24.08.2019
„Die Sahara ist ein Friedhof“
Aufklären, dokumentieren, retten: das Büro von „Alarmphone Sahara“ im nigrischen Agadez. Foto: Ibrahim Manzo Diallo für „Alarmphone Sahara".
Aufklären, dokumentieren, retten: das Büro von „Alarmphone Sahara“ im nigrischen Agadez. Foto: Ibrahim Manzo Diallo für „Alarmphone Sahara".

Einst galt Agadez als Tor zur Wüste, heute ist Niger Hotspot europäischer Migrationsabwehr. Das drängt die Menschen auf immer gefährlichere Routen, sagt Ibrahim Manzo Diallo von „Alarmphone Sahara“ im Interview.

Ibrahim Manzo Diallo ist Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzender von „Alarmphone Sahara“, einem Projekt, das sich für Migrant*innen und Geflüchtete in der Sahelzone einsetzt und sie praktisch unterstützt. Das Projekt hat sich im Dezember 2017 nach dem Vorbild von „Watch the Med Alarmphone“ gegründet, einem transnationelen Netzwerk, das seit Oktober 2014 eine Hotline für in Seenot geratene Geflüchtete unterhält. Neben seiner Tätigkeit für „Alarmphone Sahara“ ist Diallo Gründer und Herausgeber der nigrischen Online-Zeitung „Aïr Info“, Leiter des Radiosenders Sahara FM sowie Koordinator des Journalist*innennetzwerks „Alternative Espaces Citoyens“.

Sie leben in Agadez, wo sich auch das Büro von „Alarmphone Sahara“ befindet. Die Stadt gilt heute als europäischer Grenzposten in Westafrika. Warum?

Nachdem das libysche Regime von Muammar al-Gaddafi 2011 zusammengebrochen war, fiel mit ihm die Mauer, die irreguläre Migration von Europa fernhielt. Tausende und Abertausende Menschen aus dem subsaharischen Afrika machten sich über Niger nach Libyen auf, um nach Europa überzusetzen. Als größte Stadt im Norden des Landes, wo Niger an Algerien, Libyen und den Tschad grenzt, wurde Agadez zum Zentrum für Migration Richtung Europa.

Europäische Politiker*innen setzten daraufhin alles daran, diese Migrationsströme zu unterbinden. Im November 2015 luden sie afrikanische Präsidenten zum Gipfel nach Valletta in Malta ein und entschieden, den EU-Grenzschutz nach Afrika zu verlagern – nicht nur nach Libyen, sondern bis in die Stadt Agadez hinein.

Was bedeutet das?

Eigentlich garantiert ein Protokoll der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) den freien Personenverkehr zwischen den Ländern dieses Staatenbundes – wie im Schengen-Raum. Zum Beispiel konnte ein Staatsangehöriger Burkina Fasos früher problemlos bis zur libyschen Grenze reisen. Heute kommt er nicht mehr über Agadez hinaus. Denn seit die EU es für dringend nötig hält, die Migrationsbewegungen zu stoppen, hat das nigrische Parlament ein Gesetz erlassen, das den Transport von Migrant*innen kriminalisiert.

Was ist das für ein Gesetz?

Das Gesetz hat die Nummer 2015-36. Eigentlich ist es ein landesweites Gesetz. Allerdings können Migrant*innen problemlos von Niamey im Süden nach Tahoua und anschließend nach Agadez im nördlichen Teil des Landes reisen. Erst dann greift das Verbot. Wer es wagt, weiter nach Norden zu fahren, wird gestoppt. Das Transportfahrzeug wird konfisziert und der Fahrer ins Gefängnis gesteckt.

Wie macht sich das in Agadez bemerkbar?

Als Durchgangsstation nach Libyen hat Agadez viel wirtschaftlichen Fortschritt erfahren, aber damit ist es nun vorbei. Wer in Agadez heute nach 19 Uhr auf die Straße geht, sieht nur noch Sicherheitskräfte und Polizei. Das ist in allen Vierteln der Stadt so. Sie patrouillieren, um zu schauen, ob es Fahrzeuge gibt, die Migrant*innen einladen. Jede Nacht. Diese Ordnungskräfte wurden von der zivilen Aufbaumission EUCAP Sahel ausgebildet, um gegen Migrant*innen und Schleuser*innen vorzugehen.

Wie viele Menschen sind davon betroffen?

Seit 2016 wurden fast 300 Personen verhaftet und über 300 Fahrzeuge konfisziert. Die konfiszierten Fahrzeuge werden auf einem Militärstützpunkt abgestellt. Dort stehlen Soldaten die Autoteile, am Ende bleiben nur noch Wracks. Einige Fahrer wurden mittlerweile freigelassen, doch ihre Fahrzeuge stehen immer noch dort.

 

 Privat.

Neigen Kritiker gelegentlich dazu, den europäischen Einfluss überzubetonen? Dass Algerien in den vergangenen Jahren so hart gegen Geflüchtete und Migrant*innen vorging, scheint zum Beispiel eher damit zusammenzuhängen, dass Ausländer*innen der algerischen Regierung als willkommene Sündenböcke für die schlechte Wirtschaftslage dienen.

Im Fall Nigers ist es vollkommen angebracht, von der „Externalisierung europäischer Grenzen“ zu sprechen. Auch wenn in der Nationalversammlung jeder Gesetzentwurf diskutiert werden muss, gab es in diesem Fall keine Debatte. Das Gesetz wurde 2015 erlassen, aber nicht vollstreckt, bis 2016 europäische Politiker nach Niger kamen. Erst dann fing man an, Schleuser*innen aufzuhalten und die „Ghettos“ [Häuser, in denen Migrant*innen untergebracht werden, Anm. d. Red.] in Agadez zu schließen.

Was hat Niger davon, den „Türsteher Europas“ zu spielen?

Europa zahlt. Mittlerweile hat Niger fast eine Milliarde Euro erhalten. Das Ziel des nigrischen Präsidenten Mahamadou Issoufou ist, bis 2020 fast drei Milliarden Euro von der EU zu erhalten. Und weil er der Musterschüler Europas ist, dürfte er dieses Geld auch bekommen. 2016 durchquerten Niger schätzungsweise mehr als 400.000 Menschen, heute sind es weniger als 50.000 jährlich.

Welche Folgen hat das für die Geflüchteten und Migrant*innen?

Tausende von Migrant*innen, die vor allem aus Westafrika kommen, sitzen in Agadez fest. Einst war die Stadt das Tor zur Wüste, doch nun ist der Weg blockiert. Das treibt die Menschen dazu, gefährlichere Routen zu nehmen. Um Agadez und nigrische Sicherheitskräfte zu meiden, nehmen sie Umwege, die viele Reisende das Leben kosten.

Welche Gefahren warten auf diesen Routen?

Viele nigrische Schleuser*innen fahren heute zum Beispiel zunächst in den Tschad und von dort nördlich nach Libyen. Sie nehmen die Routen, auf die sich nigrische Sicherheitskräfte nicht wagen, weil sie zu gefährlich sind. Den Sicherheitskräften gelingt es dadurch zwar tatsächlich immer weniger, Migrant*innen auf dem Weg nach Libyen aufzugreifen, doch für die Reisenden ist das sehr riskant. Auf solchen Routen können sie bewaffneten Gruppen oder Terroristen begegnen. Die Fahrer verlieren auf diesen Umwegen leicht die Orientierung in der Wüste oder es kommt zu Unfällen. Migrant*innen verdursten oder sterben an der Hitze.

Wie genau arbeitet „Alarmphone Sahara“ in Anbetracht dieser Situation?

„Alarmphone Sahara“ ist ein Kooperationsprojekt von Organisationen und Aktivist*innen aus Niger, Mali, Benin, Togo, Burkina Faso, Marokko, Deutschland und Österreich. In all den Dörfern, an denen Migrant*innen vorbeifahren, haben wir sogenannte Warner etabliert. Sie fungieren wie eine Art Wache. Wenn Migrant*innen in Not geraten, misshandelt oder geprellt werden, dann sind wir zur Stelle. Wir koordinieren Rettungsaktionen, dokumentieren Todesfälle und leisten Aufklärungsarbeit.

Das Mittelmeer gilt als tödlichste Grenze der Welt. Warum hielten Sie es für notwendig, den Blick auf die Sahara zu richten?

Viele Menschen sprachen über die Toten im Mittelmeer, aber niemand davon, was in der Wüste geschah. Es war, als ob es dort überhaupt keine Toten geben würde. Als würden die Menschen sich in Agadez auf den Weg machen und am nächsten Tag einfach so in Libyen ankommen. Wir beschlossen daher, endlich über all die Dramen zu sprechen, die sich in der Wüste ereignen. Zu sagen, wie es wirklich ist: dass das Meer tötet, aber die Wüste ebenso. Es war höchste Zeit, dass die Medien ihre Kameras auch dorthin richten. Denn die Sahara ist zu einem Friedhof unter freiem Himmel geworden.

Wie funktioniert das konkret, wenn ein Fahrzeug in der Sahara in Not gerät?

Wir haben Faltblätter verteilt, viele Schleuser*innen haben unsere Telefonnummer. Sie rufen an, wenn sie in Not geraten sind. Es ist allerdings erwähnenswert, dass wir sehr begrenzte Mittel haben. „Alarmphone Sahara“ hat keine eigenen Fahrzeuge, um selbst Rettungsaktionen zu fahren. In der Regel koordinieren wir uns daher mit den lokalen Behörden, besonders wenn der Notruf von entlegenen Orten kommt.

Werden die Fahrer dann verhaftet?

Wir informieren nicht den Polizeipräsidenten, sondern den Bürgermeister der jeweiligen Ortschaft. Die sind Migration gegenüber positiv eingestellt, da ihre Gemeinden davon profitieren. Wir versuchen, dafür zu sorgen, dass die Reisenden in eine Ortschaft gebracht werden oder ihre Reise nach einer Reparatur fortsetzen können. Und wir tun alles dafür, dass die Fahrer davonkommen, ohne verhaftet zu werden.

Trotzdem hätten wir gerne eigene Rettungsfahrzeuge und Aufnahmezentren. Denn manchmal kontaktieren die lokalen Behörden die Internationale Organisation für Migration (IOM). Die profitiert davon und bringt die Migrant*innen dann in ihre Heimatländer zurück. Wir wollen bei diesem Spiel nicht mitspielen. Unsere Politik lautet: Wir rufen nicht zu irregulärer Migration auf, aber wir halten die Menschen auch nicht davon ab, ihre Reise anzutreten.

Inwiefern „profitiert“ die IOM davon, Menschen in ihre Herkunftsländer zurückzubringen?

In der Region Agadez ertrinkt die IOM geradezu in dem Geld, das sie von der EU und teils sogar von der UN erhält. Um dieses Geld auszugeben, muss sie Aktivitäten organisieren. Das ist auch der Grund, warum die IOM seit 2016 20.000 Migrant*innen in der Wüste gerettet hat.

Das klingt nicht gerade verwerflich.

Allerdings wurde die Mehrheit dieser 20.000 Geretteten vorher von Algerien in die Wüste abgeschoben. Die algerischen Behörden setzen die Migrant*innen einfach am algerischen Grenzort In Guezzam ab, 15 Kilometer vom nigrischen Grenzort Assamaka entfernt. Die Menschen machen sich daraufhin zu Fuß Richtung Niger auf – auch Frauen und Kinder. Die IOM schickt dann ihre Lastwagen los und sammelt die Menschen ein. Anschließend organisiert sie die Rückkehr der Migrant*innen in ihre Heimatländer. Die algerischen Behörden machen sozusagen die Drecksarbeit und die IOM vollendet das Ganze.

Welche anderen Aktivitäten organisiert die IOM in Niger?

Die IOM macht in Niger auch viel Aufklärungsarbeit. Sie nennen das „informierte Migration“. Aber in Wirklichkeit ist das „informierte Migration nach Hause“. Sie versuchen, die Menschen davon abzubringen, sich auf den Weg zu machen. Sie sagen ihnen, dass sie sich auf dem Weg nach Libyen verirren oder eine Panne haben werden. Oder dass sie vergewaltigt oder sogar getötet werden könnten und raten ihnen, ihr Leben lieber nicht zu riskieren.

Aber die genannten Gefahren sind doch sehr real.

Ja. Auch wir erzählen den Menschen von diesen Risiken. Aber bei unseren Informationsveranstaltungen erklären wir zum Beispiel auch die Rechtslage. Wir halten die Menschen nicht davon ab, sich auf den Weg zu machen, sondern lassen sie selbst über ihr Schicksal entscheiden. Wir rüsten sie aus, damit sie wissen, was vor ihnen liegt, und geben ihnen Informationsmaterial mit konkreten Ratschlägen: etwa zu vermeiden, ein altes Fahrzeug zu nehmen, das leicht eine Panne haben könnte. Oder genügend Wasser mitzunehmen und Kleidung, um sich vor Sonne, Staub und Kälte zu schützen.

Auch in Libyen unterstützt die IOM Migrant*innen dabei, „freiwillig“ in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Dort hat die IOM seit 2015 mehr als 40.000 Rückführungen organisiert.

In Libyen werden Migrant*innen in Internierungslager gesperrt, wo sie einmal am Tag Brot und Wasser zu essen bekommen. Sie werden gefoltert oder sogar getötet, Frauen werden vergewaltigt. Dann kommen die Mitarbeiter*innen der IOM in die Lager, schauen sich in den Zellen um und fragen, wer nach Hause zurückkehren möchte. Wer wird da Nein sagen? Das ist keine freiwillige Rückkehr, das ist erzwungen.

In Libyen gibt es noch ein weiteres Programm, das zumindest einigen Geflüchteten ermöglicht, diesen Zuständen zu entkommen. Im Rahmen des sogenannten Emergency Transit Mechanism (ETM) wurden seit Ende 2017 fast 3.000 Menschen nach Niger evakuiert. Was erwartet diese Menschen in Niger?

Sie leiden sehr. Sie haben sogar einen Protest in der Hauptstadt Niamey organisiert, weil bisher nur sehr wenige Menschen dauerhaft umgesiedelt wurden. Videos zeigen, wie die Polizei Tränengas gegen die Demonstrierenden einsetzte. Die Bedingungen für diese Geflüchteten sind sehr schlecht. Viele eritreische und somalische Frauen haben angefangen, sich zu prostituieren, weil sie keine anderen Möglichkeiten haben.

Sie kämpfen seit vielen Jahren für die globale Bewegungsfreiheit. Doch immer mehr Staaten auf der ganzen Welt errichten Mauern, um Migrationsbewegungen aufzuhalten. Deprimiert Sie das?

Ja, das deprimiert mich sehr. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was politisch korrekt wäre, und dem, was tatsächlich getan wird. Beispielsweise ist Nigers Präsident Issoufou vor kurzem zum ECOWAS-Präsidenten gewählt worden. Der Kern von ECOWAS ist der freie Verkehr von Waren und Personen. Wie kann ein Politiker, der im Gegenzug für EU-Gelder Afrikaner davon abhält, durch ihr eigenes Land zu reisen, zum Präsidenten dieser Gemeinschaft gemacht werden? Das ist doch unfassbar.

Was gibt Ihnen da die Kraft, weiterzumachen?

Solche Aktionen wie die von Carola Rackete, der Kapitänin der „Sea Watch 3“. Indem sie die Blockade durchbrach, hat sie der Menschheit eine Lektion in Sachen Menschlichkeit erteilt.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Jungle World, Ausgabe 2019/30.

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.
Redigiert von Adrian Paukstat