zugang zu grundlegenden Gesundheitsleistungen versprochen.

Die zwei Gesichter der Migrationsagenda: Regularisierung und Grenzschutz

Auf der anderen Seite standen aber auch restriktive Aspekte auf dem Aktionsplan der Strategie, unter dem Überbegriff des Migrationsmanagements: der Ausbau des Grenzschutzes, mehr Mittel für Polizei und Sicherheitskräfte, um irreguläre Migration einzudämmen. Weiterhin fanden im Anschluss an die Regularisierungskampagnen massenhafte Festnahmen der Menschen statt, die keine Aufenthaltstitel erlangt hatten. Festnahmen illegalisierter Menschen sind auch heute häufig noch mit Zwangsverschleppungen ins Landesinnere verbunden – möglichst weit weg von den EU-Außengrenzen. Immer wieder berichteten zivilgesellschaftliche Organisationen auch über rechtswidrige Abschiebungen Schutzsuchender in deren Herkunftsländer.

Ganz in diesem Tonus intensivierte die marokkanische Küstenwache ihre Suche nach Booten, die von Marokko aus versuchen, Richtung EU zu gelangen, so zum Beispiel zwischen der Westsahara und den Kanarischen Inseln oder in der Meeresenge von Gibraltar. In den marokkanischen Medien häuften sich Berichte über die Festnahme vermeintlicher Schlepperbanden, die aber bis heute nicht dazu führten, dass das lukrative Business endete.

Ein Abdriften in die Repression kritischer Berichterstattung und people in solidarity

Zu dem Bild gehört auch die Kriminalisierung von migrierenden Menschen und Menschen in solidarity. Das Beispiel der Menschenrechtsverteidigerin Helena Maleno Garzón illustriert das: Anfang 2021 wurde sie unter widrigsten Umständen des Landes verwiesen, in dem sie seit über 20 Jahren ihren Wohnsitz hatte, und erhielt ein Einreiseverbot. In ihrer Autobiografie „Mujer de Fronteras“ [Frau der Grenzen, Anm. d. Red.] berichtet sie von den strafrechtlichen Verfolgungen und Einschüchterungen, die sie zuletzt in Marokko erfuhr, und zeigt, dass dies auch auf Drängen der spanischen (Grenz-)Polizei geschah.

In diesem Klima der Einschränkung von Meinungsfreiheit führen marokkanische Menschenrechtsorganisationen wie die Association Marocaine des Droits Humains (AMDH), die Groupe Antiraciste d’accompagnement et de Défense des étranger·e·s et migrant·e·s (GADEM), aber auch journalistische Formate wie ENASS Media, ihre Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsarbeit zu Menschenrechtsverletzungen von Schutzsuchenden in Marokko so gut wie möglich weiter. 

Wo steht Marokkos Migrationspolitik heute?

Obwohl einige Vorhaben der ambitionierten marokkanischen Strategie umgesetzt oder zumindest begonnen wurden, bleiben viele Versprechen unerfüllt: Von der 2013 im Rahmen der neuen Migrationspolitik angekündigten legislativen Reform ist bis heute lediglich das Gesetz gegen Menschenhandel in Kraft getreten. Auf die Aktualisierung des Aufenthaltsgesetzes (loi 02-03) sowie die Verabschiedung eines Asylgesetzes, welches die Genfer Flüchtlingskonvention in die nationale Gesetzgebung integriert, wird vergeblich gewartet.

Dies hat fatale Folgen: die ausbleibende gesetzliche Formalisierung der Regularisierung führt dazu, dass viele Menschen, die durch die Kampagnen in den Jahren 2014 und 2017 Aufenthaltstitel erlangt haben, diese heute nicht mehr verlängern können. Zunehmend befinden sich viele dieser Personen abermals in illegalisierten aufenthaltsrechtlichen Situationen. Auch Menschenrechtsorganisationen, die zu Migration arbeiten, klagen über administrative Schwierigkeiten, hinter denen eine politische Motivation kaum ausgeschlossen werden kann.

Gleichzeitig spitzt sich die Situation an den Außengrenzen der EU zunehmend zu. Vergangenes Jahr, am 24. Juni 2022, fand an der spanisch-marokkanischen Grenze bei Nador und Melilla einer der tödlichsten Push-backs von Schutzsuchenden durch spanische und marokkanische Militärs in der Geschichte der EU-Marokkanischen Beziehungen statt. Bei diesem Massaker wurden mindestens 37 Menschen getötet und bis heute gelten 77 weitere Personen als vermisst. Trotz internationalen Forderungen nach Aufklärung, unter anderem durch die Afrikanische Union und UN-Expert:innen, ergab der Untersuchungsbericht des CNDH keine Verantwortung auf marokkanischer Seite.

Im Hinblick auf die innenpolitischen Vorhaben im Bereich der Gesundheitsversorgung macht sich ebenfalls Ernüchterung breit: So hat der Zugang zur staatlichen medizinischen Grundversorgung nur sehr eingeschränkt stattgefunden. Auch wenn lokale Behandlungszentren mancherorts auch für migrantische Teile der Bevölkerung zugänglich sind, sind diese immer noch auf internationale Organisationen angewiesen, die sich bemühen, eine medizinische Minimalversorgung sicherzustellen. Besonders prekär ist die Lage in Camps wie die Zeltstadt Ouled Ziane in Casablanca, in denen selbst der Zugang zu Sanitäreinrichtungen nicht sichergestellt ist. Erst vor einigen Wochen ist das Camp zum wiederholten Male abgebrannt.

Die Situation von People on the move ist zunehmend prekär und wenig hoffnungsvoll

Ein paar Tage später sitze ich mit Diallo*, einem Leader einer migrantischen Organisation, in der Altstadt von Rabat, die Tajine [nordafikanisches Schmorgericht in einem Tontopf, Anm. d. Red] vor uns auf dem Tisch. Sein Gesicht ist gezeichnet von den Jahren des politischen Kampfes und von unermüdlichem Engagement in den Communities. Ich frage ihn, wie er die aktuelle Situation für People on the move [2]  in Marokko bewertet. Seine Antwort klingt wenig hoffnungsvoll. Er erzählt, dass die Menschen angesichts aufenthaltsrechtlicher Probleme, steigender Preise und zunehmender Prekarität nicht mehr viel in Marokko halte.

Ich frage noch, wie es Camara* geht, ein Aktivist und gemeinsamer Bekannter, der sich seit Jahren in der Identifizierung der leblosen Körper, die in Laayoune, Dakhla, Nador oder Tanger an den Strand gespült werden, engagiert. Ihm ginge es gut, er habe ein Restaurant in einer Stadt im Osten des Landes eröffnet, das gut liefe. Viele migrantische Aktivist:innen haben sich in der Gastronomie oder im Einzelhandel selbstständig gemacht, um flexibel ihrem Ehrenamt nachgehen zu können. Und trotzdem bringt dieser Status weitere aufenthaltsrechtliche und finanzielle Unsicherheiten mit sich, in einem Land, das keine staatlichen existenzsichernden Leistungen vorsieht.

Man halte die Stellung, sagt Diallo noch, bevor er mich bittet, ihm ein Buch für seine Migrationsbibliothek zukommen zu lassen, das in Marokko nicht erhältlich ist. Gemeinsam laufen wir noch bis vor das Parlamentsgebäude an der Avenue Mohammed V, ein Ort, an dem Vieles dessen, was wir grade besprochen haben, längst nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Ich winke Diallo noch zu, bevor er in einem der blauen Taxis verschwindet, welches sich sodann in das dynamische Treiben auf den Straßen der marokkanischen Hauptstadt einfädelt.
 

*Zum Schutze der Personen wurden alle Namen geändert

 


[1] Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, in Kraft getreten 2003

[2]  Wir verwenden den Begriff People on the move, um die Einteilung in Flüchtende und Migrant:innen zu vermeiden. Der Begriff umfasst ein „breiteres Spektrum menschlicher Mobilität, für die es einen grundlegenden Schutzstandard geben muss“ (Pijnenburg, Rijken 2020).

 

 

 

Pauline Fischer hat mehrere Jahre für eine marokkanische Menschenrechtsorganisation u.a. in der Beratung und in der Advocacyarbeit gegen die Externalisierungspolitik der EU mitgewirkt. Sie interessiert sich für interdisziplinäre Betrachtungen von Zivilgesellschaft und deren Einwirken auf politische Prozesse und Regime in Verbindung mit...
Redigiert von Charlotte Hahn, Rebecca Spittel