20.09.2023
Nach dem Erdbeben in Marokko: „Eine Frage von Leben und Tod“
Samiras erste Fahrt mit Hilfsgütern geht in die südmarokkanische Gemeinde Tafingoult in der Provinz Taroudant. Foto: Samira Bendriouich
Samiras erste Fahrt mit Hilfsgütern geht in die südmarokkanische Gemeinde Tafingoult in der Provinz Taroudant. Foto: Samira Bendriouich

In den Tagen nach dem Erdbeben versuchen Vereine und Einzelpersonen in Marokko, Hilfe in die betroffenen Gebiete zu bringen. So auch Samira Bendriouich. Sie erzählt im Interview, wie sie hilft und welchen Schwierigkeiten sie begegnet.

Nach dem schweren Erdbeben im Süden Marokkos, dessen Epizentrum zwischen Marrakesch und Agadir lag, haben laut aktuellen Zahlen des marokkanischen Innenministeriums fast 3.000 Menschen ihr Leben verloren. Ganze Dörfer sind zerstört und Menschen trauern um ihre Angehörigen. Während nationale und internationale NGOs Nothilfe leisten, mobilisieren sich auch zahlreiche kleinere Vereine und Einzelpersonen, um zu helfen. Samira Bendriouich ist die Gründerin des Vereins Amazigh Girl Matters (Taouri N Tfrotht Tamazight). Mit ihrem Verein organisiert sie Hilfe in den betroffenen Gebieten.

Samira, mit Amazigh Girl Matters bringt ihr Hilfe zu den vom Erdbeben betroffenen Menschen. Wie habt ihr damit begonnen?

In der Nacht des Erdbebens waren meine Freund:innen und ich in einem Hotel in Agadir, weil wir dort ein Festival besuchten. Wir hatten wirklich Spaß, als plötzlich die Erde bebte. Wir konnten das Erdbeben selbst in Agadir, über hundert Kilometer vom Epizentrum entfernt, spüren. Dann hörten wir, was näher am Epizentrum passiert war. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen, dann fuhren meine Freund:innen nachhause in die betroffenen Gebiete. Es ist wie ein Alptraum. Ihre Häuser, alles ist zerstört. Manche von ihnen haben ihre Familien verloren. Zuerst wusste ich nicht, wie ich ihnen helfen soll. Wenn du eine Person nicht kennst, kannst du sagen, „oh, das tut mir leid, was für ein Leid“. Aber wenn du sie kennst, ihr viele schöne Momente zusammen verbracht habt, eine Verbindung habt… Es ist unfassbar. Sie konnten nicht verstehen, was passiert ist. Innerhalb von Sekunden war alles anders. Es ist schwer für mich, das zu erklären.

Aber meine Freund:innen brauchten mich, also starteten wir einen Spendenaufruf. Ein Freund sagte mir: „Du hast eine Organisation, du kannst selbst den Menschen helfen“. Also nutze ich jetzt die Bankdaten meiner Organisation. Schon am Morgen danach hatten wir 400 Euro von Freund:innen  gesammelt, also gingen wir los, um Zelte, Decken und andere Dinge zu kaufen.

In der ländlichen Gemeinde Tafingoult in der Provinz Taroudant leben fast 7.000 Menschen. Viele von ihnen haben Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Foto: Abdellah Elbouzidi

Wie möchtest du mit deinem Verein helfen?

Wir sind eine kleine Organisation, also haben wir drei Gebiete ausgewählt: Tafingoult, in der Nähe von Taroudant, Chichaoua (Aussprache: Schischaoua) und Al Haouz in der Nähe von Marrakesch und Ouarzazate. Heute Abend treffe ich noch eine Frauenkooperative aus Tazouknite, mit der wir früher schon zusammengearbeitet haben. Damals hatten wir sie dabei unterstützt, ihre lokalen Produkte zu vermarkten. Heute kamen sie nach Agadir, um uns ihr Auto zu leihen, damit wir es für den Transport von Hilfsgütern verwenden können. Manche der Frauen aus der Kooperative gaben uns Spenden, obwohl sie selbst auf Unterstützung angewiesen sind. Kannst du dir das vorstellen? Sie [die Frauen aus der Kooperative] sind sehr engagiert und wollen helfen.

Was wird im Moment am meisten gebraucht?

Zelte, weil Menschen ihre Häuser verloren haben, Decken, Säuglingsnahrung, Windeln, Lebensmittel, Frauenhygieneprodukte und Geschirr. Es fehlt auch an Gasflaschen zum Kochen und Solarzellen für Strom, etwa um Handys zu laden. Alles, was die Leute hatten, ist unter den Trümmern.

Die meisten Menschen, die vom Erdbeben betroffen sind, sind Amazigh.

Ja, die gesamte Region ist Amazigh. Alle sprechen Tamazight, die Sprache der Amazigh, südlich von Marrakesch mit dem Dialekt Taschelhit. Aber wir verstehen uns untereinander, das ist wie Bayrisch und Hochdeutsch. Die Amazigh sind in Marokko marginalisiert, auch deshalb brauchen sie dringend unsere Hilfe. Viele Menschen hier sind arm, es gibt nicht einmal das Baumaterial, um neue Häuser zu bauen. Außerdem werden die Opfer des Erdbebens in Massengräbern beerdigt. Wenn ich sterbe, möchte ich mein eigenes Grab. Aber so viele sind gestorben und sie müssen schnell beerdigt werden.

Güter des täglichen Gebrauchs sind zerstört oder verschüttet. Foto: Abdellah ElbouzidiWelche Schwierigkeiten gibt es dabei, die Güter in die betroffenen Dörfer zu bringen?

Viele Straßen sind wegen des Erdbebens blockiert, nicht einmal die Regierung kommt da durch. Und die meisten betroffenen Dörfer liegen sehr abgelegen, zum Beispiel im Hochatlasgebirge.

Kam nach dem Erdbeben schnell Hilfe an?

In der ersten Nacht nach dem Beben kam die Hilfe nur langsam. In den folgenden Tagen verbesserte sich die Lage etwas. Aber wir haben entdeckt, dass es hier viel Solidarität innerhalb des Landes gibt: Fast alle Städte und Regionen in Marokko helfen, sie versuchen ihr Möglichstes, um die betroffenen Gebiete zu unterstützen. Jedes Mal, wenn ich etwas tun will, ist jemand da und sagt: „Ich bin hier, ich komme mit dir“. Ich bin sehr stolz auf diese Solidarität.

Dein Verein ist besonders für Amazigh Mädchen da. Sind Mädchen und Frauen momentan mit spezifischen Problemen konfrontiert?

Viele Mütter haben ihre Kinder verloren. Wir brauchen dringend psychologische Unterstützung, nicht nur für Frauen, um mit dieser Situation umzugehen. Es ist sehr schwer – sogar für mich. Wir wollten für den Spendenaufruf von Amazigh Girl Matters ein Video schneiden, aber als mir meine Freund:innen die Dateien schickten, konnte ich sie nicht anschauen. Ich habe von den Dingen nur gehört und trotzdem fühle ich mich so schlecht. Was, wenn ich in einer der zerstörten Gegenden wohnen würde? Man spürt so viel Schmerz und kann nichts tun.

Deswegen sehe ich die Verantwortung jetzt auch bei den NGOs. Wir können uns als NGOs immer mit Entwicklung und Trainings und Capacity Building beschäftigen, aber jetzt ist es eine Frage von Leben und Tod. Eine Frage des Existierens oder Nicht-Existierens. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Wir müssen unsere ganzen Probleme beiseitestellen und uns darauf konzentrieren, denen zu helfen, die am Leben sind. Wir müssen sie so viel wie möglich unterstützen, damit sie überleben.

Welche Organisationen sind momentan in der Erdbebenregion aktiv?

Es gibt viele Organisationen, nationale und internationale: Das Rote Kreuz, der Rote Halbmond, UNICEF, die marokkanische Tafel, Ärzte Ohne Grenzen, Islamic Relief. Was ich wirklich sehr schätze, ist, dass viele Menschen helfen, ohne zu einer Organisation zu gehören, zivile Personen, die die Initiative ergreifen. Es gibt ein Video von einem alten Mann auf seinem Fahrrad, der die halbe Packung Mehl, die er zuhause hatte, spendet. Er stellt sie ab und geht. Das Video wurde zufällig gemacht. Möglicherweise hat er nicht einmal genug Geld für sich selbst, aber er möchte helfen.

In der Provinz Taroudant haben Menschen, deren Häuser zerstört worden sind, Zelte gebaut. Foto: Samira Bendriouich.

Was sind eure nächsten Schritte bei Amazigh Girl Matters und welchen Problemen begegnet ihr?

Demnächst fahren wir nach Inezgane, eine Stadt in der Nähe von Agadir in der Region Souss-Massa. Dort gibt es ein Geschäft, in dem wir große Mengen zu guten Preisen kaufen können. Wir koordinieren uns mit Freund:innen aus den betroffenen Gebieten, um zu wissen, was insgesamt gebraucht wird. Manchmal bringen Leute sehr viel von derselben Sache an einen Ort, und wir wollen nichts liefern, was schon ausreichend vorhanden ist.

Ein Problem ist, dass Zelte in Agadir und der nahe gelegenen Stadt ausverkauft sind. In Agadir haben viele Menschen in den letzten Nächten auf der Straße geschlafen, weil sie Angst vor einem weiteren Erdbeben hatten; auch wenn Agadir nicht im Epizentrum war und die Häuser dort nicht zerstört wurden. Aber im Jahr 1960 gab es in Agadir ein Erdbeben, bei dem bis zu 15.000 Menschen starben und das hat sich ins kollektive Gedächtnis der Menschen eingebrannt. Also haben alle ein Zelt gekauft und nun ist der Markt leergefegt. Wir haben vor, in andere Städte zu fahren, um dort die Menge zu bekommen, die wir brauchen.

Was hilft dir, durch diese schwierige Zeit zu kommen?

Es gibt ein Konzept in der Sprache und Kultur der Amazigh, das Tiwizi heißt. Ich habe das als Kind in meinem Dorf erlebt: Wenn die Ernte ansteht, arbeitet das ganze Dorf zusammen und hilft einander. Das ist auch eines der Grundprinzipien einer Kooperative, wie sie in Marokko per Gesetz definiert ist. Aber das Konzept des Tiwizi kommt nicht von außen, es kommt von innen. Es ist auch etwas, das man fühlt. Es ist, wenn diese kleinen Leute versuchen, so viel wie möglich zu helfen. Ich habe dir von dem Mann mit dem Fahrrad erzählt. Es ist ein Glaube an Solidarität und Menschenrechte, der nichts mit Politik oder dergleichen zu tun hat, sondern mit den Menschen.

 

 

Jana hat Frankreichstudien und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Université Paris 8 Vincennes–St.-Denis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin für das Qamar Magazin und hat unter anderem ein Praktikum beim tunesischen Blog nawaat.org gemacht. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit Gewerkschaften in Marokkos...
Redigiert von Pauline Fischer, Charlotte Hahn