15.04.2022
Der Talib trägt Prada
Ein kleiner Teil der Diaspora ist oft übermäßig präsent, lauter und somit auch meinungsbildend, doch wer unterstüzt hier wen? Illustration: Zaide Kutay
Ein kleiner Teil der Diaspora ist oft übermäßig präsent, lauter und somit auch meinungsbildend, doch wer unterstüzt hier wen? Illustration: Zaide Kutay

Die Herrschaft der Taliban in Afghanistan ist bittere Realität und wird sich so schnell nicht ändern. Überzogener Pragmatismus aus der Diaspora geht jedoch auf Kosten der afghanischen Bevölkerung, meint Mina Jawad.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Noch immer steht der 15. August 2021, der Tag der Machtübernahme der Taliban, Afghan:innen in- und außerhalb des Landes mit Schrecken vor Augen. Bilder von den vorrückenden Kämpfern, Straßensperren und fliehenden Menschen gingen um die Welt. Wer sich allerdings nicht außer Landes bringen konnte, dem blieb nichts anderes übrig, als nach einem ersten Schockmoment in einen Modus zu wechseln, den die afghanische Bevölkerung nun schon seit über 40 Jahren kennt: den des Pragmatismus.

Ein Mechanismus, um nicht die Nerven zu verlieren und überlebensfähig zu bleiben. In der Hoffnung, dass die neuen Machthaber vielleicht doch bessere Herrscher sind. In der Hoffnung, dass die neuen, alten Herrscher den Frieden bewahren können. In der Hoffnung, dass sich die neuen, alten Machthaber als gemäßigter erweisen, als sie es noch während ihrer ersten Herrschaft waren, die Isolation, Willkür und Armut für die Bevölkerung brachte.

Auch in der afghanischen Diaspora ist ein solcher Pragmatismus gegenüber den Taliban weit verbreitet: Die Situation in Afghanistan sei alternativlos, eine Isolierung der Taliban könne für die Bevölkerung im Land noch verheerendere Konsequenzen haben, befürchten viele. Und so finden sich auch im Ausland vermehrt Stimmen, die gegen eine strikte Ablehnung des Taliban-Regimes plädieren und stattdessen auf Anerkennung und Kooperation setzten wollen. Ist auch das ein aus der Not geborener Pragmatismus oder steckt dahinter nicht vielmehr Opportunismus und Heuchelei?

Schadensbegrenzung und Kriegsmüdigkeit

Fest steht: Ob mit oder ohne Taliban, die kriegsmüde Bevölkerung Afghanistans hat ein Bedürfnis nach Frieden, Ernährungssicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten für nachfolgende Generationen. Gerade die Öffnung von Schulen auch für Mädchen ist dabei sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes eine der zentralen Forderungen an die Taliban. Es sind besonders die Pragmatiker:innen, die, trotz der restriktiven Bedingungen der Taliban auf die Öffnung der Schulen setzen - in der Hoffnung, dass danach ebenfalls Familien, die dem Schulsystem der alten Regimes nicht trauten, ihre Mädchen in die Schulen schicken würden. Denn dass die Schultüren, entgegen den Ankündigungen der Taliban, für Mädchen ab der 7. Klasse seit der Machtübernahme im August 2021 noch immer verschlossen sind, sorgt selbst bei ihren Unterstützer:innen für Unmut.

Ein weiterer Grund für den Pragmatismus im Ausland ist die humanitäre Krise in Afghanistan: Über 95 Prozent der Bevölkerung kann sich nur noch unzureichend ernähren. Steigende Lebensmittelpreise durch den Wertverlust der Währung und das kollabierende Bankensystem haben der Bevölkerung enorm zugesetzt. Für erhebliche Teile der Diaspora ist es schwer mit anzusehen, mit welchem Elend die Landsleute, darunter Familie und Freund:innen, konfrontiert sind.

Hintergrund für die Wirtschaftskrise ist auch die verfehlte Politik der 20 Jahre vor der erneuten Machtübernahme der Taliban, die es nicht fertig brachte, eine inländische Industrie und unabhängige Wirtschaft zu etablieren. Das Einfrieren afghanischer Devisenreserven seit der Machtübernahme der Taliban hat die Krise nun jedoch in kürzester Zeit erheblich verschärft. Zur Verbesserung der humanitären Situation fordern deshalb jetzt viele die Freigabe der Reserven – allen voran natürlich die Taliban selbst.

In diesem Punkt ist die Diaspora, insbesondere in den sozialen Medien, tiefgespalten: Wer die Freigabe der Reserven fordert, ist mit dem Vorwurf konfrontiert, mit den Taliban zu paktieren - und die Befürchtung, dass diese die fast 10 Milliarden US-Dollar an Währungsreserven zu Terrorismuszwecken missbrauchen könnten, ist durchaus berechtigt. Zugleich scheint angesichts des akuten Leides der Bevölkerung  tatsächlich Pragmatismus bei der Freigabe der Reserven geboten. Eine Treuhandverwaltung durch die UN zur Stabilisierung der Währung könnte ein Mittelweg sein, allerdings würden dadurch auch die Abhängigkeit Afghanistans von internationalen Institutionen wieder verstärkt. Ein bitterer Beigeschmack bleibt also in jedem Falle.

Alles halb so schlimm

Ganz andere Seiten ziehen jedoch offensichtliche Apologet:innen der Taliban auf und gerade Frauen der Diaspora sind Teil dieser Maschinerie. Etwa Diva Patang, Unternehmerin, ehemalige Diplomatin und Nachrichtensprecherin, die, wohlgemerkt aus London, für die Wahrung „nationaler Werte“ wirbt und die afghanische Frauenproteste als provokant, hysterisch und vom Ausland gesteuert erachtet. Man müsse den Taliban eine Chance geben, so Patang.

Oder die afghanisch-amerikanische Geschäftsfrau Masuda Sultan, die bereits zwei Jahre vor der Machtübernahme die Taliban in einem Meinungsbeitrag für ihren Umgang mit Frauen anpries – sie hätte bei einem Treffen zusammen mit anderen Frauen sogar als erstes sprechen und ein gemeinsames Gebet führen dürfen.

Im Rahmen ihres letzten Aufenthalts in Afghanistan, bei der sie Teil einer US-amerikanischen Delegation war, ließ sie außerdem verlauten, die Schulöffnungen für Mädchen seien ja nur aufgeschoben, nicht aufgehoben – kein Wort dazu, wie das Talibanregime Frauenrechte mit Füßen tritt und sie bei den Schulöffnungen sogar ihr eigenes Wort gebrochen haben.

Unheilige Allianzen und die Klassenfrage

Dass gute Beziehungen zu den Taliban zudem äußerst profitabel sein können, bleibt von den „Pragamatiker:innen“ in der Diaspora ebenfalls gern unerwähnt. Dabei ist ein privilegierter Zugang zum Land und seinen Ressourcen für die Steuerung internationaler Hilfsgelder entscheidend. Und die ausländischen Hilfszahlungen sowie NGO-Aktivitäten nehmen langsam wieder Fahrt auf.

Wie bereits in den vergangenen 20 Jahren drohen dann die Hilfsgelder im Rahmen einer lukrativen NGO-Kultur vor allem in horrenden Personalkosten zu versickern. Die Bevölkerung wird weiter durch ausländische oder exil-afghanische „Expert:innen“ bevormundet, die mit den Realitäten vor Ort nicht vertraut und ihnen vor allem nicht ausgesetzt sind. Frauen wie Diva Patang oder Masuda Sultan müssen sich vor einer realen Unterdrückung durch die Taliban nicht fürchten und können außerhalb Afghanistans auf eine Weise auftreten, wie es ihnen innerhalb des Landes niemals möglich wäre. Vermeintlich gut gemeinter Pragmatismus ist hier höchstens das Deckmäntelchen für Opportunismus und Heuchelei.

Entlarvend ist auch, dass die „Pragmatiker:innen“ vielfach Zuspruch  durch privilegierte Kreise religiös-autoritär eingestellter Teile der Diaspora erfahren. Sie erachten die Taliban als legitime Herrscher und Revolutionäre, die Afghanistan befreit haben und verstehen ihre Unterstützung als Bewahrung eines religiösen Erbes. Neben Zuspruch haben sie auch Zugang zu Ressourcen, beispielsweise Sendezeit im Exilfernsehen und damit eine große Reichweite. Diese kognitive Dissonanz der „Pragmatiker:innen“ in der Diaspora – ein Leben mit diversen Freiheiten in London oder New York zu führen, zugleich aber einen solchen Sympathisant:innenkreis zu haben- spricht Bände.

Die Unterstützung der Taliban aus dem Exil ist damit offenbar auch eine Klassenfrage: Der Talib trägt Prada. Die ökonomische Überlegenheit wird gepaart mit einer moralischen gegenüber Kritiker:innen und insbesondere der Bevölkerung Afghanistans. Ihnen wird durch einen derart überzogenen Pragmatismus aus der Diaspora abgesprochen, die Lage im Land beurteilen und kritisieren zu können. Mit ihren „pragmatischen“ Aussagen und Forderungen sorgen diese Kreise der afghanischen Diaspora dafür, dass der ausbeuterische Paternalismus im humanitären Gewand der vergangenen 20 Jahre nun auch im menschenverachtenden Taliban-Emirat fortgeführt werden kann.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Raum, Gender und ihren Wechselwirkungen. Ihre Schwerpunkte liegen in postkolonialer Analyse in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Mina Jawad is a freelance writer. She works on the construction of space, gender and their interactions. Her work focuses on postcolonial analysis in...
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy