07.04.2021
Ein „Deutscher“ in Imsouane
„Tasra Hostel...Unterkunft, Verpflegung...ich kann Sie auch frisieren...“ - „...ganz nach Ihrem Geschmack.“ Credit: Mohamed Beyoud
„Tasra Hostel...Unterkunft, Verpflegung...ich kann Sie auch frisieren...“ - „...ganz nach Ihrem Geschmack.“ Credit: Mohamed Beyoud

Aziz Bijerj, 66 Jahre alt, führt eine Herberge in Imsouane an der Atlantikküste Marokkos. Wer sich hierher verirrt, hört Geschichten über LSD und rote Teppiche. Das Portrait von einem, der nach vielen Jahren in Köln in seine Heimat zurückgekehrt ist.

Dieser Text ist Teil des Kooperations-Dossiers dis:tance - von Marokko, Deutschland und dem Dazwischen. Herausgegeben von En toutes lettres und dis:orient, finanziell unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa).

In Imsouane, dem kleinen Dorf auf halbem Weg zwischen Essaouira und Agadir im Süden Marokkos, ist die „Herberge Tasra“ eine echte Institution. Das hübsche Gebäude liegt gleich am Dorfeingang und zieht sowohl Marokkaner:innen als auch Tourist:innen an, die auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen sind.

Die weiß und blau getünchten Wände, das Dekor an Pflanzen und Fossilien aller Art, der schöne Hof und freilaufende Pfauen geben „Tasra“ seine besondere Stimmung und lassen die Außenwelt vergessen. Und dann sind da die Fisch- und Fleisch-Tajines, die die Küche des Hauses zu bieten hat – auf Wunsch auch mit einem guten Glas Wein. Abends sorgen Musiker:innen, oftmals Gäste, für Stimmung und eine Menge Spaß.

Hinter all dem steht Aziz Bijerj, der Mann mit den vielen Leben. Aziz ist 1954 im Stadtteil Hay Mohammadi in Casablanca, dem wirtschaftlichen Zentrum Marokkos, geboren und aufgewachsen. „Ich war ein wildes, wütendes Kind. Während alle meine Brüder gute Schüler waren, bin ich von der Schule geflogen. Am Ende hat auch mein Vater mich rausgeschmissen, obwohl ich keine sechzehn war“, sagt Aziz Bijerj.

Erster Anlaufpunkt für den jungen Aziz war damals Imsouane, wo die Brüder seines Vaters lebten. Nach zwei Monaten zog er weiter in den Süden: Nach Tan Tan, wo er mit seinen Cousins als Fischer auf dem Meer arbeitete, dann nach Tarfaya, wo er bei einem seiner älteren Brüder wohnte.

„Damals gab es bloß eine unbefestigte Piste zwischen Tan Tan und Tarfaya. Da haben nur mein Bruder und ich und ein paar Leute aus dem Süden gewohnt.“ Das verlassene Gebäude einer alten spanischen Kirche diente den Brüdern für eine Monats-Miete von 200 Dirham (20 Euro) als Wohnung und Arbeitsplatz: hier reparierten sie Motoren von Fischerbooten.

Später, zurück in Casablanca, stürzte sich der junge Aziz mit 5000 erarbeiteten Dirham (500 Euro) in der Tasche ins Party-Leben der Stadt. Mit den Besuchen der damals hippen Bars und Cabarets wie Wichita oder la Fontaine ging ihm allerdings schnell das Geld aus. Aziz begann sich in seiner Geburtsstadt nicht mehr wohl zu fühlen.

„Schon als wir Kinder hat mein Vater uns allen die Kunst des Haareschneidens beigebracht. So konnte ich das notwendige Geld zusammenkratzen, um die Stadt zu verlassen und in den Süden zu gehen, wo ich mich von da an herumtrieb.“

Von LSD und Mathematik

Tatsächlich wird Aziz nun an vielen Orten leben: In einer Grotte am Strand von Imsouane, in Agadir oder in der Sahara. „Das war die Epoche der Hippies. In dieser Zeit habe ich angefangen alle möglichen Drogen zu nehmen, die damals so üblich waren, zum Beispiel LSD oder Kokain. Dabei haben wir die Musik von Frank Zappa, Pink Floyd und Led Zeppelin gehört. Ich konnte mir meinen ersten Kassettenrekorder besorgen und meinen ersten Plattenspieler!“

Ende 1978 lässt sich Aziz erneut in der Gegend von Agadir, in Tamghart bei Taghazout nieder. Kostenlos übernimmt er ein Restaurant und zieht es mit einem Budget von 700 Dirham (70 Euro) neu auf. „Das Restaurant war schnell ein Anlaufpunkt für Musiker:innen, Amerikaner:innen, Deutsche und ein neuer Lieblingsort für die Hippies von Taghazout.“

Hier lernt Aziz seine zukünftige Frau Charlotte kennen. Die deutsche Mathematikstudentin war gemeinsam mit einer jungen Familie nach Marokko gekommen, für die sie als Babysitterin arbeitete. „Wir haben uns sehr schnell ineinander verliebt. Wir hatten so viel gemeinsam: unsere Leidenschaft für Tiere und fürs Zeichnen. Ich konnte kein Deutsch, aber wir konnten uns auf Französisch verständigen.“

Das Paar reist in der Gegend herum und lässt es sich gut gehen. Dennoch rät Aziz seiner Freundin, nach Deutschland zurückzukehren und ihr Studium zu Ende zu bringen. „Für mich war das eine sehr starke Verbindung, aber an Heiraten habe ich dabei überhaupt nicht gedacht. Aber Charlotte wollte bei mir bleiben und so ist die Idee in uns gewachsen.“

Doktor mit Schere und Kamm

Nach einem langen Kampf darf Aziz zu seiner großen Liebe nach Deutschland ziehen – um genau zu sein nach Köln. Damals war es für marokkanische Bürger:innen gar nicht leicht an einen Reisepass zu kommen. „Wir haben in Casablanca bei einem Adoul [einem islamischen Notar, Anm. d. Red.] im Stadtteil Habous geheiratet. Ich bin am selben Tag nach Deutschland geflogen wie Ayatollah Khomeini nach Teheran, am ersten Februar 1979.“[1]

Angekommen in Deutschland nimmt Aziz wieder den früh erlernten Friseur-Beruf auf. Charlotte meldet ihn zudem an einer Sprachschule zu einem Deutschkurs an. „Ich habe zwei Monate teilgenommen, dann hatte ich die wichtigsten Ausdrucksweisen gelernt, um zurecht zu kommen. Charlotte hat für mich eine Annonce in einer Lokalzeitung aufgegeben und so habe ich angefangen als Friseur meinen Kunden Hausbesuche abzustatten.“

Drei Jahre später kam die kleine Mariam in Köln zur Welt. Dies gab für Aziz den Anstoß, zum ersten Mal nach Marokko zurückzukehren.

„Charlotte war eine gebildete Frau. Ihre Freund:innen und ihre Familienmitglieder genauso, sie waren Doktor:innen der Biologie, Mathematik oder Humanwissenschaften. Aber ich, der noch nicht mal meine Grundausbildung durchgezogen hatte, wollte auch meinen Platz auf der Welt. Ich hatte keine Diplome, aber ich war in Deutschland. Das war meine Chance.“

Mit Charlottes Unterstützung und 700 D-Mark geht er zuerst nach Paris und dann nach Cannes, wo er an einem internationalen Friseur-Festival teilnimmt, das dort im Zuge der berühmten Filmfestspiele stattfindet. Er kauft sich einen Koffer mit einem Föhn, einer Schere und Arbeitskleidung, sucht Modelle und gewinnt schließlich den Wettbewerb, an dem Friseure und Friseurinnen aus 40 Ländern teilnehmen. „Und so habe ich meinen Doktortitel im Haare-Schneiden gemacht.“

Im Folgejahr wird er von Seiten des Festivals in Cannes erneut zur Teilnahme eingeladen. Wieder gewinnt er ein Diplom und einen Pokal, den er seinem Vater schenkt. Der Pokal bekommt einen Ehrenplatz in dessen kleinen Friseursalon in Hay Mohammadi, Casablanca.

„Aziiiz komm in's Bett, wir haben verstanden wie viel dir die Schere bedeutet.“ Mohamed Beyoud

Ein weiteres Ereignis bringt Veränderung in das Leben des jungen Aziz: Einer seiner Kölner Kunden, ein Kino-Regisseur, verschafft ihm eine Rolle als Schauspieler in einer größeren Produktion. „Ich bin durch ganz Deutschland gereist. Ich wurde in Fünf-Sterne-Hotels untergebracht und habe 5000 Dirham (500 Euro) pro Tag verdient. Mit diesem Geld habe ich dann 1986 begonnen mein Haus in Imsouane zu bauen.“

Dieses Haus ist heute Tasra, die Herberge, an der im Dorf im Süden Marokkos kein Weg vorbeiführt. Dank seiner Arbeit in Deutschland ist es Aziz zudem gelungen, einen Haarsalon auf dem schicken Boulevard Mohammed V in Casablanca zu eröffnen, in dem nun seine Brüder als Friseure arbeiten.

Gegen alle Scheinheiligkeit

Nach Jahren zwischen Deutschland und Marokko hat sich Aziz 2015 endgültig in Imsouane niedergelassen. „Nachdem ich mit Charlotte die Ausbildung meiner Kinder Mariam und Karim abgesichert habe, bin ich in Imsouane geblieben. Charlotte wohnt noch in Köln, verbringt aber viel Zeit in Imsouane. Uns beiden ist es wichtig unsere Freiheit zu haben. Wir sind Eheleute, aber wir gehören einander nicht.“

Auf die Frage, was ihm das Leben in Deutschland gebracht hat, hat Aziz folgende Antwort: „Ich habe die Chance bekommen, mich selbst besser kennen zu lernen. Deutschland hat mich gelehrt, klare Ziele zu verfolgen. In Marokko lebt man viel für die anderen und damit zwangsläufig in der Scheinheiligkeit.“

Aziz blickt kritisch auf die marokkanische Community in Deutschland. Hier sieht er zum Beispiel „Student:innen, die sich nach ihrem Abschluss in Deutschland verloren gefühlt haben, sich dann in die Religion flüchten und alle anderen als Ungläubige betrachten.“

Gerade weil er viele Jahre dort gelebt hat, haben ihn die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015 sehr betroffen gemacht. „Das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich bin für eine medizinische Behandlung wieder einmal nach Köln gekommen und da fragte mich die Sprechstundenhilfe, warum die Marokkaner so was machen. Das war sehr schmerzhaft.“ Aziz resümiert: „Deutsche sind nicht besser als Marokkaner:innen. Es sind die Lebensumstände, die den Unterschied machen.“

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[1]Khomeini kehrte damals aus dem französischen Exil nach Iran zurück und führte dort die Islamische Revolution an.

 

 

Hicham Houdaïfa ist seit 1996 als Journalist tätig. Er ist Mitbegründer von EnToutesLettres (www.etlettres.com), einem auf Essays spezialisierten Verlag, wo er die Serie "Enquêtes" leitet. Er ist Buchautor und außerdem Mitbegründer des Openchabab Programms (www.openchabab.com). Dieses Ausbildungsprogramm ist auf junge Journalist:innen und auf...
Redigiert von Clara Taxis, Maximilian Menges, Anna-Theresa Bachmann
Übersetzt von Regina Prade