07.11.2023
Hört israelischen Überlebenden zu: Sie wollen keine Rache
Israelische Demonstrant:innen protestieren gegen den Krieg und für einen Waffenstillstand vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv. Foto: Oren Ziv.
Israelische Demonstrant:innen protestieren gegen den Krieg und für einen Waffenstillstand vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv. Foto: Oren Ziv.

Ein Monat ist seit den Massakern vom 7.Oktober in Israel vergangen. „Nicht in meinem Namen“, sagen viele Hinterbliebene der Getöteten und Entführten – und fordern gerade in ihrer Trauer ein Ende der Vergeltungsmaßnahmen und Bombardierungen Gazas.

„Alle reden von Einheit. Leute, Einheit ist wunderschön, aber auf dem Schlachtfeld gibt es Rache und da gibt es Grausamkeit ... Wir werden unser ganzes Leben Zeit haben, zu trauern, und wir werden trauern. Aber jetzt gibt es nur ein Ziel: Rache zu nehmen und grausam zu sein.“ Dies waren die Worte des israelischen Reservesoldaten Guy Hochman – normalerweise ein Entertainer und Online-Influencer – in einem TV-Interview bei Kanal 12 während der ersten Tage des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen nach den Massakern der militanten Hamas vom 7. Oktober.

In nur wenigen Worten beschrieb Hochman die Stimmung, die sich in Israel, durchgesetzt zu haben scheint, von der extremen Rechten bis hin zu vielen, die sich selbst als Linke bezeichnen: die Rechtfertigung der Katastrophe, die Israel derzeit unter mehr als 2 Millionen Palästinenser:innen in Gaza anrichtet. Einige rechtfertigen ihre Reaktion damit, „die Hamas zu besiegen“. Andere, wie Hochman, stellen die pauschale Rache über alles andere.

Umso bemerkenswerter ist es, dass sich angesichts der vorherrschenden politischen Stimmung immer mehr Israelis, die die Massaker überlebt haben oder deren Angehörige getötet oder nach Gaza entführt wurden, zu Wort melden und sich unmissverständlich gegen die Tötung unschuldiger Palästinenser:innen und gegen Rache aussprechen.

„Nicht in unseren Namen“

In einer Trauerrede für ihren*seinen Bruder Hayim, einen im Kibbuz Holit ermordeten Besatzungsgegner und Aktivisten, forderte Noi Katsman ihr*sein Land auf, „unseren Tod und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu verursachen. Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes durchbrechen und verstehen, dass der einzige Weg [nach vorne] Freiheit und Gleichberechtigung sind. Frieden, Brüderlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.“

Ziv Stahl, Geschäftsführerin der Menschenrechtsorganisation Yesh Din und Überlebende des Höllenfeuers in Kfar Aza, wandte sich in einem Artikel in Haaretz ebenfalls entschieden gegen Israels Angriff auf Gaza. „Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, nichts wird diejenigen zurückbringen, die weg sind“, schrieb sie. „Die wahllose Bombardierung des Gazastreifens und die Tötung von Zivilisten, die an diesen schrecklichen Verbrechen unbeteiligt sind, sind keine Lösung.“

Yotam Kipnis, dessen Vater bei dem Hamas-Anschlag ermordet wurde, sagte in seiner Trauerrede: „Schreiben Sie den Namen meines Vaters nicht auf eine [militärische] Granate. Das hätte er nicht gewollt. Sagt nicht: ‚Gott wird sein Blut rächen‘. Sagt: ‚Möge sein Andenken zum Segen werden.‘“

Michal Halev, die Mutter von Laor Abramov, der von der Hamas ermordet wurde, rief in einem auf Facebook geposteten Video: „Ich flehe die Welt an: Hört auf mit all den Kriegen, hört auf, Menschen zu töten, hört auf, Babys zu töten. Krieg ist nicht die Antwort. Mit Krieg kann man keine Probleme lösen. Dieses Land, Israel, macht Horror durch ... Und ich weiß, dass die Mütter in Gaza Horror durchmachen ... In meinem Namen will ich keine Vergeltung.“

Maoz Inon, dessen Eltern am 7. Oktober ermordet wurden, schrieb bei Al Jazeera: „Meine Eltern waren Menschen des Friedens ... Rache wird meine Eltern nicht wieder zum Leben erwecken. Sie wird auch andere getötete Israelis und Palästinenser:innen nicht zurückbringen. Sie wird das Gegenteil bewirken ... Wir müssen den Kreislauf durchbrechen.“

Als Yonatan Ziegen, der Sohn von Vivian Silver, von einem Journalisten gefragt wurde, was seine Mutter - von der man annimmt, dass sie entführt wurde – über das denken würde, was Israel jetzt in Gaza tut, antwortete er: „Sie wäre beschämt. Denn man kann tote Babys nicht mit noch mehr toten Babys heilen. Wir brauchen Frieden. Dafür hat sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet ... Schmerz ist Schmerz.“

In einem Video, das viral ging, hielt eine 19-jährige Überlebende des Massakers im Kibbutz Be'eri, einen bewegenden Monolog über die Vernachlässigung der Bewohner des Südens durch die Regierung und plädierte für: „Rückgabe der Geiseln. Frieden. Anstand und Fairness ... Vielleicht fällt es einigen von Ihnen schwer, diese Worte zu hören. Es fällt mir schwer, sie auszusprechen. Aber nach dem, was ich in Be'eri durchgemacht habe, sind Sie es mir schuldig.“

Die „Sinnlosigkeit von Rache“

Das sind wir ihnen schuldig. Ich höre ihnen zu und lese ihre Worte, und ich verneige mich vor ihrem Mut. Und ich denke über das seltsame Beharren so vieler, auch sogenannter Linker, in diesem Moment nach, den Grad unserer Solidarität, unseres Schmerzes oder unserer Wut daran zu messen, ob wir bereit sind, das Feuer zu unterstützen, das unsere Armee auf Gaza niederregnen lässt.

Was werdet ihr zu diesem trauernden Vater sagen? Zu dem Überlebenden des Massakers? Fehlt es auch ihnen an Solidarität? Woher kommt die Unverfrorenheit, zu bestimmen, was in jedem einzelnen unserer gebrochenen Herzen und Köpfen vor sich geht?

Ich sehe die Anschuldigungen gegen diejenigen, die um ein Ende dieses sinnlosen Gemetzels, dieses schrecklichen und bedrohlichen Kriegsverbrechens in Gaza bitten, und ich denke an den Satz von Ben Kfir, einem Mitglied des Bereaved Families Forum, der sich vor Jahren in meinem Kopf eingeprägt hat, als er über die Sinnlosigkeit von Rache sprach: „Ich habe meine Tochter verloren, nicht meinen Verstand.“

Dieser Mann, der den Menschen verloren hat, der ihm am meisten am Herzen lag, und viele andere, die sich jetzt in den Kreis der Trauernden eingereiht haben, haben verstanden, was so viele heute noch nicht verstehen wollen: dass der Weg, der uns angeboten wird, nämlich mehr Blut und mehr "Abschreckung", genau der Weg ist, der uns schon so oft angeboten wurde und der uns zu den Schrecken geführt hat, die wir heute erleben.

„Mehr zuhören“

Abgesehen davon, dass es unmoralisch ist, die Gräueltaten Israels im Gazastreifen zu rechtfertigen, ist die Erwartung, dass das Massengemetzel dieses Mal zu einem anderen Ergebnis führen wird als alle früheren Militäraktionen - die nichts erreicht haben, außer die Verzweiflung, das Leid und den Hass auf palästinensischer Seite zu vertiefen – eine schreckliche Selbsttäuschung, deren Preis erneut die Bewohner:innen des Südens zahlen werden.

Sagt nicht, dass Israel es für diese Menschen tut. Israel hat den Süden in einem ungeheuren Verbrechen im Stich gelassen und kann sein Verbrechen nicht mit dem Blut Unschuldiger in Gaza wiedergutmachen. Anstatt sich dieser Rachsucht hinzugeben, sollten wir den Familien der Opfer zuhören.

Der Artikel erschien im hebräischen Original bei Local Call und am 25.10.2023 in einer englischen Version bei +972 Magazin.

 

 

Orly Noy ist Redakteurin bei Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Persischen. Sie ist Vorsitzende des Vorstands von B'Tselem und Aktivistin in der politischen Partei Balad. In ihren Texten befasst sie sich mit den Grenzen, die ihre Identität als Mizrahi, Linke, Frau, zeitweilige Migrantin und ständige...
Redigiert von Rebecca Spittel
Übersetzt von Elisa Nobel-Dilaty