In dem Buch „eine million drachen“ berichten Kinder aus Gaza von ihrem (Über-)Leben seit Oktober 2023. Mit ihren Gedanken und Wünschen widersprechen sie der hiesigen Entmenschlichung von Palästinenser:innen und fordern auf, hinzusehen.
Ich erinnere mich gut, wie das Gedicht von Joudy Isleem, elf Jahre alt, aus Gaza, zu mir kam: Auf einer Demonstration in Berlin-Mitte bekam ich es unverhofft im Frühling 2024 in die Hand gedrückt:
Bring mich in den Himmel,
wo die Sterne leuchten.
Nimm mich mit zu den Sternen,
die in Frieden leben.
Wir können zusammenleben,
wir können Sterne sein.
Wir brauchen kein Dach
um in Liebe zu leben.
Wir brauchen nur die Menschen
In unseren Herzen.
Die Zeilen berührten mich sehr, und ich wollte mehr über ihre Entstehung wissen. Auf dem Zettel gab es jedoch keine Hinweise, die über ihren Namen hinausgingen. Monate später bekam ich das hier besprochene Büchlein „eine million drachen“ von einer Freundin geschenkt. Direkt auf der ersten Seite fand ich das Gedicht wieder.
Joudys Gedicht ist eines von vielen verschiedenen Zeugnissen palästinensischer Kinder, die meisten von ihnen aus Gaza, die über ihren Alltag, über ihre Verluste, Wünsche und Träume berichten. Mit Ausnahme von vier Gedichten wurden die Zeugnisse der Kinder zwischen Oktober 2023 und März 2024 gesammelt. Die Herausgebenden Leila Boukarim und Asaf Luzon taten sich im Dezember 2023 zu diesem Buchprojekt zusammen, um Geld für Organisationen in Gaza zu sammeln und die Stimmen der Kinder zu verbreiten.
(Über-)leben als Kind in Gaza
Die Kinder drücken in diesem kleinen Buch Verschiedenes aus: Wünsche, wie getötete Familienmitglieder mögen zurückkommen – „Komm zurück. Ich helfe dir bei den Hausarbeiten. Ich werde keinen Ärger machen“ –, Trauer über Verluste, die Beschreibung von Hunger, Wut über die Untätigkeit der Welt und Bewältigungsstrategien – „Ich pflanze. Damit mein Zuhause schön wird.“ Zwei gehörlose Kinder übermitteln ihre Botschaft in Gebärdensprache an die Welt: „Ya Rab, bitte lasst diesen Krieg enden“. Die Gebärden sind im Buch durch Zeichnungen illustriert.
Im Gazastreifen leben etwas mehr als zwei Millionen Menschen, rund die Hälfte von ihnen Kinder. Diese leiden besonders an den Bombardierungen, der systematischen Verweigerung von Hilfslieferungen und den Verletzungen und Krankheiten, denen sie ausgesetzt sind. Die zehnwöchige Blockade jeglicher Hilfslieferungen, die seit dem 2. März 2025 bestand, verschlimmerte die Situation von Kindern in Gaza noch einmal drastisch. Mehr als 50.000 Kinder wurden seit Oktober 2023 getötet, verletzt oder liegen unter den Trümmern der fast vollkommen zerstörten Städte. Schulen, Krankenhäuser, Notunterkünfte für Vertriebene und Familienhäuser – Orte, die Sicherheit für Kinder bedeuten sollten – wurden von der israelischen Armee gezielt angegriffen und zerstört.
Doch Empathie für das Leid von Palästinenser:innen, einschließlich der Kinder in Gaza, ist in Deutschland Mangelware. So hatten sich im Sommer 2024 beispielsweise 40 medizinische Einrichtungen bereit erklärt, rund 32 schwer verletzte Kinder aus Gaza in Deutschland zu behandeln und die anfallenden Kosten selbst zu übernehmen. Aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ des Bundesinnenministeriums und des Auswärtigen Amtes gegenüber potenziellen Begleitpersonen der Kinder scheiterte diese Aktion.
„Wir sind keine Zahlen“
Die in „eine million drachen“ gesammelten Zeugnisse der Kinder in Gaza stellen sich Narrativen der Entmenschlichung von Palästinenser:innen entgegen. Die Gedichte versuchen auf poetische Art und Weise der dominanzgesellschaftlichen, medialen und politischen Schieflage, die israelisch-jüdische Opfer betrauert und die palästinensischen Opfer als bloße Zahlen ohne Namen, Gesichter und Geschichten sieht, etwas entgegenzusetzen.
Trotz der Extremsituation, in der sich Kinder und ihre Familien seit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Beginn des Genozids in Gaza befinden, beschreibt der Gedichtband auch alltägliche Erlebnisse und Wünsche. Etwa die Erfahrung von Amal Ramzi Nusair, circa elf Jahre alt, die all ihre Bücher in einem Rucksack verstaut hat und sie so vor der Zerstörung retten konnte. Oder Hassan, neun Jahre alt, der sagt: „Ich möchte, dass meine Haare wieder wachsen, und ich möchte so sein wie alle anderen Kinder. Und Mehl“.
Die Stimmen der Kinder bauen Brücken zu Kindern in anderen Teilen der Welt und können dazu beitragen, die Mauer des Schweigens der Dominanzgesellschaft zu durchbrechen. So eignet sich das Büchlein gut dafür, mit Kindern, die bisher wenig Zugang zu den schrecklichen Geschehnissen hatten, ins Gespräch zu kommen. Es hat außerdem das Potenzial, Erwachsene, die bisher wenig Empathie für Menschen in Gaza haben, zu erreichen und zu berühren. Asaf Luzon bebilderte die Zeugnisse der Kinder mit einfühlsamen Zeichnungen.
Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und Dokumentation
Die Dokumentation von Kriegsverbrechen ist für deren potenzielle Aufarbeitung und die Geschichtsschreibung von großer Wichtigkeit. Dies aus der Sicht von Kindern zu tun, stellt eine wichtige Aufgabe dar. Denn obwohl inzwischen alle völkerrechtlich anerkannten Staaten außer den USA die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert haben, werden die Rechte von Kindern häufig verletzt, ihre Stimmen kaum gehört und selten in Entscheidungsprozessen berücksichtigt. Doch die Botschaften der Kinder aus Gaza sind klar und deutlich: „Ich bin ein Kind und ich will leben. Und ich habe Angst. Ich schwöre, ich habe Angst. Ich will so leben wie all die anderen Kinder auf der Welt. *bricht in Tränen aus* Ich will nicht sterben.“ – Hammoud Harna, etwa acht Jahre alt.
Neben der Trauer und Verzweiflung, die die Kinder ausdrücken, sind ihre Aussagen Zeugnisse ihrer Stärke, ihrer Resilienz und des Festhaltens an der Hoffnung auf ein gutes Leben. Sie zeigen auch die Großherzigkeit der Kinder. So beharrt etwa Youssef, ein verletzter 16-Jähriger, darauf, sein Essen mit einem Arzt zu teilen, der ihn in Genf behandelt. Ein anderes siebenjähriges Kind bastelt und verkauft Papierflieger für andere Kinder, damit sie etwas zum Spielen haben.
Der Papierdrache, welcher sowohl namengebend für das Buch ist, als auch in den Gedichten der Kinder immer wieder vorkommt, ist ein Symbol des Widerstands, der Freiheit und der Hoffnung von Palästinenser:innen. 2011 stellten Kinder aus Gaza mit 12.350 gleichzeitig in der Luft fliegenden Drachen einen neuen Guinness World Record auf. Der im Dezember 2023 vom israelischen Militär getötete Poet und Literaturprofessor Refaat Alareer beschreibt in seinem bekannt gewordenen Gedicht „If I Must Die“ den Drachen als Überbringer von Liebe und Hoffnung und als Träger von Geschichten.
Bild: Buchcover eine million drachen. Fotografin: Sonja Lamer.
Denn: „Wie viel Zeit braucht ihr, um aus eurem Schlaf zu erwachen und den Menschen in Gaza zu helfen? Ich möchte nur verstehen. Wie viel Zeit? Wie viele Kinder müsst ihr noch sterben sehen, bevor ihr anfangt, euch zu bewegen?“, Ramadan Jazar, neun Jahre alt.