01.10.2022
Rezension: Englisch in Berlin
Schon das Buchcover zeigt, wie die Autor:innen Sprache reflektieren: die Leser:innen sollen durch die Schreibweise der Namen stolpern und darüber nachdenken. Buchcover: Wirklichkeit Books, Grafik: Pauline Jäckels.
Schon das Buchcover zeigt, wie die Autor:innen Sprache reflektieren: die Leser:innen sollen durch die Schreibweise der Namen stolpern und darüber nachdenken. Buchcover: Wirklichkeit Books, Grafik: Pauline Jäckels.

In Berlins Café- und Kulturlandschaft wird Englisch gesprochen, selbstverständlich. Wer Teil dieser Orte ist und wer es sich überhaupt leisten kann, hier kein Deutsch zu sprechen, fragen Hilal und Varatharajah in ihrem neuen Buch.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Berlin wird mit seinen angesagten Cafés, Galerien und anderen artsy ‚underground‘ Orten als internationaler, weltoffener und maximal inklusiver Ort abgekultet. Interessante Menschen aus der ganzen Welt versammeln sich hier mit einer Gemeinsamkeit: Sie wollen ausbrechen aus der alten Welt und ihren regressiven Werten. Sie wollen frei sein und sich frei austauschen, Neues schaffen in der Stadt, die im Vergleich zu anderen Metropolen noch so roh ist. So das Narrativ.

Sie, oder vielmehr wir – denn ich schließe mich hier ein – treffen uns bei Gallery Openings in Neukölln, zum Bubble Tea trinken in Mitte oder bei Panels mit Titeln wie „Queering the Decolonial: On Intersectional Justice from a Non-Eurocentric Lens.“ Und wir sprechen Englisch, selbstverständlich.

In ihrem neu erschienenen Buch „Englisch in Berlin – English in Berlin“, nehmen die Autor:innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah genau dieses Phänomen unter die Lupe. Einmal auf Deutsch und übersetzt ins Englische. Sie fragen: Was hat es auf sich mit der englischen Sprache, deren Beherrschung beinahe Voraussetzung für die Teilnahme an gewissen Orten ist?Warum [wird] Englischsprechen als legitime Alternative in manchen Räumen und Orten akzeptiert? Und warum [kann] eine englisch- sprachige Infrastruktur selbstverständlich in Berlin existieren, ohne als Parallelgesellschaft zu gelten?“

Not your average Sprachdebatte

Schon mit ihren Ausgangsfragen distanzieren sich die beiden Autor:innen von dem sonst in den internationalen Kreisen Berlins populären Standpunkt, für den Kritik am Englischen beziehungsweise jeglicher „Fremdsprache“ immer aus einer national-konservativen Ecke kommt. À la „wir sind hier nun mal in Deutschland, also wird hier gefälligst Deutsch gesprochen.“

Varatharajah erklärt: „Der Unterschied zwischen uns und Deutschen mit Nazihintergrund und /oder Kolonialhintergrund, die dieses Gespräch führen, ist eben, dass wir nicht den Anspruch haben, das Deutsche zu verteidigen. […] Eher möchten wir die Heuchelei, die dahinterliegenden Doppelstandards ansprechen und dadurch das klassistische und rassistische Verhalten, das diese Entwicklung ermöglicht, zum Zentrum der Debatte machen.”

Auch der Ort, an dem das Buch entsteht, ist außergewöhnlich: Instagram. Zu Anfang der Pandemie trafen sich die beiden regelmäßig in Live-Talks und besprachen genau die Themen, die in den dominanzgesellschaftlichen Feuilletons dieses Landes abwesend sind: „Impfstoffgerechtigkeit und Medizinischer Kolonialismus“, das deutsche „Nazierbe“ oder „Englisch in Berlin – Sprache, Klasse, Gentrifizierung.“

Expats oder Immigrant:innen?

Zentral ist im Buch, wem es in Deutschland überhaupt gewährt wird, sich ohne Deutschkenntnisse durch den Alltag zu bewegen und noch wichtiger: zu arbeiten. Moshtari Hilal beschreibt, wie sie in einem Schuhladen nach ihrer Schuhgröße fragt. Die Verkäuferin fragt, ob sie Englisch sprechen könne, denn sie verstehe kein Deutsch. Hilal wechselt sofort ins Englische, um ja nicht als eine Person zu wirken, die Deutsch voraussetzt, denkt sich dann aber: „Wow, du kannst hier arbeiten, ohne Deutsch zu sprechen? Meine Eltern haben keine Arbeit bekommen, weil sie nicht Deutsch konnten! Und für dich gilt diese Regel auf einmal nicht mehr?“

Wer es sich erlauben kann, in Berlin kein Deutsch zu sprechen, hängt meist damit zusammen, ob er oder sie als sogennante:r „Expat“, oder als „Arbeits:immigrant:in“ nach Deutschland gekommen ist. Der Unterschied zwischen beiden Labels ist bei genauer Betrachtung nicht, warum eine Person nach Deutschland kommt, sondern woher: 

Während sich Menschen aus Schweden, den USA oder den Niederlanden problemlos auf unbestimmte Zeit in Deutschland niederlassen können, ohne je einen Sprachkurs oder gar Integrationskurs zu besuchen, ist der Erwerb der deutschen Sprache unter Zeitdruck für Menschen aus dem Globalen Süden häufig Voraussetzung für ein Bleiberecht. Vor allem dann, wenn sie nicht der ‚International School‘- oder ‚Art Crowd‘ angehören. Dann winkt ein anderer Status in der deutschen Gesellschaft, durch Verbindungen zu etablierten Kultur- und Bildungsinstitutionen beziehungsweise Zugang zu finanziellem Kapital.

Doch auch hier muss unterschieden werden, zum Beispiel zwischen Menschen, die zwar das deutsche Asylsystem durchlaufen mussten, gleichzeitig aber englisch- und arabischsprachige Künstler:innen sind; und anderen, die beispielsweise im klassischen Dienstleistungssektor arbeiten. Durch solche Umstände ist die Abhängigkeit von der deutschen Sprache in Alltag und Erwerbstätigkeit unterschiedlich stark. „Es ist für viele Menschen, wie für uns oder unsere Familien, das Deutschsprechen nicht nur eine Vorbedingung, um in diesem Land arbeiten zu dürfen, sondern auch, um hier überhaupt existieren zu dürfen!“

Aber woher kommt dieser zwiegespaltene Anspruch, den die deutsche Gesellschaft, verankert in asylpolitischen Strukturen, an Ausländer:innen stellt? Dahinter stecken rassistische und europäisch-koloniale Annahmen, so die Autor:innen. Wer aus einem wirtschaftlich reichen, industrialisierten und mehrheitlich weißen Land kommt, bereichert demnach die deutsche Gesellschaft mit ihren Skills und ist uns meist „kulturell nahe“; teilt unsere Werte und Identität. Wer aber aus dem Globalen Süden zu uns kommt, so die Vermutung, will vor allem etwas von uns und soll das, was er oder sie hier bekommt, mit viel Dankbarkeit annehmen. Als kulturell Andere angesehen, sollen sie sich also anpassen, die Sprache lernen: sich ‚integrieren‘.

Eine Frage der Klasse

Dabei geht es aber nicht nur um nationale oder ethnische Herkunft. Klasse spielt fast eine übergeordnete Rolle. Denn Menschen aus dem globalen Süden, die etwa das finanzielle, soziale oder kulturelle Kapital hatten, um auf private Schulen und Hochschulen zu gehen, können sich oft ähnlich mühelos durch englischsprachige Milieus bewegen, so Varatharajah und Hilal. Dadurch entsteht eine Verschiebung der Repräsentation migrantischer Stimmen.

Varatharajah merkt an, dass die vielen Arbeitsmigrant:innen, die seit Beginn der Pandemie als Fahrer:innen für Lieferdienste ein sichtbarer Teil des Berliner Stadtbildes wurden, eine völlig andere Lebensrealität haben als diejenigen migrantischen oder migrantisierten Menschen, die in künstlerischen und kulturschaffenden Milieus präsent sind.  „Letztere sind es jedoch, die lautstark von sich behaupten, den Globalen Süden zu vertreten. Dadurch werden Debatten, die relevant für alle rassifizierten Menschen sind, nicht in dem Englisch der Lieferdienstfahrer:innen aus Indien geführt, sondern auf International-School-Englisch, der Sprache der kapitalstarken Eliten.“

Das lässt sich natürlich auch auf nicht-migrantisch geprägte Kontexte übertragen. Sehr gerne tun wir, die in der 10. Klasse mal ebenso für ein Jahr in den USA waren, per Work and Travel oder Voluntourism „die Welt“ bereist haben, um dann fürs Studium an einer internationalen Privatuni nach Berlin zu ziehen, Menschen, die nicht fließend Englisch sprechen, als provinziell ab. Gleichzeitig bewegen wir uns dann selbstverständlich in besagten Spaces, diskutieren angeregt über Gentrifizierung und Klassenbewusstsein und fetischisieren dabei nicht selten Arbeiter:innentum und Armut.

Importierte Sprache, importierter Diskurs

Hilal und Varatharajah weisen außerdem darauf hin, dass auf Englisch geführte Diskurse nicht einfach nur in einer anderen Sprache geführt werden. Dieselben Kulturhegemonien, die Englisch zur so genannten Weltsprache gemacht haben, prägen über die Verbreitung der Sprache hinaus auch maßgeblich die Debatten in Berlin. Hilal beklagt:

„Umso deprimierender ist es, wenn man sieht, dass Diskussion über Themen wie Rassismus oft Personen, welche die hier herrschenden Verhältnisse von klein auf erlebt haben, ersetzt werden durch englischsprachige Expat-Perspektiven. Die Debatten, Diskurse und Menschen werden importiert und stehen dann in einem verfälschten Kontrast zum lokalen Kontext.“

So exkludiert also die englische Sprache dort nicht nur mit ihren vielen, oft akademischen Begriffen, sondern auch mit den kontextfernen Inhalten all jene, die aufgrund von Klassen- oder nationaler Herkunft kein International-School Englisch beherrschen.

Let’s be real for a moment

Ich habe mich lange gefragt, was die „richtigen“ Schlussfolgerungen aus den wichtigen Interventionen der beiden Autor:innen sind. Weniger Englisch sprechen, mehr Deutsch einfordern? Mir meiner Privilegien, meiner Position und der Zugänge zu diesen Räumen schlicht bewusst werden? Wahrscheinlich muss zuallererst eine kritische Auseinandersetzung mit der oben genannten Heuchlerei um die englische Sprache in Berlin passieren. „Englisch in Berlin“ gibt keine konkreten Antworten oder Handlungsanweisungen und versucht es auch nicht.

Aber Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah regen in ihrer verschriftlichten Unterhaltung zum Nachdenken an und laden Leser:innen ein, die Thematik tiefergehend zu hinterfragen: Wen meinen wir mit „international“, wenn der Großteil der Menschen davon ausgeschlossen ist? Was ist „inklusiv“, wenn die direkte Nachbar:innenschaft weder Teil unserer klugen Fragen noch der Antworten darauf sein kann? Und wem machen wir etwas vor, wenn wir uns mit einer radikalen Welt[en]offenheit brüsten, um dann immer wieder in den gleichen, uns vertrauten Räumen die gleichen Debatten zu führen mit Menschen, mit denen wir in vielerlei Hinsicht mehr teilen, als wir es wahrhaben wollen?

Moshtari Hilal, Sinthujan Varatharajah: Englisch in Berlin, Wirklichkeit Books, Berlin 2022, 136 Seiten, 15€

 

 

Pauline Jäckels macht aktuell ihren Master in Global Diplomacy an der SOAS Universität in London. Ihren Bachelor absolvierte sie in Economics, Politics, and Social Thought am Bard College Berlin. Das Allermeiste hat sie aber von den Menschen gelernt, die ihr seitdem in Berlin, Istanbul, Beirut oder ihrem Herkunftsort Saarbrücken begegnet sind.
Redigiert von Lilith Daxner, Clara Taxis