08.06.2021
„Als würden wir nicht am Leben sein“
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir
Die Vortragsreihe blickt kritisch auf die WANA-Protestbewegungen von 2010/2011 zurück. Grafik: Maryna Natkhir

Während der Unabhängigkeitskampf der Westsahara andauert, versucht nicht nur Marokko den Jahrzehnte alten Konflikt zu ignorieren. Die Aktivistin Khadja Bedati spricht über Trauer, die Unfähigkeit der EU und was Cherry-Tomaten damit zu tun haben.

Die überregionale Hochschulgruppe KIARA (Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen) setzt sich kritisch mit Theorie und Forschung zu WANA auseinander und organisiert dafür die aktuelle Vortragsreihe „10 Jahre sogenannter Arabischer Frühling". Im Rahmen einer Kooperation zwischen KIARA und dis:orient werden hier ausgewählte Beiträge zu den Veranstaltungen veröffentlicht.

Kaum war die spanische Kolonialmacht abgezogen, besetzte Marokko 1975 das Gebiet der Westsahara. Seither kommt es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Polisario - der Volksbefreiungsfront der Sahrawis [den Bewohner:innen der Westsahara, Anm. d. Red.] – und marokkanischen Sicherheitskräften. Auch international ist die Westsahara, wie zuletzt im Rahmen der US-geführten Annährung zwischen Marokko und Israel, immer wieder Gegenstand diplomatischer Streitigkeiten.

Khadja Bedati ist Studentin. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hat sie in den sahrawischen Flüchtlingscamps im Südwesten Algeriens gelebt. Seit einigen Jahren setzt sie sich als Menschenrechtsaktivistin für die Belange der Westsahara ein und kritisiert die europäische Politik hinsichtlich eines Jahrzehnte alten Konflikts.

Kurz vor der Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010, eskalierte die Lage zwischen den marokkanischen Sicherheitskräften und den 20.000 Menschen im Protestcamp Gdeim Izik in der westsaharawischen Stadt El Aaiun, der größten Stadt der Westsahara. Noam Chomsky bezeichnete die damaligen monatelangen Proteste als eigentlichen Beginn der Aufstände in WANA 2010/2011 – dem „sogenannten „Arabischen Frühling“. Was waren damals die Gründe für den Protest?

Die Menschen hatten das Protestcamp mit friedlichen Absichten aufgebaut, um ein Zeichen zu setzten, dass sie nicht weiterhin so leben können wie bisher – nämlich unterdrückt. Den Sahrawis werden alle Menschenrechte entzogen, sie haben kein Mitspracherecht, keine Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, überhaupt keine Freiheiten und Rechte, wie sie jedem Menschen zustehen sollten. Die Unterdrückung hat mit einer Kolonie begonnen und Spanien hat es möglich gemacht, dass Marokko die Westsahara illegal besetzte. Die Menschen wollten ein Zeichen für ihre politische Rechte setzen, in dem sie die Selbstbestimmung des sahrawischen Volkes fordern.

Wir leben getrennt voneinander, ein Teil von uns in den besetzten Gebieten unter dem marokkanischen Regime und der andere Teil in den Flüchtlingslagern im Südwesten Algeriens. Dazwischen ist eine „Mauer der Schande“: mit 2700 km Länge ist sie 16-mal länger als die Berliner Mauer. Sie wird 24 Stunden am Tag von marokkanischen Soldaten überwacht wird und ist mit Millionen Tretminen ausgestattet.

Die Menschen hatten 2010 einen Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr alles auf sich sitzen lassen und akzeptieren konnten. Deshalb haben sie deutlich gemacht, dass sie bereit sind, für ihre Rechte zu kämpfen. So haben sie dieses friedliche Camp organisiert, welches dann einen Monat lang von den marokkanischen Behörden belagert wurde.

Die Behörden ließen das Camp schließlich abreißen.

Das Protestlager wurde brutal abgerissen und die Sahrawis, teilweise Familien mit Kindern und älteren Menschen, angegriffen. Im Protestcamp und auch im Anschluss an die Räumung wurden Hunderte von Sahrawis entführt und gefoltert. Seit 2010 wurden 24 saharawische Männer festgenommen und sitzen bis heute in marokkanischen Gefängnissen. Sie sind unter dem Namen „Gruppe von Gdeim Izik“ bekannt.

Die politischen Gefangenen aus dieser Gruppe sind noch immer in einem bedrohlichen Zustand – so beispielsweise Mohamed Lamin Haddi, der 2011 von einem marokkanischen Militärgericht zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Er befand ab dem 13. Januar für ungefähr drei Monate im Hungerstreik, über Monate hörte seine Familie nichts von ihm, bis sie Ende März erfuhren, dass Haddis linke Körperhälfte gelähmt ist. Obwohl er in Lebensgefahr schwebte, wurde den Eltern ein Besuch ihres Sohnes verweigert und er bekam zudem Morddrohungen vom marokkanischen Gefängnisdirektor. Seit einigen Wochen gibt es nun erneut kein Lebenszeichnen von ihm. Das Internationale Rote Kreuz muss in solches Fällen eingreifen, sonst sterben unschuldige Menschen, die sich nur für ihre Rechte und Unabhängigkeit eingesetzt haben.

Die Lage in der Westsahara ist auch fernab der Inhaftierten weiterhin angespannt. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach den Protesten, im November 2020, wurde das Waffenstillstandsabkommen aus dem Jahr 1991 aufgehoben. Was waren die auslösenden Gründe für die erneuten Auseinandersetzungen?

Seit dem 20. Oktober 2020 hatten sich sahrawische Zivilist:innen in der Pufferzone Guergerat versammelt, um für ihre Rechte und gegen die bis heute andauernde illegale Besatzung durch Marokko zu protestieren. Die Straße durch den Guerguerat-Streifen ist die zentrale Handelsroute für Marokko, um unter anderem auch Güter und Ressourcen aus der Westsahara illegal in andere Länder Afrikas zu exportieren. Aufgrund der anhaltenden Demonstrationen ist nun das marokkanische Militär am 13. November 2020 auf illegale Weise in den Guerguerat-Streifen eingedrungen, um die sahrawischen Zivilist:innen gewaltsam zu vertreiben. Das war ein klarer Bruch des Waffenstillstands von 1991, wonach sich Guerguerat in der von der UN-Friedensmission kontrollierten Pufferzone befindet. Die sahrawischen Truppen mussten zügig auf die Vorkommnisse reagieren, um die Zivilisten:innen in Sicherheit zu bringen. All dies geschah unter den Augen der passiven Friedensmission der Vereinten Nationen.

Du hast bis zu deinem sechsten Lebensjahr in den Flüchtlingscamps der Sahrawis in der algerischen Wüste gelebt, bevor du mit deiner Familie nach Deutschland gekommen bist. Bereits seit einigen Jahren bist du Menschenrechtsaktivistin und setzt dich für die Belange der Westsahara ein. Warum ist dir das ein Anliegen?

Wegen der Menschlichkeit. Ich bin jemand, der nicht mit ansehen kann, wie anderen Menschen Ungerechtigkeit angetan wird – kann ich einfach nicht. Dafür habe ich zu viel Mitgefühl, bin zu loyal und auch respektvoll. Die Westsahara ist außerdem meine Heimat und auch ein Teil von mir. Ich fühle mich verpflichtet, mich für die Belange und Rechte der Sahrawis einzusetzen. Das Erwarten sie auch von mir, weil ich die Möglichkeit habe in Europa zu leben und mir viele Optionen offenstehen, mit denen ich den Sahrawis helfen könnte. Dabei darf man nicht vergessen, dass Europa eine große Rolle im Konflikt der Westsahara spielt, besonders Spanien als frühere Kolonialmacht.

In Europa berichtet kaum jemand über die Menschenrechtsverletzungen und den Konflikt in der Westsahara, vor allem nicht in Deutschland. Über andere WANA-Länder hat man während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ viel berichtet, über die Westsahara überhaupt nichts. Dabei sind dort nicht nur 2010 viele Menschen ums Leben gekommen. Mehrere wurden verhaftet, teilweise Minderjährige. Einen Sahrawi werde ich niemals vergessen: den 14-Jährigen Najem Algarhi, der seiner Familie im Protestcamp von El Aaiun nur Essen vorbeibringen wollte und direkt erschossen wurde.

Damals war ich 14 Jahre alt, das war für mich unfassbar. Später hat Marokko behauptet, dass die Sicherheitskräfte ihn nicht umgebracht hätten und dass er bei einem Autounfall gestorben sei. Konsequenzen gab es nicht. Für mich war das damals der Ausgangspunkt. Wo ist Europa, wo ist die UN und die Truppen der Mission zur Umsetzung des Referendums über die Westsahara (MINURSO), die eigentlich für Frieden sorgen sollten? Wo ist der Sicherheitsrat? Wo sind die Menschenrechtsorganisationen? Wo sind die Menschlichkeit und Gerechtigkeit?

Du hast in deinem Vortrag im Rahmen unserer Reihe erwähnt, dass es dich besonders wütend macht, dass nur ein Bruchteil der Menschen über den Konflikt Bescheid weiß – epistemologische Gewalt also. Kannst du das erläutern?

Durch mein Engagement bin ich mit vielen Menschen in Kontakt getreten und muss mir immer wieder anhören: „Davon haben wir noch nie etwas gehört oder nur ganz, ganz wenig.“ Oder: „Das Land gibt es? Besteht das nur aus Sahara?“. Als wären wir nicht Teil dieser Gesellschaft, als würden wir nicht am Leben sein und als ob es dieses Gebiet gar nicht gäbe. Dabei liegen bei ihnen im Supermarkt Cherry-Tomaten mit dem Label „Origin: Morocco“, wo eigentlich „Origin: Dakhla, Western Sahara“ stehen müsste. Das ist für mich unverständlich. Dabei weiß ich, dass über die Westsahara von Marokko eine Medienblockade verhängt wurde und Marokko versucht, gegenüber den verbündeten Ländern und vor allem Frankreich die Westsahara als Teil Marokkos zu vermarkten.

Du hast in deinem Vortrag am 24. Februar gesagt, dass dich die Rolle Deutschlands im Westsaharakonflikt frustriert. Inwiefern?

Die Sahrawis leiden seit 1975 bis heute unter der marokkanischen Annexion, sie sterben tagtäglich wegen Menschenrechtsverletzungen durch das marokkanische Regime in den besetzten Gebieten der Westsahara – und Deutschland macht die Augen zu. Der Einsatz von Deutschland für die Westsahara hört jedes Mal beim deutschen Auswärtigen Amt auf. Es kann nicht sein, dass bei kleinen Anfragen von Bundestagsabgeordneten, von den Linken oder von den Grünen immer nur an das Auswärtige Amt verwiesen wird und dann ist das Thema beendet.

Der letzte UN-Sonderbeauftragte Horst Köhler hat einiges versucht. Er hat die Flüchtlingslager besucht und hat Mitgefühl für die Kinder und Jugendlichen in den Camps aufgebracht. Er wollte Jugendlichen Zukunftsperspektiven ermöglichen. Das hatte zuvor kein Sonderbeauftragter gemacht und sich bemüht, den Sahrawis irgendwelche Rechte zu geben. Ich habe selbst mit einem Mitarbeiter von ihm gesprochen. Ob Köhlers Lösung jetzt optimal wäre oder nicht, weiß ich nicht, denn sie wurde niemals bekanntgegeben. Nach 2012 gab es keine Verhandlungen mehr zwischen der Frente Polisario und Marokko, jedoch hat Horst Köhler in seiner Amtszeit die Verhandlungsprozesse wieder zum Leben erweckt. Die Mission von Horst Köhler ist schlussendlich gescheitert, weil er von den mächtigen Ländern keine Unterstützung bekam.

Viele europäische Firmen sind in den besetzten Gebieten der Westsahara aktiv, darunter im Phosphorabbau, beim Fischfang und bei der Energiegewinnung. Auch deutsche Firmen wie die Siemens AG sind vertreten. Schon seit längerem versuchen verschiedene Organisationen gegen das Völkerrecht verstoßende Wirtschaftsverträge mit Marokko zu dokumentieren und zu kritisieren. Du hast Siemens auf einer Aktionärsversammlung 2019 auf die von ihnen betriebenen Windanlagen angesprochen. Was sind deine Forderungen?

Ich verlange von allen internationalen und deutschen Unternehmen, sich aus dem Gebiet der Westsahara zurückzuziehen, so wie das deutsche Unternehmen Continental, das seine Aktivitäten in den besetzten Gebieten der Westsahara im Februar 2021 einstellte. Natürlich gilt dies auch für Siemens Energy: Sie sollen das Gebiet der Westsahara entweder verlassen oder, wenn sie weiterhin in diesem Gebiet tätig bleiben wollen, müssen sie den Vertrag mit der anerkannten Vertretung des saharawischen Volkes, der Frente Polisario, abschließen und nicht mit Marokko.

Denn Marokko hat kein Recht auf die Ressourcen der Westsahara, auch wenn Siemens nur den Wind nutzt, wie sie in ihren Antworten auf den Aktionärsversammlungen behaupten. Aber sie bauen die Windparks auf dem Gebiet der Westsahara und beliefern industrielle Endverbraucher, wie die Tochtergesellschaft des marokkanischen Staatsunternehmens OCP, Phosboucraa, die illegal die Phosphatreserven der Westsahara ausbeutet.

Wie waren die Reaktionen, die du bekommen hast?

Siemens argumentierte, dass sie nur den Wind nutzen würden und die Sahrawis zudem durch die erneuerbare Energie von diesem Projekt profitieren würden. Ich frage mich, ob Entscheidungsträger:innen von Siemens jemals in den besetzten Gebieten waren, um zu sehen, dass die Sahrawis durch die Unterdrückung Marokkos überhaupt nicht in der Lage sind von den ihnen zustehenden Ressourcen profitieren zu können.

Nun wurde der für Marokko doch sehr angenehme status quo im Dezember noch einmal gefestigt. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat zum Ende seiner Amtszeit die marokkanische Besatzung der Westsahara anerkannt, um seine Israelpolitik voranzutreiben. Doch auch vorher war der internationale Druck nicht besonders hoch. Nicht zuletzt die europäischen Interessen in der Migrationsabwehr spielen eine zentrale Rolle, wobei Marokko ein verlässlicher Partner ist – zumindest, solange die Westsahara aus dem Spiel gelassen wird. Beginnt der Weg zu einer gerechten Lösung in der Zukunft deshalb doch eher auf lokaler Ebene und in Zusammenarbeit mit progressiven, marokkanischen Kräften?

Die einseitige Entscheidung von Trump widerspricht dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1975, in dem klargestellt wird, dass Marokko keinen Anspruch auf Territorien in der Westsahara hat. Unsere Hoffnung ist, dass die neue US-Regierung die Entscheidung Trumps rückgängig macht, in Anbetracht der über drei Jahrzehnte gewährten amerikanischen Unterstützung für das Recht des sahrawischen Volkes auf Selbstbestimmung, das durch die Umsetzung der Resolution 690 des Sicherheitsrates von 1991 gewährleistet werden soll. Die Position der EU und der Vereinten Nationen zur Westsahara bleibt unverändert. Dazu kann man wohl sagen, dass Trumps Entscheidung ebenso illegal ist, wie der spanische Rückzug aus der Westsahara, ohne den Entkolonialisierungsprozess zu vollenden.

In Marokko selbst ist die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt und solange sich Marokkaner:innen nicht mal für ihre eigenen Freiheiten und Rechte einsetzen können, wie sollen sie sich dann für die Rechte eines anderen Volkes engagieren? Eine Lösung kann erst funktionieren, wenn all die wirtschaftlichen und politischen Interessen Marokkos und der EU im Gebiet der Westsahara zurücktreten.

 

 

Hannah Jagemast hat Arabistik und Islamwissenschaft in Leipzig und Tunis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin mit Fokus auf Tunesien, Nordafrika, soziale Bewegungen und koloniale Kontinuitäten. Seit 2022 studiert sie den M. Sc. Journalismus in Leipzig.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Johanna Luther