28.04.2021
Die vielen Gesichter der Villa Ficke – Teil II
„Die vielen Gesichter der Villa Ficke“. Alle Illustration aus unserer zweiteiligen Spurensuche stammen von Aïcha El Beloui, die sich dabei teilweise von historischen Aufnahmen inspirieren lassen hat.
„Die vielen Gesichter der Villa Ficke“. Alle Illustration aus unserer zweiteiligen Spurensuche stammen von Aïcha El Beloui, die sich dabei teilweise von historischen Aufnahmen inspirieren lassen hat.

Die Villa im Herzen Casablancas hat nicht nur eine koloniale Vergangenheit. Sie spielt bis heute eine Rolle im urbanen Gefüge der Stadt. Teil II unserer Spurensuche erzählt von Spukgespenstern, Sehnsüchten – und der möglichen Zukunft des Gebäudes.

Dieser Text ist Teil des Kooperations-Dossiers dis:tance - von Marokko, Deutschland und dem Dazwischen. Herausgegeben von En toutes lettres und dis:orient, finanziell unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa)

Die Villa Ficke bringt die gängige Geschichtsschreibung durcheinander. Sie wirbelt Staub auf und erweckt die Vergangenheit zum Leben: Die Geschichte von Marokkaner:innen, Geschichte von Deutschen und Geschichte(n), die beide teilen. Einige Lebensabschnitte der Villa spiegeln sich in ihren heute nackten Räumen wider.

Die weitläufige Villa hat im Laufe der Geschichte viele verschiedene Menschen beherbergt. Zum Beispiel Generationen von Schüler:innen, die nichts von der beachtlichen Geschichte dieses Ortes wussten, der ihnen so vertraut war und an dem sie so viel Zeit verbracht haben. Die Villa Ficke hat neben ihrer Geschichte aus der Kolonialzeit noch diese andere, von wissbegierigen Kindern bestimmte Geschichte. Denn nach der Umbenennung der Villa von Ficke zu Khnata Bent Bakkar brach in dem Gebäude eine neue Ära an.

Der Name geht auf Lalla Khnata Bent Bakkar zurück. Sie sicherte nach dem Tod des Sultans Moulay Ismail im Jahre 1727 die Tradition der marokkanischen Monarchie und wurde de facto zur Herrscherin über Marokko.  Bent Bakkar kam aus dem Stamm der Mghafra, dessen Oberhaupt ihr Vater Bakkar Ben Ali war. Dieser verschenkte seine Tochter 1678 an den Sultan Moulay Ismail (1672-1727), der heute zu den berühmtesten Herrschern der Alawiten-Dynastie zählt. Khnata Bent Bakkar wurde in Marokko zu einer weiblichen Symbolfigur und so auch zur Namensgeberin der Mädchenschule in der Villa.  

Von Neugierde und deutschen Gespenstern

Die Rentnerin Rachida, ehemals Direktorin eines landwirtschaftlichen Unternehmens, ist eine ehemalige Schülerin der Khnata Bent Bakkar Schule. Nostalgisch erzählt sie von ihrer Schulzeit: „Ich bin 1974 in die Schule gekommen. Damals gehörten Mathe, Französisch, Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften, Chemie und Physik, Musik, Tanz, Nähen und Sport, sowie Schwimmen zum Programm. Wir hatten sogar Zugang zu einer Bibliothek. Zu meiner Schulzeit wusste ich nichts über die Geschichte der Villa Ficke, ich bin erst vor Kurzem auf Facebook darauf gestoßen.“

Die Mädchen von Khnata Bent Bakkar sind heute erfolgreiche Frauen. Ihre Bildungslaufbahn ist geprägt von der Energie, die der Villa Ficke innewohnt. Hayat, eine ehemalige Schülerin, berichtet: „Ich habe meinen Abschluss an der Khnata Bent Bakkar gemacht. Dort habe ich die besten Jahre meines Lebens verbracht. Wir Mädchen waren dort unter uns und hatten viel Unterricht. Das Programm war sehr anspruchsvoll und es gab auch viele außerschulische Aktivitäten.“

Hayat führt es auf die Schwächen des marokkanischen Bildungssystems zurück, dass sie die Geschichte von Ficke nie kennengelernt hat: „In der Schule gab es nichts, was auf Khnata Bent Bakkar oder Carl Ficke hingedeutet hätte. Die Lehrkräfte haben uns nie ihre Geschichten erzählt und in den Lehrplänen war das auch nicht vorgesehen. Aber eigentlich hätten wir die beiden doch als Teil unserer Grundausbildung kennenlernen müssen. Die Geschichte von Carl Ficke habe ich erst vor einigen Jahren dank eines Facebook-Beitrags von Casablanca Patrimoine entdeckt. Und Khnata Bent Bakkar habe ich irgendwann über die marokkanischen Medien kennengelernt.“

Wie Hayat und Rachida, möchte Kamilia ihre Erinnerungen an die Villa teilen. Zu ihrer Zeit, Ende der 1990er Jahre, hatte sich der Zustand des Gebäudes erheblich verschlechtert und war zu einer Gefahr für die Schülerinnen geworden. Nur der Musikunterricht hatte noch  Platz in einem Winkel der Villa. Die anderen Fächer fanden in einem Gebäude statt, das im Hof der Villa errichtet worden war.

Erinnerungen an Kindheit und Jugend.  Aïcha El Beloui

„Meine Schulzeit in Khnata war super. Offiziell hatten wir nie Zugang zum Inneren der Villa. Die war geschlossen. Aber wir sind heimlich durch ein Fenster eingestiegen und haben da unsere freien Nachmittage verbracht. Wir haben auch im Garten rumgehangen. Es hieß, dass es im Gebäude spuken würde, dass es da Gespenster geben würde.“

Youssef ist auf eine gemischte Schule gegangen, die nur wenige Meter von der Khnata-Schule entfernt lag: „Ich erinnere mich gut an die Schule, auch wenn sie damals eher eine Ruine war. Wir haben uns in der Schule manchmal mit unseren Freundinnen getroffen und sind dann über die Mauer geklettert. Wir sind rein, obwohl es verboten war. Wir haben da drinnen heimlich geraucht und Zeit verbracht. Man sagte, in der Villa spukten die Geister von Deutschen.“

Doch selbst deutsche Gespenster konnten die die verliebten Jugendlichen nicht abschrecken. Sollte es die Geister wirklich gegen haben, wurden sie sicherlich Zeug:innen von Momenten der Intimität, von heimlichen Begegnungen zwischen leidenschaftlichen Teenagern. Junge Menschen, die auf ihre Weise das neue Schicksal der Villa geprägt haben.

„Die deutschen Tourist:innen glauben mir immer nicht“

Casablancas Tourismus Guides, die wegen Corona und den wegbleibenden Reisenden derzeit stark leiden, bewahren die vielschichtige Geschichte der Wirtschaftsmetropole Marokkos. Dazu zählt auch die Geschichte der Villa. Abdessalam, der in den Straßen des alten Viertels Les Habous nach Tourist:innen Ausschau hält, ist stolz darauf, die Geschichte von Carl Ficke zu kennen.

Noch stolzer macht es ihn, sie den ungläubigen Tourist:innen zu erzählen: „Die Deutschen glauben mir immer nicht, wenn ich ihnen Fickes Geschichte erzähle. Sie greifen dann reflexartig nach ihren Handys um nachzuschauen, ob das alles stimmt. Sie wissen nicht, dass das was ich ihnen erzähle, nicht einmal in den Geschichtsbüchern steht. Also zeige ich ihnen meine Referenzen: Bilder von Carl Ficke in seiner Villa. Wir machen dann eine Tour und ich bringe sie auf eine Verschnaufpause in den Parc de la Ligue Arabe, den damals unter anderem deutsche Kriegsgefangene gebaut haben. Danach gehen beim Fondouk de Ficke Souvenirs kaufen.“  

Jetzt, zur Corona-Pandemie, hat man mehrere Orte in Casablanca zu Quarantänezentren für Infizierte umgewandelt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Vor neunzig Jahren war auch die Villa Ficke auf den Karten der Stadt als potentielles Krankenlager eingezeichnet. Als 1942 Typhus, Pest und Tuberkulose in Marokko wüteten, sollte die Villa Teil der Eindämmungsstrategie werden. Letzten Endes wurde das Vorhaben jedoch nie umgesetzt, da es im Gesundheitssektor Fortschritte gab, die das Vordringen verheerender Epidemien verlangsamten.

Faszination Geschichte

Die Villa Ficke ist ein geschichtsträchtiger Ort und Zeugnis einer der wichtigsten Kapitel der Geschichte Marokkos und der Welt. Eine Villa, gebaut auf marokkanischem Boden für einen deutschen Geschäftsmann, der Arabisch und Tamazight sprach – und das am Vorabend der französischen Besatzung. Diese Zusammenhänge wollte Jawhar Kodadi in seiner Abschlussarbeit beweisen, darstellen und für künftige Generationen bewahren.

Jawhar wuchs in Casablanca auf und war schon immer von der Villa im Herzen seiner Geburtsstadt fasziniert. Entschlossen, das Rätsel des mysteriösen Gebäudes zu lösen, machte er sie zum Thema seines Abschlussprojekts an der École Nationale d'Architecture. Anhand der Villa Ficke, beschäftigt er sich darin mit den stadtplanerischen und architektonischen Bemühungen der Stadt Casablanca und mit dem Zusammenhang von Raum, kollektivem Gedächtnis und Identitätsfragen.

Dabei bedient sich Jawhar historischer und archivarischer Recherchen, die Erzählung, Beschreibung und Analyse miteinander verflechten. Seine Arbeit bekräftigt die Bedeutung der Villa, die als Zeitzeugnis so viel von der Geschichte Casablancas, Marokkos und den internationalen Verwicklungen während der beiden Weltkriege miterlebt hat. Im Abschlusskapitel seiner Arbeit, schlägt Jawhar ein Projekt vor, um die Villa wieder instand zu setzen und aufzuwerten. Sie soll ein Ausstellungsobjekt werden, eine Zeitkapsel, die sowohl ihre eigene Geschichte erzählt, als auch die jener historischen Ereignissen, in die die Villa eingebettet ist.

Wie umgehen mit der kolonialen Vergangenheit? Illustration: Aïcha El Beloui

Obwohl sein Projektvorschlag nie umgesetzt wurde, berichtet Jawhar enthusiastisch von seinem Abenteuer: „Am Tag an dem ich das Thema meiner Abschlussarbeit wählen musste, habe ich keine Sekunde gezögert. Es war wie eine Offenbarung, eine Bestimmung und ein Ziel in Einem. Endlich konnte ich an einer Sache arbeiten, die mich schon immer begeistert hat. Später hatte ich öfter Schwierigkeiten und hätte das Thema fast geändert, weil ich ständig auf bürokratische Hürden gestoßen bin. Aber irgendwann habe ich beschlossen, nicht mehr auf die Autorisierung der Stadt Casablanca oder von irgendwem anders zu warten, um an die Gebäudepläne der Villa zu kommen.

Ich habe mir mein Notizbuch und meinen Maßstab geschnappt und bin beim Wärter der Khnata Bent Bakkar-Schule vorstellig geworden. Ich habe ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut. Er hat mir zugehört und nach mehreren Gesprächen wohl verstanden, dass ich mir nur von ihm wünsche, mir die Türe zu öffnen und mein Leiden zu beenden. Schon als ich den ersten Fuß in die Villa gesetzt habe, ist die Zeit stehen geblieben. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte gar nicht mehr raus, aber dann habe ich alle Maße genommen die ich wollte und bin gegangen, überglücklich und voller Motivation mein Projekt durchzuziehen.“

Jawhar geht ganz in seiner Arbeit auf. Ganz alleine baut er einen 3D-Drucker, um die Villa  im Kleinformat zu erschaffen und das Gefühl zu haben, den ganzen Tag vor Ort zu sein. Er stellte seinen Vorschlag, die Villa zu renovieren und in einen Kulturraum umzuwandeln, vor. Doch leider hatte die Kommune andere Pläne für die Villa. Trotzdem glaubt der junge Architekt, dass er seine Wette gewonnen hat: die Villa Ficke in 3D drucken zu lassen. Ein kleines Meisterwerk, das ihn an dieses schöne Abenteuer mit der Villa Ficke erinnert und daran, das Unmögliche versucht zu haben.

Erhalt des kollektiven Erbes

Auch wenn die Villa Ficke so viele Episoden durchlaufen hat, hat sie sich erfolgreich gegen den Zahn der Zeit gewehrt. Sicher ist sie baufällig geworden und sieht etwas heruntergekommen aus, aber im Großen und Ganzen hat sie sich gut gehalten. Das hat sie vor allem Casamémoire zu verdanken. Denn dass die Villa tatsächlich renoviert wurde, liegt am Druck, den die Organisation ausgeübt hat.

Casamémoire ist eine marokkanische gemeinnützige Organisation die sich dafür einsetzt, in Marokko das architektonische Erbe des 20. Jahrhunderts zu erhalten. 1995 wurde sie in Reaktion auf die Zerstörung der Villa Mokri, einem Gebäude des Architekten Marius Boyer, gegründet. Seither kämpfen die Mitglieder von Casamémoire für den Erhalt von Casablancas besonderem Charme, indem sie das architektonische Erbe der Stadt in Stand setzen, ihr kollektives Gedächtnis schützen und auch den Kulturtourismus in der Stadt weiterentwickeln. Die Rettung der Villa Ficke ist dem Einsatz dieser Organisation zu verdanken.

Hier kommt Casablanca Patrimoine, eine lokale Entwicklungsgesellschaft, die im April 2015 auf Initiative lokaler Kollektive gegründet wurde, ins Spiel. Sie ist verantwortlich für die Sanierung, den Schutz und die Aufwertung des kulturellen, materiellen, immateriellen und natürlichen Erbes der Großregion Casablanca. Die Hauptaufgabe der Organisation ist die Koordination zwischen lokalen, regionalen und nationalen Akteur:innen, mit dem Ziel einer Strategie zum Erhalt und der Aufwertung des Erbes, welche eng mit der Kommune abgestimmt ist.

Zukunftsvisionen

Casablanca Patrimoine leitet das Projekt zum Umbau der Villa in einen Kulturraum. Nach der Restaurierung wird die Villa ein Museum, ein Ausstellungszentrum, Werkstätten für moderne Kunst und Grünflächen beherbergen. Das für diese Renovierung vorgesehene Budget beträgt 25 Millionen Dirham [etwa 273 Millionen Euro, Anm. d. Red.].

Die Villa und ihre Pavillons wieder zu besuchen, ist für Hayat, die frühere Schülerin, ein Herzenswunsch: „Ich freue mich sehr zu hören, dass meine Schule erhalten und zum Stadterbe werden wird. Jetzt werde ich die Möglichkeit haben, hineinzugehen. Für mich sind viele gute Erinnerungen mit diesem Ort verknüpft. Und ich hoffe meine alten Klassenkameradinnen dort zu treffen.“

Während Hayat von den Renovierungsarbeiten begeistert ist, beobachtet Jawhar die Entwicklung mit Bitterkeit: „Dem Projekt steht ein enormes Budget zur Verfügung. Das muss sich jetzt auch konkret zeigen. Der bereits neu angelegte Garten der Villa ist wirklich enttäuschend und auch die Instandhaltung ist nicht besonders toll. Der Garten bringt die Besonderheit und den symbolischen Charakter der Villa nicht rüber und ist vom Gebäude durch eine gigantische Mauer abgeschnitten, die aussieht wie aus Game of Thrones. Alternativ hätten sie die ganze Geschichte des Ortes auf der Mauer abbilden können. Das hätte die Kinder vielleicht inspiriert, die da im Garten spielen.“ Denn dies ist ein wichtiger Teil der Geschichte Casablancas, das die Schicksale von Marokkaner:innen und Deutschen miteinander verbindet.

 

 

Oumaima Jmad ist Doktorandin am Forschungslabor für sozio-anthropologische Differenzierung und soziale Identitäten (LADSIS) der Universität Hassan II in Casablanca. Als feministische Aktivistin engagiert sie sich bei der marokkanischen Vereinigung für Frauenrechte (AMDF) in Projekten zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur...
Redigiert von Hicham Houdaïfa, Clara Taxis
Übersetzt von Regina Prade